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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Léonas, Alexis

Titel/Untertitel:

L’Aube des traducteurs. De l’hébreu au grec: traducteurs et lecteurs de la Bible des Septante IIIe s. av. J.-C. – IVe s. apr. J.-C.

Verlag:

Paris: Cerf 2007. 239 S. 8°. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-2-204-08035-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Léonas, der an der Sorbonne promovierte und an der Bible d’Alexandrie (der französischen Septuaginta-Übersetzung) mitwirkt, hat sich in den letzten Jahren hervorragend in die Sprache der Septuaginta eingearbeitet, ein großes, noch weithin unausgeschöpftes Forschungsgebiet. Die zu besprechende Studie bündelt einige Erträge seiner ›Recherches sur le langage de la Septante‹ (OBO 211, 2005, in der ThLZ noch nicht besprochen):
Die Septuaginta, die umfangreichste Übersetzung ins Griechische, die in der Antike entstand, vereint Schriften verschiedener Hände und Zeiten. Das Sprachniveau der Einzelschriften differiert deshalb. Im Ganzen aber galt es selbst bei altkirchlichen Gelehrten wegen vieler Barbarismen, Solözismen und einer wenig glanzvollen Rhetorik als umstritten (vgl. Isidor von Pelusium, PG 78, c. 1080D–1081A, zitiert auf S. 8 und 127, sowie Theodoret, SC 57, I 247, zitiert auf S. 127). Dennoch setzte sich die Septuaginta in der Spätantike breiter durch als alle klassische Hochliteratur, ein nicht zuletzt sprachlich interessantes Phänomen.
Dieser Siegeszug war am Anfang des Übersetzungsprozesses nicht abzusehen (Kapitel 1; 15–26). L. entscheidet sich im For­schungs­konsens für hohes Alter des Pentateuch (3. Jh. v. Chr.; 16 f.) und schält aus der Legendenbildung einige nicht uninteressante Aspekte des Kontextes heraus. Gewiss ist namentlich der Arist jung (spätes 2. Jh. v. Chr.) und historisch fragwürdig; trotzdem verrät er einen wichtigen Kulturkontakt zum Griechischen, wenn er be-hauptet, die Übersetzer des Gesetzes hörten in der Etymologie des Namens Zeus dank der Akkusative »Zêna« (vgl. »zên«, »leben«) und »Dia« einen Verweis auf den Gott Israels, »durch den« alles »Leben« sei (Arist 16; 21). Später verlangt etwa Philo große Aufmerksamkeit; L. stellt exemplarisch heraus, dass er schon deshalb eine genaue Entsprechung von hebräischem und griechischem Text behaupten musste (Mos. II 40), weil er nur im Griechischen über linguistische Kompetenz verfügte (22–24).
Kapitel 2 (27–40) wendet sich daraufhin den Sonderbedingungen antiker Übersetzungstheorie zu (soweit man anhand der kargen Quellen von solcher sprechen kann). Die antike Neigung, jeder Übersetzung geringeren Rang als dem ausgangssprachlichen Text zuzuweisen, zeitigte Folgen: Im Judentum wurde die griechische Übersetzung teils durch die Behauptung einer wunderhaften Entstehung (die also guten Sinn hat; Arist usw.) Bedenken entzogen, teils in ihren Mängeln reflektiert (Sir-Prolog). Auffällig bleibt ein Unterschied zum Lateinischen. Denn obwohl Rom ab dem 1. Jh. v. Chr. viele Rahmenbedingungen jüdischen Lebens im Mittelmeerraum prägte und das Lateinische sich viel stärker für Übersetzungen öffnete als das Griechische, begann das Judentum anscheinend keine Übertragung seiner Schriften in diese Sprache. Das Griechische blieb demnach auch im Judentum der Kaiserzeit eine weit wichtigere Verbindungssprache als das Lateinische. Nebenbei erfahren wir einige bemerkenswerte Details. So geißelt die hermetische Literatur der Spätantike das Ungenügen der griechischen Sprache gegenüber dem Ägyptischen (Corp Herm 16,1) und fand sich gleichwohl ein Papyrus des 2.–4. Jh.s, der eben Hermes die Übersetzung des Hebräischen ins Griechische und Ägyptische zuweist (26).
Kapitel 3 (41–61), 4 (63–87) und 5 (89–112) erschließen die Welt der Übersetzer und ihre Vorstellung von »heiliger Sprache«: Der Arist (2. Jh.) und nochmals Est 10,31 (1. Jh. v. Chr.) schlagen eine Brücke zwischen Alexandria (den Ptolemäern) und Jerusalem. Anscheinend wird die Ausgangssprache des Übersetzungswerkes be­son­ders mit Jerusalem verbunden. Sie gilt als chaldäisch, hebräisch oder aramäisch (syrisch), ein Indiz für die damals empfundene Verwandtschaft dieser Sprachen oder Kompetenzprobleme bei den Übersetzern (vgl. zu Josephus 49–52) sowie für die Faszinationskraft alles »Chaldäischen« (vgl. 52–58 zu Philo). Schon Jub 12,25–27 versteht das Hebräische darüber hinaus als Sprache der Schöpfung (59, dort auch die jüngeren rabbinischen Quellen). Das werden nicht zuletzt Liebhaber Johann Georg Hamanns mit Interesse wahrnehmen (L. erwähnt diese Langzeitwirkung nicht).
