Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1089–1090

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schinkel, Dirk

Titel/Untertitel:

Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv im Spannungsfeld von religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 224 S. gr.8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 220. Geb. EUR 69,90. ISBN 978-3-525-53084-9.

Rezensent:

Lukas Bormann

Dirk Schinkel wurde mit dieser Arbeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Münster im Wintersemester 2005/6 promoviert. Betreuer war D.-A. Koch.
S. geht davon aus, dass es von »Beginn an das soziologische Problem der Integration der Christen in ihre Umwelt« gegeben habe (11). Diese »Differenz zwischen christlicher Identität und Weltbezug« führe zu einer sozialen Strategie, die zwischen Integration und Abgrenzung schwanke (12.20.143 u. ö.). S. wendet sich vor diesem Hintergrund dem »Motiv der ›himmlischen Bürgerschaft‹« (13) zu, das er näher definiert als »Motiv der himmlischen Zugehörigkeit der Christen in den Formen politisch-bildhafter Rede« (19).
Unter Motiv versteht S.: »Das Motiv ist als Bestandteil der se­mantischen Grundstruktur eines Textes das Potential eines sprachlichen Ausdrucks, tatsächliches, d. h. den semantischen Voraussetzungen der Rezipienten entsprechendes Wissen zu vermitteln.« (19) Er grenzt sich damit von dem literaturwissenschaftlichen Mo­tivbegriff ab, nach dem das Motiv nach seiner sprachlichen Struktur und seiner literarischen Funktion zu beschreiben ist. S. betont hingegen die soziale Kommunikationssituation, in der ein Motiv verwendet wird (19). Das Motiv habe »eine den jeweiligen sozialen, kulturellen und religiösen Bedingungen entsprechende und sich im Rezeptionsprozess verändernde Bedeutung«. Damit bürdet sich S. zwei Probleme auf. Indem er mit einem Motivbegriff arbeitet, der sich von der Rezeption abhängig macht, verliert er zum einen die Möglichkeit, stringente Textbeziehungen über literarische, traditionsgeschichtliche oder intertextuelle Bezüge herstellen zu können, und er muss zum anderen bei der Diskussion der von ihm herangezogenen Texte möglichst konkrete historische Annahmen über den Rezeptionsprozess einbringen.
In Kapitel 1 befasst sich S. mit den alttestamentlichen und an­tik-jüdischen Aussagen zu einer »himmlischen« bürgerrechtlichen Gemeinschaft (Jerusalem, Stadt, Zufluchtstätte, Ruheort). Während S. die Texte verständig erläutert, gerät er bei der Herausarbeitung der Rezeptionsbedingungen bisweilen in unsicheres Ge­lände, etwa mit der pauschalen Behauptung vom Bedeutungsverlust der griechischen Polis (46–49), bei der Interpretation des Kosmopolitismus eines Cicero (47), mit einer unklaren Aussage über die tria nomina und die Tribuszugehörigkeit (51), mit der unkritischen Übernahme der Behauptung aus Apg 22,27 f., dass das römische Bürgerrecht durch Bestechung zu erlangen gewesen sei (52), bei der Bewertung der constitutio Antoniniana als »wichtigstes Ereignis römischer Bürgerrechtspolitik« (53). Im Ergebnis hält S. fest, dass πολίτευμα in Phil 3,20 sich nicht von der jüdischen Diasporagemeinde herleiten lasse, sondern als »›Gemeinschaft von Bürgern‹, also die ›Bürgerschaft‹« zu verstehen sei (59, vgl. 65–67). Auch πολιτεύεσθαι in Phil 1,27 sei staatsrechtlich zu verstehen und zu übersetzen mit: »Seid Bürger allein würdig des Evangeliums Christi« (63).
In Kapitel 2 steht Phil 3,2–21 im Mittelpunkt. In der Gegnerfrage folgt S. einem gewissen Trend, indem er die entsprechenden Aus­sagen als Teil der Textstrategie des Verfassers interpretiert (75). Es gehe Paulus hier um Personen in der Gemeinde (93), die auf Grund des »soziokulturellen Akkulturationsdruck[s]« durch die römische Umwelt (115) die Rede vom Kreuz vermieden. S. stellt mit der Mehrheit der Forschung die Bedeutung der Augustusverehrung und des Kaiserkults in Philippi heraus (107–114) und sieht eine »Konkurrenz zu dem vorherrschenden Wertesystem in Philippi« (115).
Die Kapitel 3 u. 4 behandeln neutestamentliche Texte, die nach S. zur himmlischen Bürgerschaft in Beziehung stehen. Zwischen Phil 3,20 f. und Gal 4,21–26 bestehe eine »sachlich-theologische Verbindung«, τὸ πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς und ἡ δὲ ἄνω ᾿Ιερου­σαλήμ seien »Motivvarianten« (135). Das gelte auch für die Mitbürgerschaft mit den Heiligen (συμπολῖται τῶν ἁγίων) in Eph 2,19, das Nach-oben-gesinnt-sein (τὰ ἄνω ζητεῖτε/φρονεῖτε) in Kol 3,1 f. und die Aussagen über eine »himmlische Gegengröße« (153) in Hebr 11,13–16; 12,22 und 13,14.
Die beiden Abschlusskapitel 5 und 6 befassen sich mit dem Gebrauch des Motivs in der Schrift an Diognet (Diog. 5,9) und einigen weiteren christlichen Texten des 2. Jh.s (1Clem, Polyk., Herm., Clem. Alex.). Insgesamt trete das Motiv zunehmend in den Hintergrund, da das Bürgerrecht an Attraktivität verliere, die individuelle Heilserwartung wichtiger und die eschatologische Spannung durch eine apologetische Weltsicht verdrängt werde (200–202).
S. legt einen wertvollen und weiterführenden Beitrag zur Dis­kussion vor allem von Phil 1,27 und 3,20 f. vor. Sein Umgang mit den Texten ist zuverlässig und kenntnisreich. Er verbindet ge­konnt philologische Arbeit und soziologische Fragestellung. Der motivliche Zusammenhang der behandelten Texte hätte sich möglicherweise deutlicher erschlossen, wenn S. auch Überlegungen zum »Weltbild« oder zu den Raumkonfigurationen (mental map) seiner Texte angestellt hätte. Das Fehlen der Register wird der in­tensiven Rezeption, die dieser wichtigen Arbeit zu wünschen ist, hoffentlich nicht im Wege stehen.