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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1101–1102

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reuchlin, Johannes

Titel/Untertitel:

Briefwechsel. Bd. III: 1514–1517. Hrsg. v. d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften in Verbindung m. d. Stadt Pforzheim. Bearb. v. M. Dall’Asta u. G. Dörner.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2007. LXXIII, 595 S. gr.8°. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-7728-1985-8.

Rezensent:

Ute Mennecke

Mit dem dritten liegt nun der vorletzte der auf insgesamt vier Bände konzipierten historisch-kritischen Neuausgabe des Reuchlin-Briefwechsels vor (vgl. die Rezension zu Bd. 1, 1999 und Bd. 2, 2003 von Helmar Junghans in ThLZ 130 [2005], 1087 ff.). Er umfasst die Briefe der Jahre 1514 bis 1517. Während dieser vier Jahre bildet ein Thema den cantus firmus in den 90 hier abgedruckten Briefen und vier Appendizes: der Prozess um R.s »Augenspiegel«, in dem er sein positives Gutachten in der Frage, ob die Bücher der Juden zu erhalten seien, gerechtfertigt hatte. Über dessen Etappen informiert die Einleitung (XI–LXVII) umfassend. 1514 trat der Prozess in eine neue Phase: Hatte zunächst im Speyerer Prozess Bischof Georg am 29. März 1514 durch seine sententia diffinitiva die vorausgehende Verurteilung im Mainzer Prozess für nichtig erklärt, so war es alsbald den Dominikanern gelungen, den Prozess gegen R. an der römischen Kurie weiterzuführen. Auch die Pariser Fakultät hatte ein verurteilendes Gutachten erstellt. Papst Leo X., der R. gewogen war, konnte zwar eine pro-reuchlinische Kommission einsetzen, die am 2. Juli 1516 das Speyerer Urteil bestätigte, dennoch wurde er dazu veranlasst, das endgültige Urteil für unbestimmte Zeit aufzuschieben.
R., der damals immerhin knapp 60-jährig, ein senex, war, musste selbst zwar nicht in Rom erscheinen, sondern konnte sich dort durch Prokuratoren vertreten lassen, aber gerade durch die räumliche Entrücktheit war der Prozess zwischen diesen sehr ungleichen Parteien, wie fast in einem jeden Brief spürbar wird, außerordentlich belastend.
Angesichts der Unwägbarkeiten dieses Prozesses versuchte R., der brieflich für das Speyerer Urteil warb, die Unterstützung durch die humanistische Öffentlichkeit zu gewinnen. Die »Gemeinde«, die bereit war, R. zu unterstützen, und dieses brieflich bekundete, war tatsächlich europaweit vorhanden; R.s Interesse war es, diese ideelle Unterstützung auch publik zu machen.
Wie die Herausgeber im Vorwort betonen, finden sich in diesem Band bis auf eines trotz intensiver Recherchen keine neuen Dokumente. Die heutige Überlieferungslage ist mithin maßgeblich durch die damalige Sammel- und Herausgebertätigkeit be­stimmt: Von den 52 Briefen dieses Bandes an R. sind allein 32 in der von R. eigenmächtig veranstalteten Sammlung Illustriorum Virorum epis­tolae (1519) nahezu ohne handschriftliche Parallelüberlieferung er­halten; immerhin16 in zeitgenössischen Abschriften. Von den 38 Briefen aus R.s Feder ist hingegen der Hauptteil in Autographen (12) und zeitgenössischen Abschriften (16) überliefert. – Zu Überlieferung und Textzeugen vgl. die ausführliche Einleitung in Bd. II, XLVIII–LXXI.
Die Liste der Adressaten und Absender dieser Briefe lässt die ›VIPs‹ des 15. Jh.s Revue passieren. Und sie erklären (fast) alle ihre eigene Unwürdigkeit und ihre grenzenlose Hochachtung für R., der so viel für die eruditio getan habe, und man lobt nach Kräften (über das Loben vgl. 212,38 ff.). Durch dieses Gewand der Zeit leuchtet aber immer wieder auch die Begeisterung hindurch: »Vere salus ex Hebraeis« (455,9)! In den alten Sprachen findet man die Wahrheit, und so wird R.s Sache zur »causa veritatis« (vgl. Ulrich von Hutten an R., Ep. 306; 408,18). Manch einem haben R.s Rudimenta Hebraicae Linguae (1507) geholfen, sich selbst die Hebräische Sprache beizubringen (vgl. Ep. 311 u. Ep. 318). Auch das Echo auf Erasmus’ 1516 erschienenes Novum Instrumentum durchzieht die Briefe; R. selbst hatte ihm dazu eine griechische Handschrift des Neuen Testaments überlassen (und zurückerhalten; vgl. Ep. 246 und Ep. 286).
