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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1129–1131

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ammann, Christoph

Titel/Untertitel:

Emotionen – Seismographen der Be­deutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 258 S. gr.8° = Forum Systematik, 26. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-019971-2.

Rezensent:

Til Elbe-Seiffart

Wenn von Grundbedingungen des menschlichen Lebens die Rede ist, wird derzeit die Bedeutung seiner Emotionalität rehabilitiert. Nicht nur in Ratgebern zur Lebenshilfe, auch in Humanwissenschaften und Philosophie lässt sich das feststellen. Die Meinung, zuvorderst kennzeichne Rationalität den Menschen und sein Handeln zeichne sich erst durch Überwinden seiner Emotionalität aus, ist überholt.
Mit dieser Einsicht macht die Dissertation »Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik« des Züricher Theologen Christoph Ammann ernst. A. zielt darauf, via einer Beschreibung wesentlicher Züge des menschlichen Personlebens das Phänomen der Emotionalität in das Verstehen des christlichen Ethos zu integrieren. So sei eine konkrete Fassung der christlichen Lebenspraxis möglich (11 f.). Bereits im Titel der Arbeit kündigt sich an, was für dieses Unternehmen zentral ist: Emotionen zeigen im menschlichen Interagieren Bedeutungen an. Da darin ein kognitiver Gehalt von Emotionen gegeben ist, spiegelt sich hier ein ganzheitlicher Anspruch des Ansatzes, der eine abstrakte Aufteilung der menschlichen Psyche in Rationalität und Emotionalität vermeiden soll.
Die sprachlich klare Arbeit entfaltet die Absichten in einem »Prolog« und drei Kapiteln. Nach einer prägnanten Übersicht (11–23) setzt sich A. mit einem Aufsatz des Kant-Experten Rüdiger Bittner auseinander (25–45). Es wird deutlich, dass dessen Frage nach der »Vernünftigkeit« des Gefühls der Reue weder präzise gestellt noch überzeugend bearbeitet wird. Zum einen sei offen, was der Ausdruck »Vernünftigkeit« bezeichne. Meint er »Notwendigkeit« oder »a very good idea«? Zum anderen sei nicht plausibel, warum Vernünftigkeit ein relevantes Kriterium zur Einschätzung des Gefühls der Reue sein solle. Indem er hier die Spannbreite möglicher Verhältnisbestimmungen von Emotionalität und Vernünftigkeit eröffnet, nutzt A. die Auseinandersetzung mit Bittner als Sprungbrett für weitere Überlegungen.
Charakteristisch für diese ist folgendes Verfahren: A. wählt Gesprächspartner der analytischen Philosophie überwiegend jüngeren Datums, um ein Konzept der menschlichen Emotionalität zu entwickeln. Seine derart selektive Betrachtung entfaltet eine eigene Position und zeigt im ersten Kapitel, wie sich in der philosophischen Diskussion die Loslösung von einem kognitivistischen Re­duktionismus vollzogen hat (47–100).
So ist die differenzierte Distanznahme A.s zum Ansatz Martha Nussbaums nachzuverfolgen (47–59). Durch ihr Verständnis der Emotionen als Werturteile rücke Nussbaum die Emotionen in die Nähe zu Überzeugungen, die wesentlich kognitiv und lediglich auch affektiv strukturiert seien. »Eine solche Form der Erklärung steht in der Gefahr, das Phänomen der Emotionen zu intellektualisieren und seine affektive Dimension zu vernachlässigen.« (59) Um die Trennung von emotionalen und rationalen Aspekten des Personlebens zu unterlaufen, macht A. Peter Goldies Beschreibung von Emotionalität als einem »feeling towards« fruchtbar (59–74). Emotionalität sei als »ein intentional gerichtetes Fühlen, das gleichzeitig ein Denken mit Gefühl, ein ›thinking of with feeling‹ ist« zu beschreiben (68). Aus Robert C. Roberts’ Konzeption entlehnt A. den Aspekt von Emotionen als »concern-based construals« (74–89). So wird die individuelle Ausrichtung menschlicher Gefühle, ihre von einem »personal point of view« geprägte Intentionalität integriert (81).
