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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1053–1055

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Rubenstein, Jeffrey L. [Ed.]

Titel/Untertitel:

Creation and Composition. The Contribution of the Bavli Redactors (Stammaim) to the Aggada.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. VIII, 458 S. gr.8° = Texts and Stud­ies in Ancient Judaism, 114. Lw. EUR 124,00. ISBN 3-16-148692-7.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Bereits in seinen 1999 und 2003 erschienenen Büchern »Talmudic Stories. Narrative Art, Composition, and Culture« und «The Cul­ture of the Babylonian Talmud« (beide John Hopkins University Press) hatte der Herausgeber des zu besprechenden Bandes auf den be­deutenden, bislang nicht hinreichend erforschten Anteil der Re­daktoren des Babylonischen Talmud (Bavli), der sog. »Stammaim« (ca. 450–700), hingewiesen. Der von David Halivni und später, differenzierter auch von Shamma Friedman in die Forschung eingeführte Begriff »Stammaim« leitet sich von dem Adjektiv »stam«, wörtlich »unbestimmt«, d. h. anonym ab. Mit dem Ausdruck »stam talmud« werden in der Gemara all jene Aussagen bezeichnet, die im Unterschied zu »memrot« nicht namentlich einem Gelehrten zu­geschrieben werden. Dieses anonyme literarische Stratum des Talmud Bavli findet sich in sämtlichen literarischen Einheiten (sugyot) dieses Hauptwerkes des rabbinischen Ju­dentums. Der aus Beiträgen einer Tagung in New York 2006 hervorgegangene Band kann schon jetzt als klassische Sammlung von grundlegenden Forschungsbeiträgen erachtet werden.
Nach einer ausführlichen Einleitung in das Thema, in der die wichtigsten bisherigen Forschungsansätze zusammengefasst werden, widmet sich der erste Teil des Bandes Texten und Topoi: Gleich der erste Beitrag von Alyssa M. Gray, The Power Conferred by Distance from Power: Redaction and Meaning in b. A.Z. 10a–11a, analysiert einen interessanten Komplex von Erzählungen über Antoninus und Rabbi sowie andere Konvertiten wie den berühmten Onkelos. Ein Fazit dieser Untersuchung der sorgfaltig redaktionell bearbeiteten sugya ist: Umso weiter ein rabbinischer Protagonist von der Macht eines fremden Herrschers oder eines geistigen Zentrums entfernt ist, desto größer ist seine spirituelle Kraft (64). Die Redaktoren des Bavli sahen daher in der Entfernung vom paläs­tinischen Zentrum des Judentums ihrer Zeit keinen Nachteil, im Gegenteil. Die Geschichte von Onkelos dem Proselyten wird von den Redaktoren des Bavli dahingehend bearbeitet, dass sie die für das babylonische Judentum typische größere Offenheit gegenüber Konvertiten belegt.
Der grundlegende Beitrag von Shamma Friedman, A Good Story Deserves Retelling: The Unfolding of the Akiva Legend, wurde bereits im Jewish Studies Internet Journal (frei zu­gänglich) veröffentlicht. Wichtig an ihm ist nicht nur die nuancierte und detailreiche Untersuchung biographischer Aggadot über einen der zentralen Rabbinen der tannai­tischen Zeit, sondern auch die dif­fe­renzierte Kritik an bestehenden Modellen (und Terminologie) be­züglich stammai­tischer Redaktion (vgl. bereits 73, Anm. 15: die Verwendung des Be­griffs Stammaim für Periodisierung und Funktion verringert die Klarheit der Argumentation Halivnis). Beachtenswert an dem Aufsatz ist noch eine zu einem Appendix an­gewachsene Anmerkung zur lexikalischen Bedeutung des ara­mäischen Wortes »HWY«, »Studieren«.
Jay Rovner, »Rav Assi had this Old Mother«: The Structure, Meaning, and Formation of a Talmudic Story, untersucht das »Miniaturdrama« in bQid 31a–b, einer auf Grund von Yerushalmi-Material erweiterten Erzählung über einen Rabbi, der seine alte Mutter ehren möchte, doch schließlich vor ihren Ansprüchen kapitulieren muss. Die Erzählung wurde nach Rovner von einem »späten stammaitischen Redaktor« im Kontext der Bearbeitung eines längeren Ab­schnitts über die Frage »bis wann man Vater und Mutter ehren müsse« eingefügt. Als »späten Stamma« bezeichnet er einen »second level redactor«, der die Arbeit von vorangehenden anonymen Redaktoren aufnähme. Auch dieser Beitrag wird durch einen aus einer Fußnote erwachsenen Appendix zu der Formel »wenn ich gewusst hätte« abgeschlossen.
Leib Moscovitz, »›The Holy One Blessed be He ... Does Not Permit the Right­eous to Stumble‹: Reflections on the Development of a Remarkable BT Theologoumenon«, analysiert im Licht der neueren Diskussion um den Anteil der Stammaim an der Redaktion des Bavli einige Passagen (vor allem aus bHullin), in denen die rabbinische Doktrin tradiert wird, ein Gerechter (Tzaddiq) könne nicht scheitern. Durch diese Lehre haben sich die Rabbinen vor der Bestrafung für unbeabsichtigt begangene Sünde geschützt. Diesen Beitrag be­schließt ein Ap­pendix zu Struktur und Inhalt von yDem 1,2 (21d).
