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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1106–1108

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Laube, Martin

Titel/Untertitel:

Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XII, 627 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 139. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-148912-9.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Im wachsenden Abstand zur evangelischen Theologiegeschichte des 20. Jh.s wird deutlich, dass mit den dominierenden Gestalten der Jahrhundertmitte wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Emanuel Hirsch oder Paul Tillich die Zeit der großen systematischen Entwürfe nicht vorüber war. Vielmehr sind auch im letzten Drittel des vergangenen Jh.s theologische Konzepte von beeindruckender Ge­schlossenheit und großer akademischer wie kirchlicher Wirkung vorgelegt worden. Ein Zentrum theologischer Kreativität bildete die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität München, an der in den 70er und 80er Jahren Eilert Herms, Wolfhart Pannenberg, Trutz Rendtorff und Falk Wagner nebeneinander wirkten. Während zur Theologie Wolfhart Pannenbergs schon einige Doktorarbeiten vorliegen und der Entwurf von Falk Wagner kürzlich von Ulrich Barth eingehend gewürdigt wurde, ist die Christentumstheorie von Trutz Rendtorff Gegenstand der umfang­reichen Münsteraner Habilitationsschrift von Martin Laube. Der Untertitel »Studien zu Genese und Profil des Christentumstheorie Trutz Rendtorffs« deutet das methodische Vorgehen und die in­haltliche Ausrichtung des Buches an.
Die ersten drei Kapitel bilden eine werkgeschichtliche Interpretation der Theologie Rendtorffs. In Teil I »Zwischen Sozialtheologie und Kirchensoziologie – Die Anfänge der Christentumstheorie in den 50er Jahren« (17–125) wird Rendtorffs Münsteraner Dissertation »Die soziale Struktur der Gemeinde« nicht nur in den Horizont der Sozialtheologie seines Doktorvaters Heinz-Dietrich Wendland eingerückt, sondern auch in die religionssoziologischen Debatten des Nachkriegsjahrzehnts. L.s höchst aufschlussreiche Analysen führen sein Buch weit über sein engeres Thema hinaus und be­gründen allein schon seinen Wert als wichtigen Beitrag zur theologiegeschichtlichen Erforschung der Nachkriegszeit und zur Wis­ senschaftsgeschichte der Religionssoziologie. Es wird herausge­arbeitet, wie Rendtorff zugleich an der geschichtlich-sozialen Wirk­lichkeit der Kirche in ihren vielfältigen Verflechtungen an­knüpft und diese im Kontext der Entwicklung der modernen Gesellschaft verstehen will. Dabei überwindet er die Aporien der damaligen Kirchensoziologie ebenso, wie er die gängige theolo­gische Dichotomie von »Kirche und Gesellschaft« unterläuft. Stattdessen exponiert er ein historisch-reflexives Verständnis von Theologie, demzufolge Theologie nicht mehr »mit dem Anspruch eines ›absoluten‹ Beobachters jenseits von Welt und Geschichte auftreten kann, sondern selbst bereits Teil der Wirklichkeit ist, die sie zu be­obachten versucht« (125). Rendtorff geht, wie L. zeigt, von einer geschichtlichen Verschränkung von Kirche und Welt aus, die es historisch zu rekonstruieren und theologisch zu begreifen gilt.
Teil II »Die Entdeckung des neuzeitlichen Christentum als Thema der Theologie – Die Formierung der Christentumstheorie in den frühen 60er Jahren« widmet sich vornehmlich den beiden Fassungen von Rendtorffs Habilitationsschrift »Kirche und Offenbarung« (1961) bzw. »Kirche und Theologie« (1966). In theologiegeschichtlichen Fallstudien zu Semler, Schleiermacher, Hegel und Barth legt Rendtorff die Wurzeln jener dichotomischen Unterscheidung frei, auf deren geschichtstheologische Überwindung er zielt. Dabei üben die Philosophie Joachim Ritters und die Soziologie Hartmut Schelskys prägenden Einfluss auf seine Christentumstheorie aus. Während mit Ritter der produktive Sinn der mit dem neuzeitlichen Freiheitsverständnis verknüpften Entfremdungsprozesse herausgearbeitet wird, bildet Rendtorff im An­schluss an Schelskys berühmte Frage nach der Institutionalisierbarkeit von Dauerreflexion seine bekannte Formel, die »der christentumsgeschichtlichen Differenz von freier Privatreligion und institutionalisierter Kirchlichkeit als solcher institutionelle Züge« (213) zuschreibt: »Institution im umfassenden Sinne ist … die neuzeitliche Welt des Christentums« (ebd.). Damit werden die verfallsgeschichtlich angelegten Säkularisierungsthesen verabschiedet, weil die unbestreitbaren Entzweiungsphänomene der Neuzeit aus dem Zusammenhang heraus verstanden werden, in dem diese Entzweiung selbst ihren Ort hat, nämlich der Christentumsgeschichte. In den Debatten um den Kirchenbegriff wird dieser komplexe Zu­sammenhang von Rendtorff theologiegeschichtlich sichtbar ge­macht und auf ein umfassendes Verständnis von Theologie als Wissenschaft bezogen. Sie ist nur insofern eine kirchliche Theologie, als sie zugleich die nichtkirchliche Wirklichkeit mitbegreift. Sie ist »Theorie des neuzeitlichen Christentums im Dienste der Praxis der Kirche« (296).
