Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1049–1051

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gotzmann, Andreas, and Christian Wiese [Eds.]

Titel/Untertitel:

Modern Ju­daism and Historical Consciousness. Identities, Encounters, Perspectives.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. XXII, 658 S. gr.8°. Geb. EUR 149,00. ISBN 978-90-04-15289-2.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Der vorzustellende Sammelband, Resultat eines vom Erfurter Lehrstuhl für Judaistik organisierten internationalen Symposiums im Berliner Jüdischen Museum im Jahre 2003, versammelt Beiträge von Forschern aus dem deutschsprachigen und angelsächsischen Raum und Israel (allerdings nur in englischer Sprache). Die 21 Aufsätze beschäftigen sich, von den Herausgebern zu fünf Hauptkapiteln zusammengefasst, aus unterschiedlicher Perspektive mit dem Thema des komplexen Verhältnisses zwischen dem modernen Judentum und dem historischen Denken in Europa, den Vereinigten Staaten und Israel von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Dabei geht es, nach einer ausführlichen Einleitung der Heraus­geber, zunächst um das Entstehen eines neuen historischen Paradigmas im 18. und 19. Jh. (Teil I), sodann um die Begegnung der jüdischen Historiographie mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie Theologie, Literaturwissenschaft, Soziologie und Phi­ losophie (Teil II) und die Popularisierung und Ideologisierung jü­discher Geschichte und Geschichtsschreibung (Teil III) sowie schließlich um den Einfluss unterschiedlicher jüdisch-religiöser oder jüdisch-politischer bzw. ideologischer Identitätskonstruktionen auf das Verständnis der jüdischen Geschichte (Teil IV). Ein letzter Teil fasst schließlich neue theoretische und methodologische An­sätze zur Erforschung und zum Verständnis jüdischer Ge­schichte ins Auge, etwa im Hinblick auf den jüdischen Feminismus (Susannah Heschel: »The Impact of Feminist Theory on Jewish Studies«, 529–548) oder kulturwissenschaftliche Theoriebildungen (Teil V). Eine ausführliche Bibliographie sowie zwei Indizes (Sach- und Namensregister) runden den Band ab. Ein Autor (Gershon Greenberg), der einen aus theologiegeschichtlicher Hinsicht inte­ressanten Text beigesteuert hat (»Religionswissenschaft and Early Reform Jewish Thought: Samuel Hirsch and David Einhorn«, 110–144), ist in der Kontribuentenliste vergessen worden und soll deshalb hier Erwähnung finden, zumal dieser Beitrag hinsichtlich der reformjüdischen Beschäftigung des 19. Jh.s mit den paganen Re­ligionen, mit dem Hinduismus, Buddhismus und der altägyp­tischen und persischen Religionswelt interessante und weithin un­bekannte Perspektiven aufweist.
Wie bei einem Sammelband nicht anders zu erwarten, be­kommt der Leser Beiträge mit je unterschiedlichem Duktus und unterschiedlicher Tiefenschärfe geboten. Sehr quellenbezogenen Aufsätzen, die zudem eine Fülle von Sekundärliteratur verarbeiten (etwa Richard S. Sarason: »Rabbinic Literature, Rabbinic History, and Scholarly Thinking: Wissenschaft and Beyond«, 93–109), stehen Texte gegenüber, die zunächst eher wie Parerga wirken (etwa Aviezer Ravitzky, »Dimensions and Varieties of Orthodox Judaism«, 391–416). Die These des letztgenannten Aufsatzes, dessen Anfangsseiten etwas harmlos plaudernd daherkommen (sozusagen nach dem Motto »was ich schon lange einmal sagen wollte«), hat es freilich in sich: Der Jerusalemer Gelehrte, ein intimer Kenner der unterschiedlichen Strömungen des religiösen Judentums seit Be­ginn der Neuzeit, unternimmt nicht mehr und nicht weniger, als eine Grundannahme der neueren jüdischen Historiographie in Frage zu stellen. Seit den Arbeiten des Altmeisters der Orthodoxieforschung Jacob Katz gilt es nämlich als Allgemeingut, dass die jüdische Orthodoxie das Produkt einer konservativen Reaktion auf die Moderne sei. Ravitzky beharrt freilich auf der