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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1126–1129

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Müller, Norbert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Wort des Lebens. Die Bedeutung der Heiligen Schrift für ein verbindliches geistliches Leben.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 312 S. gr.8°. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02471-1.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Bei dem von Norbert Müller, bis 1990 Ordinarius für Systematische Theologie in Halle, herausgegebenen Werk handelt es sich um eine Gemeinschaftsarbeit. Sie ist erwachsen aus dem Theologischen Ar­beitskreis der Evangelischen Michaelsbruderschaft, dessen Sekretär Müller ist. Die sechs Mitarbeiter des Bandes gehören der Evangelischen Michaelsbruderschaft an und bekleiden in ihr zum Teil wichtige Funktionen bzw. sind als Leiter von Meditations- und Fastenwochen im Rahmen der Bruderschaft tätig. Die Evange­lische Michaelsbruderschaft wurde bereits 1931 gegründet. Sie ging hervor aus der nach dem ersten Weltkrieg entstandenen Berneuchener Bewegung, die sich eine Erneuerung der evangelischen Kirche aus den Quellen der altkirchlichen Tradition zum Ziel setzte. Geprägt von der Jugendbewegung und den revolutionären Veränderungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs suchte sie nach einem kirchlichen Neuansatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Bruderschaft wesentlichen Einfluss auf die Liturgiereform der evangelischen Kirche genommen, die unter anderem zu einer Aufwertung des Abendmahls geführt hat. Die Evangelische Michaelsbruderschaft gehört nicht zuletzt zu den Pionieren der Meditation im Raum des Protestantismus. Die frühe Wiederentdeckung der Meditation erlaubte ihr, auf dem Weg zu einem Christentum mit Leib und Seele einen Schritt voranzukommen.
Die hier gesammelten Artikel entstanden im Zusammenhang mit einer Auftragsarbeit, die als Handreichung an Exaudi 2002 im Berneuchener Haus, Kloster Kirchberg, vom Kapitel der Bruderschaft als Zusatzregel angenommen wurde: »Handreichung des Theologischen Arbeitskreises der Evangelischen Michaelsbruderschaft, 1999: Heilige Schrift und geistliches Leben. Über den Umgang mit der Heiligen Schrift« (5). Die Handreichung bildet gewissermaßen das Präludium des vorgelegten Sammelwerkes (14–18). Die Texte sind sehr unterschiedlichen Charakters, richten aber allesamt ihren Fokus auf die Frage, welche Bedeutung die Bibel im Rahmen verbindlichen geistlichen Lebens, genauer gesagt im Rahmen der Evangelischen Mi­chaelsbruder­schaft und der anderen Geschwisterschaften der Berneuchener Bewegung, besitzt.
Der Band geht dieser Frage in insgesamt vier Teilen nach. In einem ersten Teil »Grundlagen« wird die Frage nach der Offenbarung thematisiert. Teil 2 fasst Texte zum Thema Hermeneutik im weiteren Sinne zusammen. Teil 3 thematisiert die Bedeutung der Bibel im Leben der Evangelischen Michaelsbruderschaft in ihren unterschiedlichsten Aspekten. Ein abschließender Teil, überschrieben mit »Ausklang: Lesen in der Heiligen Schrift«, bringt persön­liche Zugänge aller sechs Autoren zur Bibel. Ich verzichte hier auf das Referat sämtlicher im Band aufgenommener Texte und greife stattdessen exemplarisch verschiedene Artikel heraus.
Zunächst zu Teil 1 »Grundlagen«: Die Artikel dieses Teils dokumentieren den Versuch, ein gemeinsames Offenbarungsverständnis zu gewinnen. Die sechs Autoren versuchen dies zunächst an­hand der Auslegungen unterschiedlicher biblischer Geschichten. Dabei fällt der abschließende Artikel von Christian Oeyen, der die Auslegung der Kirchenväter thematisiert, etwas aus dem Rahmen. Allerdings wird erkennbar, was Oeyen mit seinen Überlegungen bezweckt: nämlich die Relativierung eines modernen Offenbarungsverständnisses mit Hilfe der Auffassung der Kirchenväter. Im Gegensatz zur modernen Bibelexegese, die die Unterschiede und Eigenarten der biblischen Autoren herausarbeitet, ging es den Kirchenvätern darum, die Bibel als ein Ganzes zu verstehen; hinter den unterschiedlichen Autoren der biblischen Bücher steht in ihrer Sicht der gleiche Gott. Dieser erste Teil des Buches zeigt, dass die Mitglieder des Theologischen Arbeitskreises ein recht unterschiedliches Offenbarungsverständnis haben.