Für das Hebräische als »heilige Sprache« finden sich wesentliche Indizien in der Umwelt der Septuaginta, am gewichtigsten TestNaph hebr 8,6; deutsch zugänglich in JSHRZ III 1, 156). Umso mehr fällt auf, dass die LXX-Schriften zwar zahlreiche Aramaismen (»sabbata«, »pascha« …) und Hebraismen enthalten (85–87: hilfreiche Listen), aber an dieser Meta-Reflexion nicht teilnehmen (was über L. hinaus zu prüfen und reflektieren wäre). L.s Erörterung erhält dadurch zwei Pole. Zum einen spürt er Hinweisen auf himmlische, Engels-Sprache etc. in jüdischen Quellen (in der Regel jenseits der LXX) nach, zum anderen konkret den Indizien für Hebräisch und Aramäisch in der Septuaginta. Er prüft zudem die Alphabete bis Euseb und Hieronymus (92–96 bzw. 107) und findet heraus, dass die Übersetzer in der Regel das Hebräische in aramäischem Kontext wahrnehmen. Wir müssen also die hebräische und hebräisch-aramäische Sprachgeschichte hoch in Anschlag bringen, wenn wir den Text der Schriften Israels erfassen wollen, wie er in der hellenistischen Zeit gelesen wurde. Das bedarf unbedingt der weiteren Erforschung (L. versucht, über J. Joosten, On the LXX Translators’ Knowledge of Hebrew, in S. A. Taylor ed., X Congress of the IOSCS, 2001, 165–179, hinauszuführen). Wünschenswert über L. hinaus wäre namentlich eine hervorgehobene Untersuchung des alphabetischen Psalms LXX Ps 118/MT 119.
Kapitel 6 (113–150) wechselt zu den antiken Lesebedingungen, wie sie die Forschung spätestens seit Friedrich Nietzsche und Eduard Norden (114 f. u. ö.) beschäftigen. Gelesen wurde vornehmlich laut, so dass Aspekte der Rhetorik von vornherein einen anderen Stellenwert erhalten als bei der heutigen lautlosen Lektüre. Allerdings sind die Quellen, die sich für den biblischen Bereich damit beschäftigen, erst altkirchlich und argwöhnen gelegentlich doch eine lautlose Lektüre. Zudem gab es Unterschiede bei der lauten Lektüre – manche Psalmen könnten gesungen worden sein – und legt der Stil vieler Prosatexte die Wahrnehmung nur mit dem Auge nahe (125 f., unter anderem zum Pentateuch). Der antike Sachverhalt ist also hochkompliziert. Dennoch spricht viel dafür, dass die Septuaginta, wo sie gelesen wurde, zunächst fremd klang. Das wurde verstärkt dadurch, dass das Griechische keine Scheu hatte, »barbarische« Namen neu zu fassen (vgl. Plato, Kritias 113 A–B). Solche Gräzisierungen finden sich in der LXX aber nur partiell (ein Sachverhalt, der gründlicher als bei L. geschehen geprüft und er­forscht werden müsste, angesichts der Tausenden von Na­men in der LXX aber sehr aufwändig wäre), in der Rezeption vermehrt (z. B. bei Josephus; 130). Den Stil insgesamt glättete das nicht, aber er ließ sich als einfache, der Offenbarung gemäße Sprache verteidigen (Spuren dessen finden sich ab Tatian, Or Graec 29; 135). Dunkle Aussagen verwiesen in der alten Kirche auf die Tiefe der Schrift (140–149). Geheimnis der Schrift und Suche nach Einfachheit um der Le­ser willen vereinten sich schließlich in der Erklärung des Stils (149 f.).
Übersehen wir die Grenzen dieses Kapitels nicht. Die Rhetorik der Septuaginta ist noch kaum erforscht (weshalb L. nicht tiefer in sie eindringt), und L.s rascher Übergang zu den Kirchenvätern (die in der französischen Septuagintaforschung allgemein die größte Beachtung finden) provoziert die Frage, ob die Bedingungen in der Frühzeit der Übersetzung und jüdischen Rezeption nicht vom Septuagintatext aus noch genauer verfolgt werden müssten.
Die letzten Kapitel begeben sich zu den Inhalten der Septua­ginta. Ein heiliger Text stellt im antiken Denken vor eigene deutende und hermeneutische Herausforderungen (Kapitel 7; 150–162), verlangt eine Reflexion auf Sprache und vom Text entworfenen Leser (Kapitel 8, 163-179, in einem weiten Bogen bis Plotin), erlaubt schließlich eine große Bandbreite von Diskursivität und Narrativität bis hin zur Gesprächsfähigkeit mit der Philosophie etc. (Kapitel 9, 181–228).
Am Ende schließt sich der Bogen. Der große Erfolg der Septuaginta verdankt sich, wie deutlich wird, nicht zuletzt ihrer hieratischen Eigentümlichkeit. Abweichungen von der mittleren, allgemeinen Sprache verwandeln sich im religiösen Bereich von einer Schwäche in eine Stärke (vgl. bes. 226–228).
All das ist plausibel dargelegt und verrät große Kenntnis antiker, frühjüdischer und oft noch mehr altkirchlicher Quellen. Dennoch werden durch L. zugleich die vielen noch bestehenden Lücken in der Erforschung der Septuaginta bewusst: Die Sprache und Rhetorik der Septuaginta in der Vielfalt ihrer Schriften bedarf unbedingt genauerer Erhebung, ebenso ihre Formation aus vielen, zunächst je für sich überlieferten Einzelschriften zu einer trotz disparater Einzeltexte wie eine Gesamtheit wirkenden Sammlung. Erst wenn die Einzeldaten sich zusammenfügen, wird sich die große Linie bestätigen, die L. mit Hilfe von vielen die Septuaginta umgebenden Texten erhebt.