Der Leser, der nicht nur den humanistischen Briefstil studieren, sondern etwas von den theologischen Interessen der Hebraisten jener Zeit mitbekommen möchte, mag sich Ep. 241 von dem He­braisten Johannes Böschenstein anschauen, Ep. 269 von Pietro Ga­latino (der die 1518 gedruckte Schrift De arcanis catholicae veritatis zur Verteidigung R.s verfasste) und R.s Antwort (Ep. 270), ferner R.s Briefe an Domenico Grimani (Ep. 271) und Joh. Questenberg (Ep. 273) und den Brief des Generals der Augustinereremiten, Egidio da Viterbo, der zu den hochrangigen Anhängern R.s zählte (Ep. 300). – 1517 veröffentlichte R. trotz der beklagten Belastung durch den Prozess die lange angekündigte und jetzt Papst Leo X. dedizierte Schrift De arte cabalistica (vgl. Ep. 309; 420 ff., das einschlägige Widmungsschreiben [vor 27. März 1517]). Hebraistische Interessen bezeugen ebenfalls Ep. 311 von Gianfrancesco Pico della Mirandola (beantwortet in Ep. 314) und Ep. 315 von Nikolaus Ellenbog, der auf die Zusendung von De arte cabalistica antwortet.
Wie schon in den vorausgegangenen Bänden sind die Briefe mit einem umfassenden Kommentar ausgestattet, der schlechthin keine Wünsche offen lässt. Offensichtlich standen die Herausgeber nicht unter dem Druck, sich dem Gebot der brevitas zu beugen. Ausführlich werden die im Brief genannten Personen in einem »Biogramm« vorgestellt, welches häufig einen eigenen kleinen Lexikonartikel darstellt, der zudem besonders auf die Beziehungen der jeweiligen Person zu R. eingeht. Auch die umfassenden Sacherläuterungen lassen einen bei der Lektüre des Bandes regelrecht in das Netzwerk der Humanisten und ihre Zeit eintauchen. Hervorgehoben sei auch, dass der Kommentar sorgfältig die literarischen Anspielungen und Bezugnahmen auf den Reuchlin-Briefwechsel in den literarischen Verteidigungskampagnen zu Gunsten R.s aufzeigt, allen voran den im Herbst 1515 erschienenen »Dunkelmännerbriefen« (aber nicht nur ihnen – zu den einzelnen Werken vgl. die Einleitung, 28–41).
Mit ihrer Hilfe wird nachvollziehbar, wie die Humanistensatire der Epistolae obscurorum virorum ihren Stoff aus dem Leben gewinnt. Auch sprachlich-stilistische und grammatikalische Er­läuterungen und Verstehenshilfen werden geboten; allerdings werden griechische Zitate nicht übersetzt und hebräische nicht immer. Wer nicht selbst ein homo trilinguis ist, ist auf die parallel in deutscher Übersetzung erscheinende Leseausgabe angewiesen. Die zwei hebräischen Briefe des Bandes (Ep. 277 von Conrad Am­mann; Ep. 307 an Joh. Böschenstein) wurden von Saverio Campa­nini ediert und auch übersetzt.
Den Briefen ist jeweils ein ausführliches, für die inhaltliche Er­fassung hilfreiches Regest vorangestellt. Bei den Verweisen auf die vorangehenden bzw. nachfolgenden Briefe eines Adressaten vermisst man – um auch etwas kritisch zu bemerken – wie übrigens auch in der Kolumnenzeile (die nur den Briefautor verzeichnet) die Angabe der Briefnummer zusätzlich zum Datum als Hilfe beim Auffinden der einzelnen Briefe. Hier muss der Leser schon ein bisschen suchen, denn weder die R.s Briefe verzeichnende Zeittafel (LXXII f.) noch das Verzeichnis der Briefe und Appendizes (1–4) nennt Seitenzahlen. Die Zeittafel würde man übrigens mit noch mehr Gewinn benutzen, wenn sie auch Hinweise auf das Erscheinen von Büchern und die Entscheidungen des Prozesses enthielte.
Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register (Bibelstellen und sonstige Zitate, Personen- und Ortsnamen) runden den Band ab, der insgesamt einen großen Gewinn für die Humanismusforschung darstellt.