Vor allem habe ich mich gefragt, ob manche der Texte dem hohen An­spruch dieses Kapitels gerecht werden, da sie leider die eigene Position nicht im Ge­spräch mit der übrigen theologischen Literatur zum Thema entwickeln. So droht das Gesagte beziehungslos im Raum zu stehen. Vielleicht hätte man das ganze Kapitel streichen sollen, zumal darin nichts Konkretes zur Bedeutung der Heiligen Schrift für ein verbindliches geistliches Leben ausgesagt ist.
Teil 2 »Hermeneutische Besinnung und geistliche Praxis« enthält eine Reihe gehaltvoller und anregender Artikel. Norbert Müllers Beitrag über geistliche Schriftlesung als hermeneutisches Problem verortet die Frage nach der Möglichkeit solcher Schriftlesung im Horizont hermeneutischer Diskurse überhaupt. Er sieht die Chance geistlicher Schriftlesung in der Betonung der Gleichzeitigkeit des biblischen Wortes gegeben. Ich hätte mir hier eine stärkere Entfaltung dieses Gedankens gewünscht und dessen, was eine solche Gleichzeitigkeit für geistliche Schriftlesung konkret bedeutet. An­gesichts der gegenwärtigen pluralistischen Wahrheitsauffassung bemüht sich Müller in seinem nächsten Beitrag »Vielfalt und Wahrheit«, an der Absolutheit des Christentums festzuhalten. Er schlägt hier eine innere Absolutheit vor, die den religiösen Vollzug unabhängig von theologischer Theorie prägen müsse. Die Frage ist allerdings, ob eine solche innere Absolutheit dem Anspruch der biblischen Texte wirklich gerecht wird und nicht hinter diesem zurückbleibt. Die beiden folgenden Beiträge von Horst Folkers, »Die sakramentale Dimension des Wortes: Gottes verborgene Ge­genwart« und »Von der Unverbindlichkeit des religiösen Marktes und der Verbindlichkeit der Heiligen Schrift« führen Müllers Überlegungen weiter. Die sakramentale Dimension des Wortes, so Folkers, gewährleistet, dass christlicher Glaube nicht bei einer apophatischen Theologie stehen bleiben muss. »Das biblische Wort ist das greifbarste, unmittelbarste Dasein, worin und wann Gott sich zu erkennen gibt.« Erkennbarkeit und Verborgenheit gehen in der sakramentalen Dimension des Wortes eine paradoxe Einheit ein. Gerade der Beitrag von Folkers über die Unverbindlichkeit des religiösen Marktes und die Verbindlichkeit der Heiligen Schrift enthält eine Fülle von bemerkenswerten Einsichten. Dazu gehört seine These, dass der Pluralismus eine veräußerlichte Form dessen sei, was in der Heiligen Schrift als ihre Vielfalt und Fülle angetroffen werden kann (145). Eingeleuchtet hat mir auch der Hinweis auf die Notwendigkeit, den Gesamtzusammenhang der biblischen Texte als conditio sine qua non ihres Verständnisses neu ins Gespräch zu bringen. Schließlich leuchtet mir auch die Überlegung ein, dass ganzheitliche Schriftlesung nicht ohne den existenziellen Aspekt denkbar ist: »deswegen mündet die geistliche Schriftlesung immer auch in die Frage, wie der Text mich meint, meinen Weg der Nachfolge betrifft und ebenso, wie er die kleinere oder größere geistliche Gemeinschaft betrifft, der ich angehöre, für die ich Verantwortung trage« (158). Auch die beiden abschließenden Artikel von Teil 2 über Bibelübersetzungen (Norbert Müller) und die Möglichkeiten der Übersetzung biblischer Poesie (Tilmann Steinert) nehmen wich­tige Fragen im Hinblick auf das Leben einer geistlichen Gemeinschaft auf. Müllers These, dass gesellschaftliche Fehlhaltungen, die sich in der Sprache niedergeschlagen haben, aus der Sprache erst dann verschwinden, wenn sich Menschen geändert haben, ist zu­zustimmen. Auf diesem Hintergrund wird auch seine Feststellung bezüglich der Bibel in gerechter Sprache verständlich: »Die Herstellung einer Umerziehungsbibel ist ein anmaßendes Vorhaben« (167).
