Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1067–1070

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rogerson, J. W., and Judith M. Lieu [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Oxford Handbook of Biblical Studies.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2006. XVIII, 896 S. 4°. Lw. £ 85,00. ISBN 978-0-19-925425-5.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Das hier zu besprechende Kompendium wurde von J. W. Rogerson, emeritierter Professor für »Biblical Studies« in Sheffield, editorisch vor allem für die alttestamentlich orientierten Beiträge zuständig, und Judith M. Lieu, Professorin für Neues Testament in Cam­bridge, herausgegeben. Das Werk gehört der Gattung (›Handbook‹) und dem Themenbereich (›Biblical Studies‹) nach in den Bereich innerexegetischer Handbücher mit enzyklopädischem Anspruch. Es ist thematisch z. B. mit »The Cambridge Companion to Biblical Interpretation«, ed. J. Barton, Cambridge 1998 (repr. 1999), oder dem stärker Lemmata-bezogenen »Dictionary of Biblical Criticism«, ed. S. E. Porter, London/New York 2007, verwandt. Innerhalb von »Ox­ford University Press« befindet sich das bibelwissenschaftliche Handbuch in konzeptioneller Nähe zu weiteren kürzlich erschienenen Handbüchern im Bereich der Serie »Religion and Theology« (z. B.: »Religion and Science«, 2006; »Jewish Studies«, 2002).
Mit der oben angedeuteten Konzeption sind zwei sachliche Vorentscheidungen getroffen: Erstens werden die beiden exegetischen Disziplinen, alttestamentliche und neutestamentliche Wissenschaft, prinzipiell als ›Biblical Studies‹ zusammengefasst und zu­sam­men behandelt. Biblical Studies werden dabei wenig konzise als »collection of various, and in some cases independent, disci­plines clustering around a collection of texts known as the Bible« (Vorwort, XVII) verstanden. Zweitens hat sich das Kompendium zum Ziel gesetzt, über den gegenwärtigen Sach- und Methodenstand der »Biblical Scholarship« zu informieren (vgl. ebd.). Damit werden zwangsläufig Standards der Bibelwissenschaften – aus zu­meist aus­schließlich angelsächsischer Perspektive (s. u.) – definiert. Diese Definition erfolgt nicht auf der Basis eines traditionell theologisch bestimmten Verständnisses von bibelwissenschaftlicher Forschung, sondern auf der Basis einer besonders im 20. Jh. einsetzenden wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung, die durch die Ab­ständigkeit von Theologie und die Einbeziehung von Nachbar- oder Hilfswissenschaften in die biblische Exegese wie Archäologie, Assyriologie, Linguistik, Soziologie etc. charakterisiert ist.
Das aber bedeutet: Das Handbuch geht explizit nicht von einer Klassifizierung alt- und neutestamentlicher Wissenschaft als exegetischen Disziplinen im Rahmen theologischer Wissenschaft aus, wie sie für die deutschsprachige Exegese konstitutiv ist, sondern versteht die gegenwärtigen ›Biblical Studies‹, von denen wahlweise im Singular oder Plural gesprochen werden kann (XVII: »What is [or ... are?] Biblical Studies?«), als Resultat einer langen geistes- und kulturgeschichtlichen Bemühung um die Auslegung der ›Bibel‹. Eine solche gleichermaßen fachspezifische (›bibelwissenschaftlich‹) wie interdisziplinär ausgerichtete Fächerbestimmung wird wiederum vor dem Hintergrund der Kulturgeschichte gerechtfertigt: »No comparable collection of texts has been subjected to such sustained critical examination and elucidation over such a long period of time« (XVII). Weitergehende methodologische oder hermeneutische Überlegungen, die die sprachlichen Konditionen alt- und neutestamentlicher Texte, d. h. die Bedingungen hebräischen und griechisch-hellenistischen Denkens (vgl. aber Abschnitte 9–11 im zweiten Teil: »Language and Translation« im Blick auf Altes Testament [J. Elwolde], Apokryphen [M. A. Knibb] und Neues Testament [S. E. Porter]), aber auch den Umfang der ›Bibel‹ sowie das Verhältnis von biblischer zu deuterokanonischer oder parabiblischer Literatur einschließen müssten, werden in diesem Zu­sammenhang nicht angestellt (s. u.).
