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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1063–1065

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Negrov, Alexander I.

Titel/Untertitel:

Biblical Interpretation in the Russian Orthodox Church. A Historical and Hermeneutical Perspec­tive = Beiträge zur historischen Theologie, 130.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XVI, 348 S. gr. 8°. Lein. EUR 89. ISBN 978-3-16-148371-4.

Rezensent:

Magne Sæbø

Dieses Buch ist eine sehr wichtige und notwendige Studie des Neutestamentlers Alexander I. Negrov. Ihm ist unbedingt darin zuzustimmen, dass in der neueren westlichen Forschung und Literatur zur biblischen Interpretation und Hermeneutik bisher Beiträge aus der östlichen bzw. orthodoxen Tradition weithin übersehen oder gar vergessen worden sind (s. etwa S. 5). So ist es höchste Zeit, dieses Defizit zu beheben, zumal der Band höchst informativ und hilfreich ist.
N. (geb. 1966) ist mit der einschlägigen westlichen Bibelforschung wohl vertraut. Er hat seine erste Graduierung im Neuen Testament in Canada (Briercrest Biblical Seminary) und seine PhD in Südafrika (Pretoria University) absolviert. Er ist ›Research Associate‹ am Pretoria Seminary sowie ›SVS Visiting Fellow‹ am St. Vladimir Orthodox Seminary gewesen, lehrt nun in St. Petersburg als Professor für Neues Testament, ist zudem »Rector of St. Petersburg Christian University (SPbCU)« und »Director of Research Center for Theology, Leadership and Culture (St. Petersburg)«. Die vorliegende Monographie hat ihre Grundlage in seiner PhD-Dissertation, bei der Jan van der Watt als Doktorvater fungierte und Ivan Dimitrov sowie Cilliers Breytenbach die Referenten waren. So dürfte der fachliche Hintergrund N.s für die Qualität seiner Arbeit bürgen.
Das Buch stellt eine interpretationsgeschichtliche, darüber hinaus auch eine forschungsgeschichtliche Studie dar, und zwar über »the history of biblical interpretation within the history of the Russian Orthodox Church from the Kiev period of its history (tenth to thirteenth centuries) until the Synodal period (1721-1917)«. Sie be­absichtigt, »not to argue either pro or contra Russian biblical scholarship, but rather to present a coherent analysis of the es­sential elements of Orthodox biblical hermeneutics« (S. V, vgl. 6). Seine – allgemein kritische – Analyse ist differenziert und abgewogen. Die Arbeit ist gut geschrieben und vom Äußeren her befriedigend hergestellt, wird aber leider durch einige Fehlschreibungen wie falsche Wortteilungen und gelegentliche Fehler im deutschen Text (etwa S. 79, Anm. 223) etwas getrübt. Der Wert des Buches als Nachschlagewerk wird durch eine ausführliche Bibliographie so­wie durch drei Register (zu Bibelstellen, Namen und Sachen) erhöht (307-348).
Die eigentliche Analyse, die von einer kurzen »Introduction«, die auch in die aktuelle Forschungslage einführt (1-10), sowie von »Summary and Conclusions« (Kap. 7, S. 297-306) umrahmt ist, hat eine dreifältige Struktur: Zuerst wird eine allgemeine Erörterung dreier basaler Themenkreise dargeboten (und zwar Geschichte und Historiographie, Kap. 2, 11-22; »Orthodox Anthropology« und ihre »Hermeneutical Implications«, Kap. 4, S. 135-154; biblische Hermeneutik, Kap. 6, S. 278-296). Danach wird die Geschichte der »Biblical Interpretation in the Russian Orthodox Church« durch etwa ein Jahrtausend diachronisch dargestellt (Kap. 3, S. 23-134) und endlich wird die Geschichte der neueren russisch-orthodoxen Bibelinterpretation anhand der ‒ vor allem hermeneutischen ‒ Werke und Tätigkeit eines einzelnen Forschers, nämlich des Neutestamentlers Dmitrii Bogdashevskii, breit synchron exemplifiziert (Kap. 3, S. 155-277). Dabei zeigt sich, dass der Schwerpunkt der Arbeit in einer sowohl diachron als auch synchron dargelegten und gut dokumentierten Geschichtsdarstellung besteht; auch die oben erwähnten allgemeinen Erörterungen sind von dieser Geschichtsanalyse weithin mitbestimmt.