Teil 3 »Die Heilige Schrift im Leben einer geistlichen Gemeinschaft« konzentriert sich auf die Bedeutung der Heiligen Schrift im Rahmen der Evangelischen Michaelsbruderschaft. Im einleitenden Beitrag von Horst Folkers »Die Stellung der Heiligen Schrift im Berneuchener Buch« finden sich viele selbstkritische Töne. Er weist nach, dass die Berneuchener Bewegung erst im Laufe ihrer Ge­schichte zu einer reformatorischen Schriftauffassung gefunden hat. Eine derartig kritische Sicht der Geschichte der eigenen geistlichen Gemeinschaft ist besonders hervorzuheben, weil sie keineswegs selbstverständlich ist. Aktuell ist besonders der Artikel von Gotthard Hiecke »Psalmengebet in der Evangelischen Michaelsbruderschaft – Beten der Psalmen in Auswahl«. Einerseits ist durch die Agendenreform die Möglichkeit gegeben, dass die Gemeinde aktiv im Sonntagsgottesdienst am Psalmgebet beteiligt wird.
Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass das Beten der Psalmen mit Problemen verknüpft ist. Gerade problematische Psalmverse, etwa zum Thema Rache bzw. eigene Gerechtigkeit, machen vielen Betern und Beterinnen heute Mühe. Die Michaelsbruderschaft hat sich dazu entschieden, diese Psalmverse wegzulassen. Insgesamt könnte man kritisch von einem »gereinigten« Psalter als Grundlage des Psalmgebets der Michaelsbruderschaft sprechen. Hiecke hat Recht, wenn er einerseits die Legitimität des Psalmengebets in Auswahl hervorhebt, andererseits aber auch zu einem Ja zum ganzen Psalter auffordert (266). Im Laufe der letzten 200 Jahre haben sich alle Versuche, bestimmte Teile des biblischen Zeugnisses, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Kanon zu entfernen, selbst desavouiert. Darum halte ich gerade an dieser Stelle größte Vorsicht für geboten. Schon Bonhoeffer sprach davon, dass die Bibel das fremde Wort Gottes an den Menschen bleiben muss, damit er in ihm nicht unter der Hand doch wieder bloß einem frommen Doppelgänger seiner selbst begegnet.
Die im letzten Teil des Buches gesammelten persönlichen Zeugnisse des Bibelzugangs der Autoren geben einen Einblick in die Pluralität der Ansätze auch von Mitgliedern der gleichen Bruderschaft. Aus den Beiträgen geht hervor, dass Theologie und Biographie auch im Hinblick auf die Frage des Bibelgebrauchs nicht voneinander getrennt werden können. Gleichzeitig machen sie deutlich, dass für alle Autoren das Leben mit der Bibel einen essentiellen Aspekt der eigenen Spiritualität darstellt.
Insgesamt ist das Anliegen des Werkes zu begrüßen, angesichts mannigfacher Infragestellungen über die Bedeutung der Heiligen Schrift für ein verbindliches geistliches Leben Klarheit zu gewinnen. Die Pluralität der Ansätze stellt eine Stärke wie eine Schwäche dar. Die Komprimierung bzw. das Wegfallen von Beiträgen hätte zu einer Profilierung der Aussageabsicht beigetragen.