Der Abschnitt zur Entwicklungspsychologie (89–100) bietet mit der sprachlich vermittelten Differenziertheit der menschlichen Emotionen ein einleuchtendes Beispiel für die Untrennbarkeit ihrer kognitiven und affektiven Momente. Auch finden sich Hinweise auf die lebensgeschichtliche Bedingtheit der Ausrichtung personaler Emotionalität. Allerdings kommt in diesem erklärtermaßen »kursorischen« Abschnitt die gewinnbringende kritische Auseinandersetzung mit den herangezogenen Positionen zu kurz. Doch müssten nicht die Implikationen empirisch-psychologischer Arbeit hinterfragt werden?
Im zweiten Kapitel (101–194) vertieft A. das Erarbeitete in einer bestimmten Hinsicht. Die Stränge von Konstitution, Verfügbarkeit und motivationaler Kraft der Emotionen am Rande lassend, konzentriert A. sich auf die Aufgabe, sie als erkenntnistheoretische Kategorie zu beschreiben. Insbesondere in der Besprechung von Raimond Gaitas Ansatz (125–152) arbeitet er die erschließende Funktion von Reue und Liebe heraus: »Wir begegnen Menschen anders, wenn wir sie im Licht der Liebe von anderen sehen« (140).
Thema des dritten Kapitels ist die Zuspitzung auf die christliche Ethik (195–250). Ihr Unterschied zu philosophischen Ethikbeiträgen bestehe darin, dass sie eine konkrete Lebenspraxis zu verstehen suche (195). A. fokussiert das christliche Ethos auf das Bilderverbot (206–225). Dieser Ansatz mag überraschen, da die christliche Gestalt der Lebenspraxis üblicherweise eher auf das »Doppelgebot der Liebe« zugespitzt wird und das Bilderverbot somit nicht den Kern des christlichen Ethos zu treffen scheint. Doch indem A. das Bilderverbot als »eine Einstellung der Offenheit gegenüber der begegnenden Realität« (206) auffasst, gelingt es ihm, beide Linien im Grundaffekt der annehmenden Liebe zu integrieren.
Der neuartige Ansatz und einige der zahlreichen konstruktiven Details in der Durchführung sind angeklungen. Wer sich mit theo­logischer Anthropologie beschäftigt, wird von den klar vorgetragenen Analysen der Untersuchung zu dieser zentralen Thematik mit Sicherheit erheblich profitieren. Zwei Vorschläge zur Ergänzung sollen diese Besprechung abrunden, ohne die genannte Würdigung zu mindern.
Im Sinne einer Weiterführung stellt sich die Frage nach dem Potential, das theologische Arbeiten hinsichtlich der Emotionalität des menschlichen Personlebens liefern könnten. Immerhin wäre die reformatorische Theoriebildung ohne ihre Phänomenologie der Affekte nicht denkbar. Warum also nicht nach Gesprächsmöglichkeiten fragen? Auch für die in der neuzeitlichen Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie stehende Konzeption Schleiermachers ist dieser Sachzusammenhang wesentlich. Zudem liefern zeitgenössische theologische Arbeiten dazu interessante Beiträge, etwa Konrad Stocks Ansatz »emotiver Intentionalität«. Die Diagnose, wonach Emotionen in der Theologie »ein vernachlässigtes Thema« seien (12), erweist sich somit als diskussionswürdig.
Eine letzte Anmerkung betrifft A.s Ethikverständnis, das er im einleitenden Abschnitt des dritten Kapitels skizziert (195–206). Zu Recht wird die Positionalität christlicher Ethik als Theoriebildung auf dem Boden des christlichen Ethos betont. Zu präzisieren wäre, dass philosophische Ethikpositionen ebenfalls auf dem Boden eines Wirklichkeitsverständnisses stehen. A. vermeidet das Missverständnis nicht, als böten philosophische Ethiken allgemeingültige Entwürfe (195.198). Gerade im Blick auf das Anliegen, die Kommunikationsfähigkeit christlicher Theologie mit gegenwärtiger Phi­losophie zu steigern, könnte es einen Fortschritt bedeuten, die formale Gemeinsamkeit beider Erkenntnisunternehmungen zu benennen. Auf diese Weise könnte auch der fundamentale Klärungsbeitrag von A.s wertvoller Arbeit zur Verfassung des menschlichen Personlebens noch deutlicher hervortreten.