Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Campi, Emidio, u. Peter Opitz [Eds.]

Titel/Untertitel:

Heinrich Bullinger, Life – Thought – Influence. Zurich, Aug. 25–29, 2004. International Congress Heinrich Bullinger (1504–1575). 2 Vols.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2007. Vol. 1: XVI, 491 S.; Vol. 2: X, S. 494–1005. 8° = Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte, 24. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-290-17387-6.

Rezensent:

Daniel Timmerman

Diese Ausgabe markiert im Anschluss an die Gesammelten Auf­sätze zum 400. Todestag (1975) den Stand der Bullinger-Forschung und der Historiographie der Zürcher Reformation überhaupt. Die Herausgeber Emidio Campi und Peter Opitz, Direktor und Oberassistent des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte, haben in zwei Bänden die Ernte des Internationalen Bullinger-Kongresses (25.–29. August 2004) zusammengetragen. Dass die ge­samte Zahl der Beiträge auf fünf Dekaden auskommt, wird im Blick auf Bullingers opus magnum wohl kaum ein Zufallsergebnis sein.
Im Rahmen dieser Rezension ist eine gesonderte Erörterung der 50 Beiträge weder möglich noch sinnvoll. Eher wird darum auf Grund dieser Ausgabe und im Vergleich zu dem Stand der Forschung von 1975 versucht, die wichtigsten Ergebnisse der Bullinger-Forschung kurz zusammenzufassen und auch den Kurs zu­künftiger Untersuchungen aufzuspüren.
In seinem Forschungsbericht zeigt Emidio Campi, dass die Bullinger-Forschung trotz des herkömmlichen Bullinger-Bildes, nach welchem der Nachfolger des Hauptreformators Zwingli in Vergessenheit geraten ist, seit dem ausgehenden 16. Jh. immer lebendig und fruchtbar gewesen ist. Zur Ergänzung der 1977 erschienenen Bibliographie (HBW I,2) haben Luca Baschera und Christian Moser eine durchaus zuverlässige »Indexed Bibliography of the Literature on Heinrich Bullinger, 1975–2004« zusammengestellt. Zudem wird eine Auflistung der wichtigsten Studien aus den Jahren 1575–1975 geboten. Insgesamt ist diese Jubiläumsausgabe also ein wichtiges Forschungshilfsmittel.
Der Untertitel erhebt den Anspruch, dass sowohl Biographie, Denken und Wirkungsgeschichte Bullingers erörtert werden. Den Einzelheiten seiner Vita wird jedoch – vielleicht infolge der rezenten Biographie Fritz Büssers (Band 1: 2004) – kaum Beachtung ge­schenkt. Gerade im Blick auf Büssers Arbeit hat Campi aber auf »the need for further knowledge of Bullinger’s relationships with other Reformers, theologians, and political figures« hingewiesen (19). In dieser Ausgabe wird diese Forschungslücke nur teilweise geklärt. So wird zwar z. B. sein Verhältnis zu Erasmus und dem Humanismus in verschiedenen Beiträgen auf einer ideengeschichtlichen Ebene dargestellt, aber die persönlichen Beziehungen und Kommunikationsnetzwerke Bullingers bleiben im Hintergrund. Der Versuch Rainer Henrichs einer »Würdigung Bullingers als Korres­pondent im Rahmen der humanistischen Epistolographie« (129) sollte wegweisend sein für weitere biographische Arbeiten, weil er auf einer Analyse der Korrespondenz basiert. Im Allgemeinen gilt, dass Bullingers Briefwechsel – der heute bis auf das Jahr 1542 in einer modernen Edition vorliegt – in den gebotenen Aufsätzen noch nicht ausreichend verarbeitet geworden ist.
Im Bereich Bullingers »Thought« haben Theologen sich seit dem Jubiläumsjahr 1975 intensiv mit dem Bundesgedanken beschäftigt. Aufbauend auf ältere dogmenhistorische Arbeiten hat der Amerikaner J. Wayne Baker 1980 die Mitte der Theologie Bullingers im Bundesbegriff verortet, wobei er das testamentum göttlicher Selbstverpflichtung den Menschen gegenüber begriffsmäßig un­terscheidet von dem foedus als einer gegenseitigen Verpflichtung von Gott und Menschen. Auf Grund dieser Wahrnehmung sollte Bullinger gegenüber der beginnenden calvinistischen Orthodoxie mit ihrer Betonung der Prädestination ›the other Reformed Tradition‹ repräsentieren. Obwohl man die Auswirkungen der These Bakers in vielen Beiträgen des Kongressbandes spüren kann, ist sie heute in ihrer ausgeprägten Form durch die Forschung überwunden. Wo z. B. Aurelio A. Garcia auf Grund einer Analyse von Bullingers De testamento zeigt, dass eine kategorische Unterscheidung von foedus und testamentum dem Quellenbefund nicht entspricht, betont Willem van’t Spijker die konkrete kontextuelle Verankerung des Bundesgedankens und die enge Verknüpfung mit anderen Aspekten seiner Theologie. Leider ist die wichtige Studie von Peter Opitz über die Theologie der Dekaden (Habilitationsschrift, 2002/2003) in den vorliegenden Aufsätzen noch kaum rezipiert worden. Opitz hat als Alternative zum Bundesbegriff versucht, die Mitte der Theologie des Zürchers in der umfassenden pneuma­tischen Gemeinschaft mit Christus zu verorten. Auf Grund seiner Analyse von Bullingers Predigten über die Johannesoffenbarung nähert Herman J. Selderhuis sich jedoch Opitz’ Ergebnis an, wenn er fragt, ob nicht eher die Ekklesiologie, als Ausdruck für die Ge­meinschaft der Gläubigen mit dem leidenden Christus, als das Zentrum von Bullingers Theologie gelten sollte.