Das Kompendium umfasst 45 Kapitel, die in sieben Teile untergliedert sind. Neben den beiden Herausgebern haben 37 weitere namhafte Autorinnen und Autoren, zumeist aus dem Bereich an­gelsächsischer und nordamerikanischer Exegese, mitgewirkt. Aus dem mitteleuropäischen Raum sind lediglich vier deutschsprachige, ausnahmslos alttestamentliche Exe­geten (J. P. Floss, Aachen; B. Janowski, Tübingen; R. G. Kratz, Göttingen; M.-T. Wacker, Münster) sowie A. Van der Kooij, Leiden, ebenfalls Alttestamentler, als Autoren beteiligt. Die Herausgeber problematisieren zwar die geographisch bedingten Beschränkungen, die in den bibliographischen Angaben der Autoren erkennbar sind, nicht aber die geographische Beschränkung der Autoren-Auswahl selbst (XVII).
Nun zu Aufbau und Darstellungsform des Kompendiums – die Rezensentin kann hier nur eine kurze Übersicht mit exemplarischen Vertiefungen geben: Der erste Teil (»On the Discipline«, 5–132) befasst sich zunächst mit der Geschichte der Disziplin(en) innerhalb der letzten 70 Jahre und enthält hierzu einen eigenen alttestamentlichen (J. W. Rogerson, 5–26) und einen neutestamentlichen (R. Morgan, Oxford, 27–49) Abschnitt:
Morgan weist in der ersten von ihm skizzierten Forschungsphase (»continuities«, 1935–1962) beim Vergleich von C. H. Dodd mit R. Bultmann auf die Differenzen zwischen der angelsächsischen und der deutschen Exegese hin, die im Umgang mit hermeneutischen Fragen bestünden und von bleibender Bedeutung seien: Die »hermeneutical sophistication of some German New Testament theologians who built theological and philosophical reflection into their historical and exegetical study of the Bible« (32) liege in dem Umstand, dass deutschsprachige Exegeten als Theologen an Theologischen Fakultäten tätig seien. So sehr diese Beschreibung als zutreffende Analyse der neutestamentlichen Wissenschaft im 20. Jh. zu werten ist, so sehr weist sie auch auf die grundlegenden Unterschiede im Wissenschafts- und Theologieverständnis zwischen der angelsächsischen und der deutschsprachigen exegetischen Tradition hin. Leider fügt Morgan seinem Beitrag keine Bibliographie bei.
In einer zweiten ›Section‹ im ersten Teil des Kompendiums wird in sechs Abschnitten der Einfluss anderer Disziplinen wie Archäologie, Altorientalistik, Qumran-Forschung, klassische Altertumswissenschaften und Judaistik auf die Bibelwissenschaften dargestellt (53–132). Hier ergeben sich leichte Überschneidungen zu Abschnitt 32 (»Archaeology«) im fünften Teil des Kompendiums (Methoden in den Bibelwissenschaften, 567–671), wo außerdem u.a. »Textual criticism«, Formkritik, rhetorische Analyse und feministische Exegese dargestellt werden. Der zweite Teil des Kompendiums ist in fünf Abschnitten mit Fragen nach Sprachen, Übersetzung und Überlieferung der Bibel befasst (135–249, s. o.).
Der dritte, weitaus umfangreichste Teil des Kompendiums (»Hi­s­torical and Social Study of the Bible«, 255–456) umfasst 14 Ab­schnitte, die drei ›Sections‹ zugeordnet sind: Hintergrund bzw. Kontext der Bibel, Institutionen und Gattungen. Als Gattungen (»Genres of the Old and New Testament«) werden hier Prophetie (D. W. Rooke), Apokalyptik (P. Davies), Weisheit (K. J. Dell), Novellen (E. S. Gruen), Evangelien (R. A. Burridge) und Briefe (J. M. Lieu) behandelt. Zwar lässt sich diese Klassifizierung von biblischen Gattungen als Beitrag zu deren Systematisierung sowie als möglicher Aufweis von innerbiblischen gattungsgeschichtlichen Kontinuitäten werten. Allerdings entstehen hier auch deutliche Unschärfen, da weder die gattungsgeschichtlichen Spezifika alttestamentlicher (z.B. Rechtsliteratur) und neutestamentlicher (besonders: Acta) Literatur noch eine Unterscheidung von Eigenbezeichnung und mo­derner Gattungsbezeichnung berücksichtigt werden. Dabei hat gerade die gattungsgeschichtliche Forschung Diskontinuitäten zwischen alt- und neutestamentlichen Texten aufgedeckt und maß­geblich zu einer differenzierten Wahrnehmung alt- und neutestamentlicher Literatur beigetragen.
