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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1077–1079

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Utzschneider, Helmut, u. Erhard Blum [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments. M. Beiträgen v. Ch. Hardmeier, R. Hunziker-Rodewald, G. Steins, H. Utzschneider, E. Blum, Sh. Bar-Efrat, L. Schwienhorst-Schönberger, B. Weber, S. A. Nitsche, D. M. Carr, W. Oswald, J. Krispenz, Th. Krüger, G. Fischer SJ, R. Jost, S. Seiler, S. Gillmayr-Bucher.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 319 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-019720-6.

Rezensent:

Ulrike Sals

Der Aufsatzband geht auf einen seit 1996 verdienstvoll von den beiden Herausgebern organisierten Arbeitskreis zur Reflexion der exegetischen Methoden zurück, der sich alljährlich in Neuendettelsau trifft. Nun wurden die Früchte dieser Zusammenarbeit in einem Band zusammengestellt, der noch deutlicher als die Tagungen nach außen wirken soll und wird. Er ist auf den deutschsprachigen Raum und die dort vorherrschende Methodendiskussion ausgerichtet, so dass alle Beiträge, auch die von David Carr und Shimon Bar-Efrat, auf Deutsch abgedruckt sind.
Die enthaltenen Aufsätze sind in vier Gruppen geordnet. Den Anfang bilden drei Beiträge zur Text- und Literaturtheorie. Insbesondere weil in den Geisteswissenschaften der letzten Jahrzehnte eine massive Ausweitung und Differenzierung des Textbegriffs und damit einhergehend auch der Methoden seiner Erforschung stattgefunden hat, ist eine noch stärker als bisher hier anschließende Hermeneutik und Methodendiskussion der alttestamentlichen Wissenschaft sinnvoll und nötig. Alle drei Beiträge nehmen auf unterschiedliche Weise allgemeine Text- und Literaturtheorien auf; alle drei sind monographisch bereits ausgeführt und zum Teil etabliert:
Christof Hardmeier gibt zusammen mit Regine Hunziker-Rodewald eine aktuelle Zusammenfassung der Hardmeierschen empirisch-textpragmatischen Exegese (»Texttheorie und Texterschließung. Grundlagen einer empirisch-textpragmatischen Exegese«), die sich nicht wesentlich von bereits veröffentlichten Zu­sam­menfassungen unterscheidet (z. B. »Literaturwissenschaft, biblisch« in RGG4; »Textwelten der Bibel entdecken«, 2 Bde., Gütersloh 2003 u. 2004).
Der zweite Beitrag stammt von Georg Steins, der seine kanonische Exegese mit Hilfe texttheoretischer Überlegungen vorstellt, die hier keine Texttheorie umsetzt, sondern eine Bibeltexttheorie (»Kanonisch lesen«). Steins betont einen zumindest nicht zentralen Aspekt in Hardmeiers Theorie, den der Intertextualität. Beiden ist »Text« ein Prozess, und beide betonen die Normativität, die der Text vorgibt, wie auch das Experimentelle des Lesevorgangs.
Helmut Utzschneider geht es im dritten Beitrag dieser Gruppe weniger um Text als vielmehr um Literatur (»Was ist alttestamentliche Literatur? Kanon, Quelle und literarische Ästhetik als LesArts alttestamentlicher Literatur«). Er stellt mittels dreier »LesArts«, texthermeneutische Grundperspektiven darauf dar, was alttestamentliche Literatur zu ebendieser macht und sie zusammenhält. Das sind die Verständnisse alttestamentlicher Literatur als Kanon, als historisches Quellenwerk und als ästhetisch-literarisches Werk. Dabei wäre eine Vernachlässigung auch nur einer der drei »LesArts« ein Verlust an Reichtum der biblischen Überlieferung. So liefert Utzschneider mit seinem Entwurf ein Ausgleichsangebot an konkurrierende und sich vermeintlich ausschließende Methoden.
Die zweite Gruppe der Beiträge ist den »Textsorten, Gattungen, Genres« gewidmet, die anhand von fünf Aufsätzen problematisiert werden. Program­matisch arbeitet Erhard Blum hier erneut an der Frage der klassischen und nichtklassischen Methoden und ihrer Anwendung (»›Formgeschichte‹ – ein irreführender Begriff?«), diesmal am Beispiel der Formgeschichte, seiner Be­griffsgeschichte und Entwicklung der Methode, die er bezeichnet. Die Fragestellung der Formgeschichte nach Gattungen und Vorgeschichten ist unabdingbar für die historisch-kritische Erforschung eines Textes, also Gattungs- und Überlieferungsgeschichte. Letztlich stellt aber die Engführung auf »Formgeschichte« einen postgunkelschen Irrweg dar, der, weil ohne eigenständige Methode zu sein, besser aufgegeben wird.
Viele grundsätzliche Beobachtungen enthält der Beitrag von Shimon Bar-Efrat (»Die Erzählung in der Bibel«) dazu, was eine Erzählung in der Bibel ausmacht und wie deshalb eine Analyse be­schaffen sein sollte. Dieser Text ist wohltuend klar und ohne die ideologischen Verhärtungen, die im deutschsprachigen Raum spür­bar sind, mit vielen Beispielen aus dem Alten Testament.
Auf der Suche nach der Definition präskriptiver Texte reflektiert Ludger Schwienhorst-Schönberger den Zusammenhang von Sein und Sollen (»Präskriptive Texte«). Er unternimmt einen Abgleich abendländischer Theologie mit biblischem Denken und der Beschreibung der verschiedenen Gestalten präskriptiver Texte mit Hilfe einer kanonischen Lektüre der Zehn Gebote in Ex 20 und dem nachfolgenden Bundesbuch.
