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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

294–296

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Klaus

Titel/Untertitel:

Homiletik. Ein Handbuch für kritische Zeiten.

Verlag:

Regensburg: Pustet 1994. 264 S. gr.8°. Pp. DM 49,80. ISBN 3-7917-1438-4.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Der Vf. hat mit diesem Buch nach eigener Auskunft weder einen bestimmten homiletischen Ansatz favorisieren noch ein Lehr- oder Arbeitsbuch vorlegen wollen (15). Ausgestattet mit philosophischen (Promotion) und fundamentaltheologischen (Habilitation) Qualifikationen versucht er hingegen deutlich zu machen, daß Homiletik sachgemäß nur als "komplexe Disziplin" (15) gelehrt und gelernt werden kann. Dem Vf. geht es mithin um die "Klärung von Grundfragen" der Homiletik, "mit deren Problemgehalt jede Predigerin, jeder Prediger vertraut sein und die sie bzw. er sich von Zeit zu Zeit immer wieder... beantworten muß, wenn der Dienst am Tisch des Wortes verantwortlich und kompetent ausgeübt werden soll" (15). Demnach ist das Anliegen des Buches letztlich in der Befähigung zu homiletischem Argumentieren zu sehen.

Mit dieser Perspektive zielt die vorgelegte Arbeit auf eine offenkundige Lücke in der homiletischen Literatur. Predigtentwürfe im Rahmen theologischer Examen zeigen beispielsweise ebenso wie homiletische Debatten auf Pfarrer-Fortbildungstagungen an Evangelischen Akademien, daß zwar gewisse homiletische Grundsätze durchaus geläufig sind; die theologische Horizontbestimmung für die Notwendigkeit bzw. Legitimität gerade dieser oder jener homiletischen Akzentzuierung und deren Beurteilung mit "außerhomiletischen" Argumenten erweist sich aber weitgehend als schwieriges Unterfangen. Häufig werden so gelungene Leitfäden wie Hans Werner Dannowskis "Kompendium der Predigtlehre" (1985) oder programmatische Grundsatzformulierungen von Karl Barth über Ernst Lange bis hin zu Manfred Josuttis wie Kochbuchliteratur gehandhabt, was allzu häufig in theologisch indifferentes und homiletisch unreflektiertes Predigen mündet ­ oft nach der Devise: Von allem ein bißchen, aber von keinem zu viel. Dieses jedoch im Grunde unumsetzbare Unterfangen führt gerade nicht zur Erarbeitung einer methodisch begründeten und theologisch legitimen Predigtkultur, sondern zur Profillosigkeit der Kanzelrede.

In Anbetracht solcher Defizite ist ein Buch wie das von Müller vorgelegte überaus zu begrüßen. Es entspricht der vor nunmehr fast 60 Jahren von Wolfgang Trillhaas vorgetragenen Mahnung, die Predigt möge "für die Theologie nicht der verachtete Ort der ’Anwendung’ anderwärts gewonnener besserer Erkenntnisse" sein, sondern als "eine Quelle theologischer Fragen" verstanden werden (Vom Leben der Kirche. Ein Jahrgang Predigten, 1938, 243). In welcher Weise und in welchem Maße wird das Buch diesem Unterfangen gerecht?

Von Müllers "Homiletik" kann durchaus erwartet werden, daß sie der oben skizzierten Praxis schon insofern widersteht, als sich der Leser mit einer enormen Fülle an Kontexten auseinandersetzen muß (die der Vf. als homiletische Kontexte zu kennzeichnen sucht), bevor er sich die Ratschläge des Vf.s zu eigen machen kann. Dabei wird es ihm freilich nicht immer leicht gemacht. Zwischen den z. T. sehr langen außerhomiletischen (z. B. fundamentaltheologischen, humanwissenschaftlichen) Anläufen und den daraus abgeleiteten Ratschlägen vermißt man allzu oft ein Stück expliziter homiletischer Zwischenreflexion. Der Leser wird mit sehr vielen "Zutaten" konfrontiert, ohne daß das Ganze gewissermaßen "zum Kochen" gebracht wird, d. h. in seiner homiletischen Konsequenz hinreichend erörtert wird. Dies erschwert ­ um im Bild zu bleiben ­ die Verdaubarkeit einer ganzen Reihe von Reflexionsgängen, die zu unbestimmt mit homiletischen Fragen in Zusammenhang gebracht werden.