Die Studie von Catherine Hezser, »›The Slave of a Scholar is Like a Scholar‹: Stories About Rabbis and Their Slaves in the Babylonian Talmud«, knüpft an ihre wichtige Monographie »Jewish Slavery in Antiquity« (2005) an. Die in beide Talmudim unterschiedlich integrierten Sklaven-Erzählung bilden vor dem Hintergrund unterschiedlicher redaktioneller Konzepte eine aufschlussreiche Quelle für das Verständnis der Unterschiede zwischen Bavli und Yerushalmi in ihren jeweiligen kulturellen Entstehungsräumen.
Lawrence Schiffman, »Composition and Redaction in Bavli, Pereq Heleq«, untersucht in einer Skizze, die weiterer Ausführung bedürfte, Kapitel 11 von bSanhedrin 90a–92a, einen wegen der in ihm angeschnittenen fundamentalen Themen wie die Auferstehung der Toten und ihre Herleitung aus der Tora schon Maimonides zu einem Kommentar inspirierenden Abschnitt.
Der zweite Hauptteil des Bandes widmet sich der Historiographie:
Adiel Schremer analysiert die »Stammaitic Historiography« und ihren Anteil an dem allgemeinen Geschichtsbild der Epoche. Daniel Boyarin, »The Yavneh-Cycle of the Stammaim and the Invention of the Rabbis«, weist nach, dass das verbreitete Bild von Yavne als dem Ort der pluralistischen Sammlung der rabbinischen Bewegung erst durch die Stammaim geschaffen wurde.
Der abschließende dritte Teil fokussiert Theorie und Methode: Devora Steinmetz, »Agada Unbound: Inter-Agadic Characterization of Sages in the Bavli and Implications for Reading Agada«, versucht aufzuzeigen, dass eine adäquate Beurteilung der stammaitischen Anteile im Bavli erst vor dem Hin­tergrund ihrer den gesamten Talmud übergreifenden Redaktionstätigkeit vorgenommen werden kann. David Halivni, »Aspects of the Formation of the Talmud«, und Joshua Levinson, »The Cultural Dignity of Narrative«, ist die übersetzte und erweiterte Fassung der Einleitung in den vorletzten Band seines opus magnum »Meqorot u-mesorot, Bava Batra«, Jerusalem 1993, in der er seine (vorläufigen) Ansichten über den Anteil der Stammaim am Bavli dargelegt hat. Für eine nicht des Neuhebräischen mächtige Leserschaft ist dieser Beitrag wichtig, wenn auch mittlerweile durch einen weiteren Band aus der Feder des Autors teilweise wieder überholt. Joshua Levinson, »The Cultural Dignity of Narrative«, untersucht drei exegetische Erzählungen im Bavli und ihre Vorstadien im Midrash (bSot 12b; bKer 5b; bMeg 16a). Yaakov Elman, »The World of the ›Sabboraim‹: Cultural As­pects of Post-Redactional Additions to the Bavli«, berücksichtigt für die Datierung später Schichten des Bavli religionsgeschichtliches Vergleichsmaterial, vor allem zoroastrische Texte aus Babylonien. Jeffrey L. Rubenstein, »Criteria of Stammaitic Intervention in Aggada«, bietet noch einmal eine Zusammenfassung der methodischen Probleme und Einsichten der neueren Forschung. Anhand von sieben Kriterien, die von Sh. Friedman auf Grund halakhischer Texte für stammaitische Bearbeitungen erarbeitet wurden, zeigt er deren Zuverlässigkeit auch für die Analyse agga­discher Passagen auf.
Trotz des sich durch alle Beiträge des Bandes ziehenden beachtlichen Erkenntnisfortschritts hinsichtlich des wichtigen Anteils der Stammaim an der Verarbeitung älterer rabbinischer Traditionen im Bavli bleiben viele Fragen offen bzw. werden nur gestreift: Wie ist etwa das Verhältnis zu den Savoräern (savora’im), den Lehrern nach den Amoräern (siehe Iggeret Rav Sherira §§ 190 f.), vor dem Hintergrund der Annahme mehrerer Schichten von stammatischen Redaktionen zu bestimmen? Sind Stammaim und Savoräer in eins zu setzen? Oder lässt sich die Arbeit der Savoräer am Bavli in einigen Passagen bestimmter Traktate deutlicher festmachen? Wie lässt sich das Verhältnis der Stammaim zu den Redaktionsschichten in sog. außerkanonischen Traktaten bestimmen? Waren die gleichen Stammaim an der Redaktion und Kommentierung von Traktaten wie z. B. Massekhet Kalla oder Soferim beteiligt? Wie ist zu erklären, dass die gaonäischen Schriften auf die Stammaim nicht eingehen, aber deren angeblich typische Terminologie rezipierten? Der die Talmud-Forschung gewiss noch lange anregende Band ist recht sorgfältig redigiert (siehe aber 233.256.272) und bietet am Schluss die Indizes, die die notwendige Weiterarbeit an den analysierten Texten und den offenen literarischen Fragen in Zukunft erleichtern werden.