Die so von N. dargelegte Geschichte der biblischen Interpretation im Rahmen der tausendjährigen russisch-orthodoxen Kirche ist bahnbrechend, insofern als sie bisher nicht in dieser ganzheitlichen Weise analysiert und dargestellt wurde. Die mit wachsender Ausführlichkeit durchgeführte Behandlung dieses Geschichtsverlaufs umfasst vier unterschiedliche Perioden: erstens die Gründungsperiode, die »Kievan Period (Tenth to Thirteenth Centuries)«, in der das Gewicht vor allem auf der Aufnahme und Übersetzung der Bibel sowie der Schriften der Väter, aber noch nicht auf einem eigentlichen Studium der Schrift lag (24-37); zweitens »The Period of Tartar Invasion (1280-1480)«, deren schwierige Zeit durch eine fortgesetzte Arbeit am Text der Bibel geprägt war (37-45), doch »a focused concentration on the study of the Bible was not established during this time« (44); drittens die Periode von »Ecclesiastic Self-establishment (Fifteenth to Eighteenth Centuries)« (45-66), in der u. a. die Übersetzung der Gennadievskaia Bibliia vollendet wurde (1499), die den Rang als »the ›Textus Receptus‹ of the Orthodox Church Slavonic Bible« erhielt ‒ nach einer ausführlichen Revision wurde »this authorized standard version of the Bible … published in St. Petersburg in 1751 (59); viertens die Periode des 19. Jh.s unter der Überschrift »Biblical Interpretation in Nineteenth-Century Russia« (67-134), die wiederum nach der ersten (80-93) und der zweiten Hälfte (93-134) des Jahrhunderts behandelt wird. Dabei wurde die Darstellung bis 1917 ausgezogen, da zu diesem Zeitpunkt eine blühende Entwicklung (mit mehr als »40,000 schools of all kinds that depended on the Orthodox Church«) jäh abgebrochen wurde als »the Bolsheviks came to power in 1917« und die theologischen Schulen geschlossen wurden: »The closure of theological schools and emigration of the best scholars from the country destroyed the possibility of an increase in biblical scholarship« (131).
Im Laufe der Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden die Bibelauslegung und die dazugehörigen hermeneutischen Erwägungen immer im Rahmen der Kirche ausgetragen. Eine relativ selbständige Bibelinterpretation kam so richtig erst in der dritten Periode zum Tragen. Vorher war die Arbeit am Bibeltext sehr von der Exegese der Väter als auch von den Schulbildungen und -entwicklungen abhängig. Die Geschichte einer besonderen Bibelinterpretation fing mit dem Gelehrten Maxime the Greek (1470-1555) an, denn er »marks a starting point« (53), wurde aber vor allem im 17. und im 18. Jh. kräftig gefördert, als Kirchliche Akademien gegründet und eine theologische Ausbildung, die auch auf die biblischen Sprachen bezogen war, ausgebaut wurde. Dabei führten Exegeten an der Moskauer Akademie, vor allem Petr Levshin, der als Metropolit von Moskau unter dem Namen Platon (1737-1812) be­kannt ist und der u. a. neun exegetische Regeln aufgestellt hat, in denen er dem Literalsinn den Vorzug geben zu wollen scheint, ohne aber die Möglichkeit von »spiritual and mysterious meanings« auszuschließen (61-65).
Mit Platon ist man auch schon im schwierigen 19. Jh., in dem in Auseinandersetzung mit der neuen Bibelwissenschaft im Westen manches in der orthodoxen Exegese umgestaltet wurde, sie aber doch ›im Raum der Kirche‹ verblieb. Dabei waren wiederum Mos­kauer Exegeten führend – so etwa der Moskauer Metropolit Filaret (Drozdov, 1783-1867) oder der Rektor der Moskauer Akademie, Fr. Antonii, der in einer Einleitung zu den sieben ›mystical rules‹ des Tyconius (Liber Regulum) »emphasized the activity of the Spirit in the Church as an interpretative agent« und »considered the external historical data or linguistics to be only a key for understanding« (102-106).
Diese und viele andere Elemente der neueren orthodoxen Bibelforschung wurden später in den exegetischen und vor allem hermeneutischen Arbeiten von Dmitrii Bogdashevskii (1861-1933) aufgearbeitet und weiterentwickelt (155-277). Die breite Erörterung seiner Werke trägt wesentlich zu einem besseren Verständnis der orthodoxer Bibelinterpretation bei.