Gegenprobe: Er fragt, was die jeweils »Anderen« (das Reformjudentum im 19. Jh., der säkulare Zionismus im heutigen Israel), deren innerjüdische »Überwindung« nach dieser These zur Entstehung der Orthodoxie geführt habe, eigentlich gemeinsam hätten; dann plädiert er dafür, sich mit dem orthodoxen Selbstverständnis auseinanderzusetzen, das von einer Kontinuität von alt und neu ausgeht (398) und in diesem Sinn ein Fortleben des »wahren«, des »traditionellen« Judentums in der Orthodoxie postuliert. Analogieweise verweist Ravitzky auf die Entwicklung der aristotelischen Philosophie und des neoplatonischen Mystizismus im Mittelalter – jeweils »within the tradition« (408). Zugleich schreibt er aber: »(R)evolutions can evolve from the core of traditionalism« (416). Gern hätte man ge­wusst, ob und wie auf dem Berliner Symposium zum Thema »Essentialismus« debattiert wurde! Auf andere Weise überraschend ist Jonathan Hess’ Analyse der geschichtsphilosophischen Voraussetzungen von Mendelssohns Judentumsverständnis in dessen Hauptwerk »Jerusalem« (»Moses Mendelssohn and the Polemics of His­tory«, 3–27). Der Autor kann zeigen, wie der Philosoph der jüdischen Aufklärung zwischen der protestantisch inspirierten Kritik an der Hebräischen Bibel (zugleich einer von antijüdischen Vorurteilen begleiteten Abwertung von »Altem Testament« und Judentum) und einer neuen historischen Herausstellung der »Jüdischkeit« Jesu (diese sollte bei Reimarus das positive Christentum at­ tackieren) lavieren musste und dabei an einem im Grundsatz eigentlich unhistorischen Verständnis des Judentums festhielt.
Die Beiträge des Bandes sind durchweg auf hohem Niveau ge­schrieben. Immer wieder freut sich der Rezensent an neuen Konstellationen und Entdeckungen, wenn etwa der Tübinger Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher der deutsch-jüdischen Wirkungsgeschichte von Goethes Konzeption einer »Weltliteratur« nachgeht (299–325) oder wenn Laurence J. Silberstein den aktuellen »Postzionismus« in Israel mit postmodernen Theoriedebatten korreliert (445–471). Bei alledem handelt es sich um ein gelungenes und gut lesbares wissenschaftsgeschichtliches Dokument, das künftigen Generationen Zeugnis geben wird von einer Epoche, die auf hohem sachlichen und sprachlichen Niveau globalisieren und mit leichtem Bedauern auch wissen konnte, welchen Preis sie dafür bezahlt – gerade auf dem Gebiet der jüdischen Studien, auf dem es nicht zuletzt auf das Besondere, das Nicht-Universalisierbare an­kommt. Vielleicht unwissentlich legt Susannah Heschel davon Zeugnis ab, wenn ihre Darstellung den Eindruck erweckt, als sei der Einfluss Foucaults auf die jüdischen Studien mit seiner Übersetzung ins Englische zu datieren (531).
Wie sieht es denn mit der jüdischen Geschichtsschreibung in Frankreich aus? Zu Heschels gewagter These, dass die halachischen Reinheitsbestimmungen im Mittelalter, die menstruierenden Frauen den Zugang zur Synagoge verwehrten, als Rebellion (vgl. 548), gar als »Streik« (534) von Frauen zu interpretieren seien, die ihren Synagogenbesuch unter Protest eingeschränkt hätten, wäre immerhin Evyatar Marienbergs Untersuchung zur Geschichte der reinheitsrechtlichen Bestimmungen zu konsultieren (E. Marienberg, Niddah. Lorsque les juifs conceptualisent la menstruation, Paris 2003)! Dass Mendelssohn und Lessing in den Zitaten, auch bei Autoren, die ausweislich ihrer Anmerkungen sprachkundig sind, englisch reden und dass »Bildung« und »Erziehung« un­unterschieden »education« heißt, wird das breitere Publikum verschmerzen – die Fachleute lesen die Texte ohnehin im Original. Wenn Abraham Geiger, nicht ohne feministische Süffisance, allerdings das Bonmot in den Mund gelegt wird »(w)e became men …, we wanted Wissenschaft« (547), stutzt der Leser. An dieser einen Stelle hätten wir Susannah Heschel doch gern gefragt, ob im Original von »Männern« oder von »Menschen« die Rede ist.