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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1087–1089

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lehtipuu, Outi

Titel/Untertitel:

The Afterlife Imagery in Luke’s Story of the Rich Man and Lazarus.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. XII, 361 S. gr.8° = Supplements to Novum Testamentum, 123. Geb. EUR 109,00. ISBN 978-90-04-15301-1.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Erzählung vom reichen Prasser und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31) hat die Auslegung von jeher vor allem hinsichtlich ihres eigenwilligen Bildmaterials beschäftigt. Für die jüngere Exegese seit Jülicher galt es indessen als ausgemacht, dass die Erzählung eine ausschließlich paränetische Zielrichtung hat. Ihr Jenseitsszenario fungiert lediglich als »setting« einer Mahnung zur Umkehr und besitzt keinen theologischen Eigenwert.
An dieser Stelle setzt die Dissertation von Lehtipuu (Helsinki 2004) an. Ihre Absicht besteht nicht etwa darin, einen Pendelschlag gegenüber der bisherigen Forschung zu vollziehen. An der paradigmatischen Intention der Erzählung ebenso wie an ihrer Fiktionalität kann kein Zweifel bestehen. Allerdings bedarf dieser weitgehende Konsens einer zweifachen Relativierung: Zum einen verdient das Bildmaterial der Geschichte größere Aufmerksamkeit, insofern Lukas hier offensichtlich weit verbreitete, akzeptierte Vorstellungen aufnimmt. Zum anderen bedeutet die Suche nach konkreten literarischen Vorbildern der Erzählung eine Verengung, die den Blick für den weiten religiösen Horizont der Szene verstellt. Auch wenn es gilt, zuerst die narrative Struktur und die pragmatische Spitze der Geschichte zu erfassen, öffnet das eigentümliche Bildfeld doch zugleich auch ein Fenster in die Welt jüdisch-hellenistischer und damit lukanischer Eschatologie. Diesem lange vernachlässigten Nebenschauplatz gilt das Hauptinteresse der vorliegenden Untersuchung.
Teil I (Introduction) beschäftigt sich nach einer einleitenden Problemskizze mit der Forschungslage zu Lk 16. Seit Hugo Gressmann in seiner grundlegenden Studie von 1918 ein demotisches Märchen als literarisches Vorbild präsentiert hatte, wird die Aus­legung von einem quellenkritischen Interesse dominiert. Über Gressmann ging sie in der Folge lediglich dadurch hinaus, dass nun weitere Texte aus dem Bereich jüdischer Legende oder hellenistischer Satire in die Diskussion eingebracht wurden. In kritischer Auseinandersetzung mit diesem Befund bestreitet L. die Möglichkeit, eine direkte Beziehung zu literarischen Vorbildern bzw. deren postulierten mündlichen Traditionen herstellen zu können. Die Umkehrung des Geschickes nach dem Tod ist ein Motiv, das in der hellenistischen Welt zum Allgemeingut von Jenseitsvorstellungen überhaupt gehörte.
Teil II (Dividing the Dead: The Hellenistic Matrix) nimmt deshalb die Spurensuche auf und reflektiert zunächst deren methodologische Voraussetzungen. Begriffe wie »Hintergrund« oder »Parallele« erweisen sich als untauglich. Vielmehr kann es nur um die Beschreibung jenes »kulturellen intertextuellen Milieus« gehen, dem der Autor Lukas selbst angehört. Den Anfang der Materialsammlung machen die griechisch-römischen Quellen, begonnen bei den homerischen Epen bis hin zu philosophischen Traktaten der Kaiserzeit. Fundierte Kritik erfährt in diesem Zusammenhang die lange diskutierte Frage nach einem »orphischen Einfluss« auf den Wandel der Jenseitsvorstellungen, da er von inzwischen un­haltbar gewordenen Voraussetzungen ausgeht. Das reiche Material dieses ersten Durchganges wird daraufhin noch einmal unter der Fragestellung in den Blick genommen, inwiefern sich hier lediglich die Perspektive einer Elite oder vielleicht doch auch die Vorstellungswelt der breiten Masse widerspiegelt. Dabei werden vor allem epigraphische Quellen (namentlich Grabinschriften) mit zu Rate gezogen. Im Ergebnis steht die These, dass der Glaube an eine persönliche Vergeltung nach dem Tod sehr viel allgemeiner verbreitet war, als es häufig vermutet wird. Schließlich wendet sich die Aufmerksamkeit den jüdischen Quellen zu, begonnen bei den (relativ sparsam behandelten) Aussagen der hebräischen Bibel über die Apokryphen und Pseudepigraphen bis hin zu Philo und Josephus. Eine besondere Rolle spielt dabei erwartungsgemäß die apokalyptische Tradition, die (etwa in 1Hen 22 und 95–105) schon im­mer besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.
