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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1108–1111

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pitstick, Alyssa Lyra

Titel/Untertitel:

Light in Darkness. Hans Urs von Balthasar and the Catholic Doctrine of Christ’s Descent into Hell.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2007. XVI, 458 S. m. Abb. gr.8°. Geb. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-0755-7.

Rezensent:

Markwart Herzog

Hans Urs von Balthasar gehört zu den einflussreichsten katholischen Theologen des vergangenen Jh.s. Dass seine Theologie des Descensus ad inferos ein neues Fenster zur Reflexion über das Theologumenon von der Unterweltfahrt Jesu Christi aufgestoßen hat, war häufig zu lesen. Die Vermutung, dass sie das alles organisierende Zentrum seiner Lehre bildet, hat Werner Maas bereits 1979 formuliert. Aber erst knapp zwei Jahrzehnte nach dessen Tod er­scheint mit der am Angelicum, Rom, entstandenen Dissertation von Alyssa Lyra Pitstick eine umfassende Analyse der Descensus-Lehre von Balthasars. Die katholische Theologin kommt zu dem erstaunlichen Schluss, dass nicht nur von Balthasars Descensus-Lehre, sondern dessen gesamte Theologie häresieverdächtig angelegt sei (84). Gleichwohl lässt sich P. zu keiner billigen Polemik hinreißen. Vielmehr entfaltet sie ihre Auseinandersetzung auf der Basis einer fairen Analyse des Gesamtwerks von Balthasars.
P.s Dissertation ist in drei Abschnitte mit elf Kapiteln gegliedert und mit neun Hochglanzfarbdrucken klassischer Descensus-Darstellungen illustriert. Der erste Teil behandelt die katholische Tradition, der zweite von Balthasars Descensus-Theologie und der dritte allgemeinere Fragestellungen, Kritikpunkte und Schlussfolgerungen.
Mit Recht stellt P. fest (62.79.82–85.331 u. ö.), dass die Grunddaten der katholischen Descensus-Lehre über Jahrhunderte hinweg relativ konstant geblieben sind. Anhand von Glaubensbekenntnissen, Katechismen und Lehramtsdokumenten, biblischen Zeugnissen, altkirchlichen und mittelalterlichen Liturgien sowie der Kirchenkunst (9–85) gewinnt P. die Kernpunkte einer katholischen Theologie des Descensus ad inferos: Durch sein Sühneleiden am Kreuz hat Christus die Menschheit von Sünde, Tod und Teufel er­löst; sodann ist seine Seele in der allseits offenkundigen Herrlichkeit eines siegreichen Triumphes »ad inferos« gestiegen, um allen Sektoren der Unterwelt seine Macht zu demonstrieren und die im Limbus patrum auf die Erlösung wartenden gläubigen Väter des Alten Bundes ins Heil einzubeziehen. Anders als dem Kreuzestod eignet dem Descensus keine sühnende Funktion, vielmehr markiert er bereits den Aufbruch zur österlichen Auferstehung. In ihrer Auseinandersetzung mit der Frühreformation verteidigte die ka­tholische Theologie seit dem 16. Jh. die Genugsamkeit des Kreuzestodes (Joh 19,30) zum Heil.
Dieser Position hält von Balthasar vor, den Ernst des Descensus folkloristisch (202.326) zu banalisieren, da der Tod doch alle Handlungsmöglichkeiten suspendiert. Infolgedessen war Christus als Toter unter den Toten solidarisch mit der Ohnmacht, Einsamkeit und Passivität der Toten im Scheol, teilte ihre Gottesverlassenheit (89–114). Der Descensus ist also eine Verlängerung des sühnenden Golgothaleidens, seine Herrlichkeit partizipiert an der verdeckten Gloria des Kreuzes (1Kor 2,8 f.). Insofern das Subjekt Christus als Sohn ist, ist der Descensus ein explizit trinitarisches Geschehen. Da er die Sühne für die Sünden der Menschen übernimmt, verfällt er dem Zorn des Vaters; auf Grund seiner Nähe zum Vater ist sein Leiden von einzigartiger Intensität, inkommensurabel mit allen Formen irdischen Leidens. Der Descensus vollendet zugleich die kenotische Dynamik der Inkarnation: Denn zum Menschsein gehört der Tod und zu diesem der Höllensturz, ohne den das Kreuz unvollständig wäre. Um der Erlösung willen ist der Sohn »für uns« zum Fluch gemacht (Gal 3,13), zur Sünde gemacht (2Kor 5,21), als ob er sie selbst begangen hätte. Durch die subjektive, passive Erfahrung der Gottesverlassenheit in der Hölle erringt der Sohn den objektiven Sieg über den Tod.
Das aktive Subjekt des Descensus als trinitarischen Geschehens ist der Vater (115–141), der dem Sohn die Sünden auflädt, sich ihm entzieht, sich von ihm distanziert, ihm zürnt, ihn zermalmt. In dieser »Theo-Dramatik« transitorischer Entzweiung vermittelt der Heilige Geist als verbindende Liebe zwischen Vater und Sohn. Die Liebe der göttlichen Personen zueinander zielt darauf, die ge­fallene Welt heimzuholen, so dass die trinitarische Dynamik alle Distanz und Entfremdung zwischen Gott und Sünder machtvoll aufhebt und dadurch umfasst, dass der Sohn alles von Gott Trennende bis in die tiefsten Abgründe der Hölle auf sich nimmt. Diese bereits innertrinitarisch realisierte Liebe wird am Kreuz und im »Descensus-Drama« als Gehorsam des Sohnes zum Vater offenbar, wobei Liebe als Selbsthingabe bereits