Gruen (420–431) beschäftigt sich in seinem Beitrag besonders mit der frühjüdischen deutero- und außerkanonischen Literatur (z. B. Artapanos, Joseph und Aseneth) und weitet damit den sonst im Kompendium kaum weiter diskutierten ›Bibel‹-Begriff aus (vgl. höchstens Abschnitt 29 im vierten Teil: »Growth of the Apocrypha«, A. Salvesen, 489–517). Burridge (432–444) bezeichnet die Gattungsfragen zu Recht als »key to interpretation« (440), konstatiert allerdings die »biographical hypothesis« als derzeitigen Konsens in der Evangelien-Exegese (437). Burridge schließt seinen Beitrag unter dem Aspekt »Using the Gos­pels in Ethics« (441) ab, wo er die Gattungsbestimmung erneut zum Schlüssel für die Auslegung von Worten und Taten Jesu zu machen versucht. Der Ansatz ist interessant, lässt allerdings eine explizierte hermeneutische Reflexion zur Verknüpfung von Gattungsgeschichte, Text-Applikation und Ethik vermissen. Lieu (445–456) gibt eine insgesamt gelungene Übersicht über den derzeitigen Stand der neutestamentlichen Briefforschung.
Auf den vierten (»Composition of the Bible«, 459–564) und fünften (»Methods in Biblical Scholarship«, 567–671) Teil des Kompendiums wurde ausschnittweise bereits oben kurz hingewiesen. Der sechste Teil (675–774) ist mit Bibel-Interpretation, d. h. alttestamentlicher (Abschnitt 38, W. Brueggemann) und neutestamentlicher (Ab­schnitt 39, J. D. G. Dunn) sowie Biblischer Theologie (Abschnitt 40, B. Janowski) befasst. Die Abschnitte 41 und 42 nehmen »Bible in Ethics« (E. W. Davies) sowie die Thematik der Jüdischen Bibelinterpretation (J. Magonet) in den Blick. Der siebente Teil des Kompendiums (777–859) widmet sich der Frage der Autorität der Bibel, die unter drei Perspektiven, nämlich Kanon (Ab­schnitt 43, L. M. McDonald), »Fundamentalism(s)« (Abschnitt 44, H. A. Harris) und »Historical Criticism and the Authority of the Bible« (Abschnitt 45, J. W. Rogerson) in den Blick genommen wird. 36 Seiten Index (Sa­chen, Namen, Stellen) schließen das Kompendium ab.
Zur Gesamtwürdigung: Das Handbuch bietet insgesamt einen überaus soliden und profunden Einblick in wesentliche Fragen, Methoden und Aufgabenstellungen gegenwärtiger bibelwissenschaftlicher Forschung. Dies gilt besonders für den anglo-amerikanischen Kontext. Damit darf das Handbuch als gute Repräsentantin alt- und neutestamentlicher Exegese in der »Oxford Handbook«-Serie gelten.
Weitergehende kritische Anfragen seien dennoch formuliert: Die Einbeziehung besonders religions- und ge­schichtswissen­schaftlicher Teildisziplinen in die »Biblical Stud­ies« im engeren Sinne gibt dem Handbuch zwar eine sinnvolle und zeitgemäße interdisziplinäre Ausrichtung, hätte jedoch durch eine vertiefende methodologische Reflexion gewonnen. Wünschenswert wäre zu­dem eine explizitere Reflexion der Gesamtkonzeption und der wissenschaftsgeschichtlichen und -geographischen Kontextualisierung des Handbuchs gewesen. Ist die Per­spektive der »Biblical Studies« als Zukunftskonzept exegetischer For­schung zu verstehen oder mutet sie – wie im Blick auf die Gattungsfragen gezeigt (s. o.) – gegebenenfalls auch als Rückschritt an? Auch ist die Untergliederung und Auswahl der Teile, sections und Einzelkapitel im Handbuch nicht immer ganz deutlich – ist auch dies ein Tribut an die gesamtbibelwissenschaftliche Perspektive oder könnte hier ein Lemmata-bezogenes Lexikon eine größere Breite und Differenzierung bieten? In formaler Hinsicht hätten eine analoge Untergliederung der Einzelkapitel, ein formales Verweissystem der Einzelbeiträge aufeinander sowie Anmerkungen im Text für die Leser hilfreich sein können.