Beat Weber unternimmt einen »Entwurf einer Poetologie der Psalmen« in Ergänzung zum Arbeitsbuch von Utzschneider/Nitsche, in Antwort auf verschiedene Arbeiten anderer und in Fortführung eigener bisheriger Ergebnisse. Mit dem Kommunikationsmodell nach Bühler und Jacobson und der Textraumkonzeption nach Lotmann unternimmt er den Versuch, die Poetik von biblischen Psalmen im Vergleich zur Narratologie von Erzähltexten zu bestimmen. Er legt dabei den Schwerpunkt auf die Dialogizität und Kommunikation von Psalmtexten und eine Reflexion der vielen Funktionen des Parallelismus membrorum. Beispielexegesen von Ps 3; 13; 130 setzen die theoretischen Überlegungen um.
Der Beitrag von Stefan A. Nitsche (»Prophetische Texte als dramatische Texte lesen. Zur Frage nach den Textgestaltungsprizipien in der prophetischen Literatur des Alten Testaments«) geht auf seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 2006 zurück. Er vertritt die These, dass prophetische Texte nicht nur als Dramen lesbar, sondern auch als solche konzipiert sind, und belegt dies am Beispiel Jes 24–27, das in 1QIsa eine dementsprechende graphische Umsetzung hat.
Auf den Methodenstreit der alttestamentlichen Exegese wird im Kapitel »III. Diachrone Exegese und ihre Theorie« eingegangen. David Carr (»Mündlich-schriftliche Bildung und die Ursprünge antiker Literaturen«) gibt eine Kurzzusammenfassung seiner Monographie »Writing on the Tablet of the Heart« (New York 2005), in der er nach der Sozialisation und Bildung von Schreibern in Israel fragt und mit anderen antiken Bildungssystemen vergleicht.
Wolfgang Oswald (»Moderne Literarkritik und antike Rezeption biblischer Texte«) behandelt mit Literarkritik denjenigen Methodenschritt, der in den letzten Jahren am meisten Skepsis hervorgerufen hat, und vergleicht Ergebnisse moderner Literarkritik mit antiken Übersetzungen anhand offensichtlicher Widersprüche und Doppelungen in der Sinaiperikope, zu der er 1998 eine Monographie veröffentlichte: Die Wahrnehmung von Inkohärenzen ist kultur- und zeitübergreifend.
Der Literarkritik widmet sich auch der Aufsatz von Jutta Krispenz (»Die doppelte Frage nach Heterogenität und Homogenität: Die Literarkritik«), die in Weiterführung ihrer Habilitationsschrift die Literarkritik in ihrem Gewinn und ihren Grenzen mit Hilfe computergestützter Statistik kennzeichnet.
Thomas Krüger diskutiert den Traditionsbegriff und die Leistungsfähigkeit der traditionsgeschichtlichen exegetischen Me­thode (»Überlegungen zur Bedeutung der Traditionsgeschichte für das Verständnis alttestamentlicher Texte und zur Weiterführung der traditionsgeschichtlichen Methode«).
Das Kapitel »IV. Hermeneutik und Rezeption« wird mit dem Beitrag von Georg Fischer (»Grundlagen biblischer Hermeneutik«) eröffnet, der Grundlegendes zur Rolle der Gemeinschaft, der Person des Auslegers und dem Vorgang der Auslegung festhält.
Auch feministische Exegese findet Eingang in den Band (Renate Jost, »Feministisch-exegetische Hermeneutiken des Ersten Testaments«). Dabei bleibt diese Zusammenfassung nicht bei den sattsam bekannten Entwicklungen und Schwerpunkten feministischer Hermeneutiken stehen, sondern nimmt neuere postkoloniale Ansätze in die Darstellung auf. Ein Schema muss bei jedem Detail konstatieren, nicht alles abbilden zu können: Die Vielgestaltigkeit feministischer Exegesen lässt sich nicht fixieren.
Stefan Seiler (»Intertextualität«) bringt Klarheit und Überblick in die verschiedenen Ebenen und Implikationen der Intertextualitätstheorien mit vorsichtigen Überlegungen zu innerbiblischen Intertextualitäten und schließt mit Darstellungen zum Textbegriff an den Eingang des Buches an.
Der letzte Beitrag von Susanne Gillmayr-Bucher (»Biblische Texte in der Literatur«) beinhaltet theoretische Überlegungen zu Eigenart und Wegen der Rezeption biblischer Stoffe, womit auch Seilers Beitrag weitergedacht wird. Sie werden in verschiedenen Beispielen aus moderner deutschsprachiger Literatur konkretisiert.
Der Band insgesamt ist wie wenige geeignet für universitäre Proseminare, die nicht nur die Methodik der Exegese, sondern auch die Eigenheiten der alttestamentlichen Textsorten behandeln. Da viele Aufsätze ein Konzentrat, einen Ausschnitt oder eine Weiterführung aus Monographien bilden, kann der Band auch als Reader’s Digest der alttestamentlichen wissenschaftlichen Ansätze zur Exegese gelesen werden.
Im Einzelnen wird man zum Widerspruch, mithin zur Diskussion angeregt. Sie ist derzeit im Fach zum Erliegen gekommen und hat eine Nichtkommunikation von Anhängern verschiedener Methoden und Schulen zur Folge. Da der aktuelle Zustand der schlimmstmögliche ist, kann es nur besser werden – und dieser Band hat das Potential, ebendiesen neuen Diskussionsprozess in Gang zu setzen.