die reziproken Relationen des in­nertrinitarischen Lebens Gottes konstituiert. Umgekehrt leidet Gott Vater am Verlust und an der Gottesverlassenheit des Sohnes mit (120.131–139), in einer Weise, die alles kreatürliche Leiden übersteigt, so wie das Unendliche das Endliche. Liebe als Selbsthingabe ist innertrinitarisch bereits darin realisiert, dass der Vater im Sohn einer anderen göttlichen Person Raum schafft. Die Todeserfahrung des Sohnes, der in der Inkarnation von seinen göttlichen und im Descensus von seinen menschlichen Attributen ablässt und somit in totale Selbstentfremdung – »visio mortis« statt »visio Dei beatifica« (101–107.166–179) – abstürzt, realisiert im Ge­genzug die Selbsthingabe an den Vater als bedingungslosen Kadavergehorsam.
P.s Kritik an von Balthasars Descensus- und Trinitätslehre ist – aus traditionalistisch-katholischer Perspektive – ernüchternd, ja vernichtend. Zweifellos ist ihr zuzustimmen, dass von Balthasars Descensus-Theologie mit der dogmatischen Tradition in der Tat kaum vereinbar ist. Auch wenn er vorgibt, eine Rekonstruktion der katholischen Position zu leisten, bringt P. dagegen die stärkeren Argumente in Anschlag. Insbesondere das quantitativ-additive Verständnis des stellvertretenden Sühneleidens (110.206–208) deckt sich nicht mit katholischer, sondern mit reformatorischer Über­lieferung – man vergleiche Luthers oder Aepins Psalmenkom­mentare. Was von Balthasar indes von der frühreformatorischen Tradition maßgeblich unterscheidet, ist die trinitätstheologische Fundierung des Descensus. P. wendet sich insbesondere gegen eben dieses reformatorische Erbe (83.107.333.392 f., Anm. 102) im Werk von Balthasars. Deshalb ist ihre Studie in formaler Hinsicht so sehr von der Methode einer kontroverstheologischen Schrift früherer Jahrhunderte bestimmt.
Anders als die Tradition, die die Hölle kosmologisch und den Descensus räumlich auffasste (95), ist von Balthasars Theologie exis­tenziell, spirituell und obendrein literarisch geprägt (92). Mit dieser spiritualistischen Inversion (vgl. 95.103.112) teilt von Balthasar Einsichten der Eschatologie des Tübinger Reformators Johann Brenz. Und ähnlich wie in pietistischen Theologien des 18. Jh.s ist die Lehre von der Allerlösung, von der – mit katholischer Anthropologie unvereinbaren (53.272) – postmortalen Rettung der Sünder, mithin die Heimholung Satans, eine radikale Konsequenz der These von Balthasars (236–274), dass Gottes Liebe den längeren Atem hat gegenüber jedem gegen Gott sich verschließenden Nein des Sünders, da der Sohn die Sündenstrafen am Kreuz und in der Hölle auf sich genommen hat.
P.s Verdacht indes, dass von Balthasars Theologie in bi- oder tritheistische, patripassianische oder monophysitische Tendenzen (131 f.200.291.337.343 u. ö., vgl. jedoch 123 f.) münde, ist überzogen, da sie ein starres ontologisches Modell der Trinitäts- und Zweinaturenlehre voraussetzt, wohingegen der Schweizer Theologe in den dynamischen Relationsbestimmungen einer »Theo-Dramatik« denkt (vgl. 202 f.), die keinen Zweifel daran lässt, dass der dreifaltige Gott selbst jedes Moment dieses Dramas machtvoll bestimmt. Und dafür, dass die reformationstheologischen Impulse von Balthasars letztlich darauf zielen, die paulinische Versöhnungslehre stark zu machen, fehlt P. jedwede Sensibilität.
Darüber hinaus verschließt sich P.s eigener, autoritär-traditionalistischer Ansatz (3) einer Interpretation in existenziellen Kategorien, die für eine zeitgemäße Hermeneutik und Katechese des Descensus ad inferos unerlässlich sind. Auch ihre Versuche, den Limbus patrum als räumliches Ziel des Descensus aus verschiedenen biblischen Sätzen abzuleiten, sind in Anbetracht der Vieldeutigkeit dieser Stellen ein exegetisch fragwürdiges Unterfangen (46 f.). Obendrein stellt P. die katholische Überlieferung – so, wie sie sie versteht! – sogar über das Wort Gottes (59), um eine an vermeintlicher Autorität, »Klarheit und Rechtgläubigkeit« (ebd.) unüberbietbare Position zu befestigen, die übrigens von keinem ökumenischen Konzil definiert wurde. Somit schrumpft P.s eigene Descensus-Theologie zu jener »vertrockneten Reliquie«, deren fehlende Aktualität für die Gläubigen (»pro nobis«) Adolf von Harnack beklagt und der von Balthasar mit seiner in der Tat ungewöhnlichen Interpretation neues Leben eingehaucht hatte.
Gleichwohl sollen diese Einwände die Verdienste P.s nicht schmälern: Sie liefert die erste umfassende, systematische und obendrein sachlich faire Analyse des Descensus-Verständnisses von Balthasars. Es gelingt ihr, sehr überzeugend herauszuarbeiten, dass diese Dogmatik tatsächlich quer zum katholischen Main­stream liegt. Deshalb wird »Light in Darkness« höchstwahrscheinlich zu intensiven Fachdebatten sowohl über das Theologumenon selbst als auch über das Gedankengebäude von Balthasars führen – so dass wir hier am Beginn einer der dogmenhistorisch sehr seltenen katholischen Descensus-Kontroversen stehen könnten.