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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1111–1113

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schlegel, Thomas

Titel/Untertitel:

Theologie als unmögliche Notwendigkeit. Der Theologiebegriff Karl Barths in seiner Genese (1914–1932).

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2007. XII, 326 S. 8°. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-7887-2222-7.

Rezensent:

Folkart Wittekind

Diese in Jena bei Michael Trowitzsch entstandene Dissertation gilt, wie bereits viele Arbeiten zuvor, der Entwicklung des (dialek­tischen) Frühwerks von Karl Barth bis zur Kirchlichen Dogmatik. Thomas Schlegel richtet sich gegen die bisherigen Phasenrekonstruktionen und vertritt eine Frühdatierung der Barthschen Theologiekonzeption: Bereits im ersten, weitgehend aber im zweiten Römerbriefkommentar sind die wesentlichen Elemente und Denkfiguren der Kirchlichen Dogmatik zu greifen. Von Anfang an wird die Gebundenheit an die Wortoffenbarung vorausgesetzt und diese inkarnationschristologisch strukturiert. Allerdings, und dies macht den entscheidenden Unterschied in der inhaltlichen Beurteilung von Barths Theologie aus, wird diese Strukturierung strikt aktualistisch gedeutet. Sie bezieht sich auf das Ereignis, auf das Geschehen der Offenbarung, das allein in der Freiheit Gottes be­gründet ist und nicht theologisch oder denkend festgestellt werden kann. Zugleich soll dieses »inkarnationsreferentielle Theologiekonzept« (232 f.) übergeordnet in (post)modernen Debatten positioniert werden (vgl. 1–26 und 292–296).
Inhaltlich bietet die Arbeit eine Erörterung des Theologiebegriffs in den Texten Barths zwischen dem ersten Römerbrief und den Prolegomena in die KD. Dem voran geht ein fundierendes Kapitel über Barths Erfahrung der Predigtnot in dem Safenwiler Pfarramt (26–55), aus der Sch. die Interpretationsrichtlinien ableitet. Methodisch ersetzt er damit die theologie- und philosophiehistorischen Ableitungen und Erklärungen. Die Arbeit repräsentiert bewusst einen älteren Forschungstyp werkimmanenter Rekonstruktion. Jeder Versuch einer Kontextualisierung von Barths dialektischer Theologie wird abgelehnt.
Im Durchgang durch die Textinterpretationen bzw. reichen Textzitate ergeben sich viele überzeugende und überraschende Beobachtungen. Die Ausgangslage im Ersten Römerbrief (56–78) ist noch negativ: Theologie im alten wissenschaftlichen Sinne wird abgelehnt. Doch bereits in der Überarbeitung des Kommentars (79–108) sind dann mit der Strukturierung des verstehenden Glaubens im christologischen Offenbarungswort die bleibenden Grundlagen für Barths theologische Entwicklung gelegt. Es bleibt nicht bei dem Verweis auf die Sache – vielmehr ist ihre Aktualität zu fordern. Dies geschieht als existenzieller Vollzug, als Lebendigwerden Gottes im Menschen. Die Gott-Mensch-Beziehung wird mit Hilfe de r– allerdings bloß formal zur Anwendung kommenden – chalcedonensischen Christologie (98) gedeutet, als Einigung von Einheit und Trennung, als Verhältnis zweier entgegengesetzter Verhältnisse. Die menschliche Rede von Gott ist dialektisch-paradox strukturiert. Zugleich sieht Sch. hier bereits die Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes – »Christus das Wort, die Bibel als Wort vom Wort und die Verkündigung als Wort vom Wort vom Wort« (293) – grundgelegt.
Weil damit die Elemente der Barthschen Dogmatik bereits im Zweiten Römerbrief zu erkennen sind, ist sie für Sch. kein wissenschaftliches, sondern ein bleibend auf die Predigtsituation bezogenes Programm. Mit dem Wechsel auf den Göttinger Lehrstuhl 1922 (109–138) hängt deshalb bloß die nähere Klärung des Verhältnisses von Predigt und Dogmatik zusammen. Es entwickelt sich die Funktion einer kritischen Prüfung des menschlichen Wortes in­nerhalb der Verkündigung. Gegen Harnack (139–146) präzisiert Barth: Theologie und Verkündigung sind zwei notwendige innere Elemente sowohl von Katheder- wie von Kanzelrede. Mit der Göttinger Dogmatik (147–176) verschiebt Barth die behauptete Not des Verkündigens auf die Not des dogmatischen Theologen und überträgt die zuvor ausgearbeiteten Strukturen. Im Kontext der Peterson-Kontroverse (177–193) verschärft Sch. die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur. Er bestreitet, dass Petersons Kritik für Barth von Bedeutung gewesen sei.