Obwohl der Bundesgedanke nicht mehr als Inbegriff der Theologie Bullingers ausreicht, spielt er noch immer eine bedeutsame Rolle außerhalb der theologischen Wissenschaft. Unter dem Stichwort des Bundes hat die historische Wissenschaft seine Bedeutung als Historiograph wahrgenommen. In einem wichtigen Aufsatz beschreibt Christian Moser, wie Bullinger versucht hat, die »der Menschheitsgeschichte gleichgesetzte Bundesgeschichte exakt zu rekonstruieren, chronologisch zu verorten und mit konkretem historischem Material zu illustrieren und zu dokumentieren« (461). Obwohl die ältere Forschung die Bedeutung Bullingers als Historiker anerkannt hat (z. B. Joachim Staedtke 1975), wird sein historiographischer Nachlass erst heute intensiv bearbeitet.
Die angelsächsische Forschung hat die Wahrnehmung Bullingers als eines Bundestheologen in die Diskussion über die Wurzeln des Bundesbegriffs in der frühneuzeitlichen politischen Theoriebildung aufgenommen. Während Andries Raath und Shaun de Freitas für Schottland als ›covenanted community‹ im 17. Jh. eine Beziehung zu Bullinger behaupten, erkennt Rudolph M. Britz einen direkten Einfluss des Zürchers auf die sozialen Verhältnisse in der holländischen Kolonie am Kap der Guten Hoffnung (Südafrika). Die Auseinandersetzungen über die Nachwirkung Bullingers in Großbritannien machen die Forschung aufmerksam auf die noch immer ungeklärte Frage nach dem Verhältnis Bullingers zu der von Genf ausgehenden Reformationsbewegung. Während Diarmaid MacCulloch – in einem profunden Aufsatz über Heinrich Bullinger und die anglophone Welt – und Torrance Kirby seine Be­an­spruchung durch die royalistisch eingestellten Anglikaner aufzeigen, behaupten Raath und de Freitas eine Wirkung seiner Ideen auf die demokratisch angehauchten Presbyterianer. Er dürfte also sowohl Nicht-Calvinisten als auch Calvinisten beeinflusst haben.
Das Beispiel Großbritanniens zeigt die Komplexität einer Darstellung von Bullingers »Influence« überhaupt. Er hat nicht nur selbst als Kirchenpolitiker in verschiedenen Kontexten gezielt Einfluss ausgeübt, sondern seine Ideen sind auch durch andere für diverse kirchenpolitische Zwecke in Anspruch genommen worden. Im Allgemeinen könnte die Anregung Andreas Mühlings aufschlussreich sein, der in seiner Habilitationsschrift vier »Modellvarianten« des internationalen Auftretens von Bullinger identifiziert hat, wobei der Zürcher eine gewisse »Arbeitsteilung« mit dem Genfer erreicht haben soll ( Heinrich Bullingers europäische Kirchenpolitik, 1999/2000).
Dass nicht nur Historiker sich um Bullingers Erbe bemühen, zeigen die beiden letzten Aufsätze dieser Jubiläumsausgabe, in welchen Ruedi Reich und Lukas Vischer versuchen, einige »Contemporary reformed perspectives« zu eröffnen. Vischer setzt sich in seinem Beitrag systematisch-theologisch mit dem Bundesbegriff Bullingers auseinander. Einerseits sollte das testamentum, nach Baker verstanden als eine göttliche Initiative den Menschen gegenüber, kritisch einwirken auf den ökumenischen Diskurs, in welchem der Bund als »covenant« vor allem einen menschlichen Zusammenschluss bedeutet. Andererseits will Vischer die Zuwendung Gottes im Bund heute auch der außermenschlichen Schöpfung gelten lassen.
Insgesamt kann diese Ausgabe als eine gute Bestandsaufnahme der Bullinger-Forschung gelten, auch weil sie die Forschungslü­cken klar aufleuchten lässt. Aus dem Quellenbefund könnte noch einiges mehr gewonnen werden, wenn die Korrespondenz und die exegetischen und homiletischen Werke erschöpfend ausgewertet werden. Im Bereich der Theologiegeschichte vermisst man z. B. Sonderbeiträge über die Vernetzungen Bullingers mit der mittelalterlichen Theologie einerseits und den Auseinandersetzungen über die Prädestinationslehre während der Synode von Dordrecht andererseits. Und obwohl vieles gesagt wird über das Verhältnis Bullingers zu den Reformationen in England, Ost- und Mitteleuropa und im Reich, bleiben seine Beziehungen zum Reformiertentum in Frankreich und den Niederlanden im Dunkeln.