Teil III »Theologie als Theorie des neuzeitlichen Christentums – Das Programm der Christentumstheorie zu Beginn der 70er Jahre« arbeitet den neuzeittheoretischen Gehalt von Rendtorffs Theorie heraus. Hauptquelle ist hier dessen theologische Deutung der damaligen Debatte zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, die in dem schmalen Buch »Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Debatte« (1975) vorliegt. L. zeigt auf, wie es Rendtorff gelingt, Freiheit als geheimes Thema der Debatte theologisch zu identifizieren, Theologie somit als Metatheorie der Soziologie zu exponieren und das Christentum als kritische Reflexionsgestalt des neuzeitlichen Freiheitsbewusstseins zu begründen.
Teil IV »Theologische Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft – Das systematische Profil der Christentumstheorie« interpretiert die zirkuläre Grundanlage der Christentumstheorie unter Anwendung der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der das Problem der Selbstreferentialität von Anfang an im Mittelpunkt gestanden hat. Die Nähe zu Rendtorffs Programm besteht bei Luhmann darin, dass er eine Gesellschaftstheorie entwickelt hat, die in sich selbst dem Umstand Rechnung trägt, als Gesellschaftstheorie einen Teil ihres eigenen Gegenstandes darzustellen. L. unterzieht nun die Einseitigkeiten der bisher vorliegenden theologischen Luhmann-Rezeption einer Kritik und bietet zugleich eine erhellende, wiederum werkgenetisch angelegte Rekonstruktion der schließlich wissenssoziologisch durchgeführten Verarbeitung des Selbstreferentialitätsproblems bei Luhmann. Auf dieser Basis wird im Modus einer »systemtheoretisch informierte[n] Rekonstruktion« (497) die Christentumstheorie nicht nur als »Selbstbeschreibung des christlichen Religionssystems« (498), sondern auch als »Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft« (498) profiliert, deren Pointe darin besteht, dass sie »ein fremdreferentielles und ein selbstreferentielles Interesse miteinander verschränkt« (499). Von tragender Bedeutung ist dabei Rendtorffs Bestimmung des Christentumsbegriffs, der als Horizontkategorie, Formschema, Vermittlungsschema und Reflexionsbegriff verwendet und von L. als ein funktionales Äquivalent zum Gesellschaftsbegriff bei Niklas Luhmann identifiziert wird. L. zeigt, dass jenseits von wechselseitigen Überbietungsansprüchen bzw. Beerbungsversuchen »soziologische Gesellschaftstheorie und theologische Christentumstheorie als zwei gleichrangige Selbstbeschreibungsprogramme einander ›auf Augenhöhe‹« (557) gegenüberstehen und sich deshalb perspektivisch zu ergänzen vermögen, weil sie jeweils für sich »durch die Ausführung ihrer Beschreibungen die eigene Beschreibungsperspektive ein []holen« (558).
In seinem Buch legt L. einen grundlegenden Beitrag zur Theologiegeschichte des 20. Jh.s vor und bahnt zugleich eine inhaltlich zurückhaltende und methodisch klare Verhältnisbestimmung von Theologie und Soziologie an. Auf eine eigene Durchführung verzichtet er ebenso, wie er sich eines abschließenden Urteils über den von ihm traktierten Stoff enthält. Das Buch ist von durchgängiger Sympathie zu seinem Gegenstand geprägt und der Leser hat das Gefühl, dass das Potential dieses Entwurfes noch nicht ausgeschöpft ist. Am Ende wünscht man sich bei L. das, was dieser bei Rendtorff so glänzend herausgearbeitet hat, nämlich die theologiegeschichtliche Einholung der eigenen Beobachterperspektive, die sich dem Gegenstand gegenüber nicht nur rekonstruierend, sondern auch beurteilend verhält. Aber möglicherweise wurde der theologische Ort, an dem ein kritisches Gesamturteil anzubringen wäre, in dem Buch gar nicht erreicht. Als Pionier der Troeltsch-Forschung kommt Rendtorff nur am Rande vor, seine zweibändige Ethik und seine maßgebliche Autorschaft an der bis heute wegweisenden »Demokratie-Denkschrift« der EKD liegen außerhalb des werkgeschichtlichen Rahmens, der hier gesteckt wurde. In den zuletzt genannten Werken aber wird das bis dato nur subkutan präsente Problem theologischer Normen explizit und man wüsste gern, ob sich der Theologiehistoriker zu ihnen rein beobachtend verhalten kann.