Entsprechende Deutungen über­sehen den bleibenden reformiert-aktualis­tisch-kritischen Duktus von Barths Grundlegung. Neu ist, dass Theologie jetzt deutlicher der Reflexionsfunktion der Predigt (als »Prüffunktion«, 191 f.) zugeordnet wird. Auch die Christliche Dogmatik (194–221) wird ganz von dem bisherigen Ergebnis her interpretiert. Nur die Fundierung des Dialektik-Charakters der Theologie in der Christologie wird jetzt explizit formuliert, wie der ebenfalls bereits »seit Beginn« (210) feststehende epistemische Realismus. Dazu klärt Barth terminologisch das alte Verhältnis von Verkündigung und Predigt: Diese ist der kirchliche Sonderfall, in dem allerdings das Wesen der Verkündigung besonders hervortritt.
Einer der Höhepunkte des Buches ist die Auslegung der Anselmstudie von 1931 (234–259). Denn hier muss Sch. gegen die Entwick­lungskonstruktionen zeigen, dass die realistisch-positive Lesart der Barthschen Dogmatik mit diesem Buch nicht zu belegen ist: Es bietet nicht, wie oft angenommen, die erkenntnistheoretischen Prolegomena zur KD. Dies geschieht durch die völlig einleuchtende Unterscheidung von Anselm-Paraphrase und eigener Theologie Barths. Bei Anselm fehlt notwendigerweise – wegen des metaphysisch-philosophischen Hintergrunds – die für Barth bezeichnende Verankerung des Glaubens im unverfügbaren Offenbarungsgeschehen. Nicht (wie bei Anselm) um Offenbarung als geschehende Erkenntnis einer gegebenen Wirklichkeit Gottes geht es, sondern um die Erkenntnis des bleibenden Geschehenscharakters der Of­fenbarung Gottes (vgl. 255). Nur wenn man, wie weite Teile der Barthforschung, diesen entscheidenden Unterschied übersehe, dann gerate Barth in die Nähe eines neoorthodoxen Positivismus. – Damit schaltet Sch. die Bedeutung der Anselmstudie für die Entwicklung des Theologiebegriffs weitgehend aus.
Das abschließende Kapitel über die Prolegomena der KD (260–291) erläutert dessen neue Differenzierung im engen Zusammenhang mit dem bisher dargelegten Konzept. ›Theologie‹ wird von einem weiten Be­griff (alle Rede von Gott) über ihren gemeinschaftlich-kirchlichen Aspekt hin zur Wissenschaft als Selbstprüfung der Verkündigung dreifach konzentrisch enggeführt. Zweck der wissenschaftlichen Theologie bleibt das Prüfen der Verkündigung. Doch ist dies nur eine vorläufige Auskunft: Wegen der behaupteten reinen Aktualität und der absoluten Freiheit von Offenbarung bleibt die Prüfhoheit auf den Zirkel negativer Selbstkritik be­schränkt. Die Auflösung dieses Zirkels ist aber Sache der Gnade Gottes und das Stehenbleiben des Menschen im Gehorsam dieser Gnade gegenüber. Die alte Erkenntnisfrage löst Sch. in die Aktualität des Aneignungsgeschenks auf: »Die Möglichkeit, das Wort Gottes zu erkennen, ist Teil seiner Wirklichkeit.« (280 f.) Alle Theologie verweist am Ende auf die Christologie. In ihr ist die Dialektik der Offenbarung begründet. Auch die KD wird damit aus dem zweiten Römerbrief heraus als antilutherische, reformierte, aktualitäts- und ereignisbezogene Theologie gelesen.
Die bei Barth zu lernende Orientierung an der Sache – so die Konsequenz des Ganzen für die Gegenwart – enthebt die Kirche jeder (post)modernen Vielfalt und Beliebigkeit. Sie muss ihr Proprium als eine Stimme in den kulturellen Diskurs einbringen. Deshalb darf sie auch keine wissenschaftlich-religionsphilosophisch begründete Allgemeinheit beanspruchen. Das Beharren auf der eigenen Identität ist gleichwohl nicht fundamentalistisch, weil es mit dauernder Selbstkritik (wegen der Unverfügbarkeit der beanspruchten Position) einhergeht. Es gibt weder eine epistemologische Absicherung noch eine pragmatische Erfolgsgewissheit kirchlicher Verkündigung. Es geht um das »mutige Vertrauen« in Gottes Bestätigung für die »Rede der Zeugen« (299). Barths Theologie wird (genau wie von dem immer wieder kritisierten Georg Pfleiderer funktional gedeutet) zur Grundlagenfigur missionarischer Praxis enger Bekenntnisgemeinden in einer pluralen Gesellschaft.