Schade ist, dass die Fortschreibung dieser Tradition im 2Hen nur im Kontext von Belegstellenreihen angedeutet, nicht aber eigens behandelt wird: Für die Vorstellung von Straforten für die gefallenen Engel im zweiten und fünften Himmel (2Hen 7 und 18) sowie für Gerechte und Frevler im dritten Himmel (2Hen 8–9 und 10), für die einzigartige Verbindung des irdischen Gartens Eden mit dem himmlischen Paradies (2Hen 8,4–6; 42,3; 71,28) sowie für die in ihrer Radikalität singuläre Ablehnung jeder Fürbitte (2Hen 53,1–3 in Spannung zu 64,5) hätte gerade diese Schrift einen sehr fruchtbaren Beitrag zur Erklärung verschiedener Details leisten können.
Teil III (Luke’s Description of the Hereafter in Context) liefert nun eine minutiöse, problem- bzw. motivorientierte Auslegung der Erzählung Lk 16,19–31. Ausgangspunkt ist zunächst noch einmal die Frage, welche Funktion dem Jenseitsszenario zukommt: Es dient, wie die meisten vergleichbaren Erzählungen auch, der Mahnung zu verantwortlicher Lebensgestaltung. Sodann werden verschiedene strukturelle Themen der ›story‹ behandelt: Welches Bild von der Umkehrung des Geschickes nach dem Tod entwirft Lk 16?
Ist der Tod wie bei Lukian der große Gleichmacher, oder besteht zwischen Gerechten und Frevlern wie in der Epistel Henochs eine bleibende Konfliktsituation? Hat das Geschick der Verstorbenen vorläufigen oder endgültigen Charakter? Und wie ist die Übermittlung einer Botschaft aus der Welt der Toten gedacht? Schließlich werden die wichtigsten Details der Jenseitsszene noch einmal in das Licht des zuvor untersuchten Vergleichsmaterials gestellt – das betrifft die Rolle von Engeln als Begleiter der Verstorbenen, die Funktion Abrahams in der Welt Gottes, die konkrete Gestalt von »Qual« und »Tröstung« im Jenseits, die räumliche Trennung durch einen »Abgrund« sowie überhaupt die Frage einer körperlichen Fortexistenz nach dem Tod.
Teil IV (Afterlife Imagery in Luke-Act) versucht, das Szenario aus Lk 16,19–31 schließlich in den Gesamtkontext lukanischer Eschatologie einzuordnen. Damit wird die grundsätzliche Frage berührt, inwiefern Lukas überhaupt ein stimmiges eschatologisches Schema entwickelt hat. L. setzt sich in diesem Zusammenhang kritisch mit allen traditionsgeschichtlichen Erklärungsversuchen auseinander. Ihr ceterum censeo lautet: Spannungen dürfen nicht mit moderner Logik aufgelöst werden; unterschiedliche Perspektiven oder Akzente bedeuten für Lukas keine Widersprüche; der Evangelist liefert als Erzähler keine systematische Lehre, sondern situationsbezogene Texte. So bleibt es in der Folge dann auch bei einer sorgfältigen Be­schreibung der wichtigsten Problemfelder: Inwiefern ist Jesu eschatologische Funktion zu bestimmen? Wie verhalten sich futurische und präsentische Aussagen zueinander? Ist die Hauptlinie die einer individuellen oder kollektiven Erwartung? Gibt es bei Lukas die Vorstellung eines Zwischenzustandes? Und wie sind »Orte« wie Hades, Gehenna, Paradies, ewige Wohnungen, Königsherrschaft Gottes, ewiges Leben oder Himmel aufeinander bezogen?
Diese de­tailliert beschriebene, spannungsvolle Vielfalt führt L. zu dem Er­gebnis, dass die Eschatologie als Veranlassung und Motor des lukanischen Doppelwerkes lange Zeit überschätzt worden ist.Sie steht eher im Dienst paränetischer Intentionen. Unzureichend bleibt dabei jedoch der Versuch, hier auch eine Zuordnung zur (insgesamt nur angedeuteten) lukanischen Soteriologie herzustellen.
Alles in allem bietet diese Untersuchung weder Überraschungen noch neue Lösungen. Vielmehr gewichtet, proportioniert und differenziert sie die bekannten Befunde neu. Ihr wichtigstes Verdienst besteht darin, die Auslegung von Lk 16,19–31 von der Fixierung auf konkrete Parallelen abgelöst und in den weiten Horizont hellenistischer Jenseitserwartungen gestellt zu haben – wobei die gängige Vermutung religiöser Gemeinplätze nun noch einmal durch eine fundierte und detaillierte Aufarbeitung alles relevanten Materials begründet und belegt wird. Diesen Fundus wird man in Zukunft nicht mehr vermissen wollen! Mit der Relativierung der Eschatologie flankiert die Arbeit von L. zugleich einen Trend, der die Debatte um die Eigenart der lukanischen Theologie wieder stärker auf das spannungsvolle Verhältnis zwischen Soteriologie und Ethik lenkt. Für die künftige Beschäftigung mit Lk 16,19–31 markiert das Buch in jedem Falle einen neuen Ausgangspunkt.