Das ist vor allem dann irritierend, wenn der Vf. mit verheißungsvollen Überschriften die Neugierde des Lesers weckt, dann aber vergleichsweise vage und allgemeine Auskünfte gibt: Vgl. z. B. die "Option für hermeneutische Weite" (62 f.), die Absätze unter "Elementare Instrumente der Redekunst" (bes. 192-199) oder den vielfachen Anlauf (84-88) zur homiletischen Relevanzbestimmung von Metaphern, die schließlich doch in ein mageres Resümee (90) mündet. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Kapitel Hermeneutik (109-137), in dem nach ausgiebigen Gadamer-Repliken und dem Verweis auf kritische Potentiale ein karges "theologisches Postskript" (136) geboten wird (ein homiletisches hätte man erwartet), das leider hinter einschlägigen Auskünften zu Fragen praktisch-theologischer Hermeneutik zurückbleibt.

Daß der Vf. letztlich als Philosoph bzw. Fundamentaltheologe und weniger als Homiletiker zu schreiben scheint, ist nicht prinzipiell zu bemängeln, erweist sich aber dort als mangelhaft, wo sich ­ im Verzicht auf eine entschlossenere Integration bereitliegender homiletischer Grundsatzüberlegungen ­ die erwünschte und notwendige Dramatisierung und Zuspitzung homiletischer Probleme nicht einstellen will.

Für die Relevanz des Buches auch für evangelische Prediger spielt es kaum eine Rolle, daß es aus der Feder eines katholischen Theologen stammt. Sofern der Vf. auf eine explizit katholische Profilierung seiner Arbeit weitgehend verzichtet, scheint ihm an einem ökumenischen Zug seines Buches durchaus gelegen zu sein. Als protestantischer Benutzer vermißt man freilich bei der Sichtung des homiletischen Argumentationsrepertoires gewichtige Zeugen, deren Namen mit bestimmten Schwerpunkten und klassischen Themen homiletischer Theoriebildung so fest verbunden sind, daß deren Ignorierung schlechthin unverständlich ist.

Nur zwei Beispiele: Bei der Thematisierung des Subjektseins des Predigers (146-177) wird Otto Haendler nicht einmal erwähnt (wie auch nirgends sonst im gesamten Werk); das Kapitel "Vom Hören" unterschlägt die homiletischen Prämissen von Ernst Lange, der nicht einmal im Literaturverzeichnis erscheint, und formuliert stattdessen kurzerhand das "Nachrichtenquadrat" nach Schulz von Thun zu einer "Ohrenkunde" (236-240) um. Das ist zwar originell und im Detail auch überzeugend, wiederholt aber im wesentlichen bereits unter dem Stichwort "Kommunikation" Erörtertes. Der interpersonale Kommunikationsprozeß mit all seinen Interaktionsregeln und die Lebenswirklichkeit der Hörer als realer Kommunikationsumstand der Predigt kommen dabei zu kurz.

Aber nicht nur homiletische, auch entscheidende philosophische Positionen werden zugunsten von z. T. eher peripheren Literaturverweisen ausgeblendet. So ist es beispielsweise nicht zu verstehen, daß im Zusammenhang der philosophischen Aufbereitung des Themas Kommunikation (205-209) ­ gar im Sinne von "Herstellung eines Gemeinsamen" ­ Karl Jaspers gänzlich vernachlässigt wird, der im 20. Jh. wie kein anderer die existentiellen Funktionen und Dimensionen von "Kommunikation" herausgearbeitet hat. Ähnliche Defizite ließen sich u. a. für die "Ästhetik" anzeigen.

Durch solche Flüchtigkeiten geht bei entscheidenden Grundfragen ein beträchtliches Potential argumentativer Schärfe und Zuspitzung verloren, was ganz und gar nicht mit dem Vorsatz des Vf.s zusammengeht, die Entwicklung der homiletischen Argumentationskompetenz seiner Leser im Blick zu haben.

Die homiletische Auseinandersetzung des Vf.s stellt sich m.E. allzu häufig als wohlwollend-kritischer Gesprächseinwurf gegenüber Rolf Zerfaß (28 Referenzen) dar, der offensichtlich sein Lehrer war. Wenngleich Zerfaߒ gediegene homiletische Schriften (auch im protestantischen Bereich) zu den meistzitierten Titeln der Predigtlehre gehören, hat der fortwährende Dialog des Vf.s mit Zerfaß bisweilen etwas allzu Internes (181 u.ö.); eine Verbreiterung und Vertiefung des homiletischen Theoriebodens wäre an vielen Stellen hilfreicher. Auch werden an Schaltstellen der Arbeit wiederholt offenkundige Lieblingstheologen ins Gespräch gebracht ­ Thomas von Aquin im Zusammenhang der Definition von Predigt und des "leitenden Vorverständnisses" der Homiletik (22 f. u.ö.) oder Karl Rahner im Kontext homiletisch-ästhetischer Reflexionen (229) ­, statt daß die homiletische Debatte um die entsprechenden Prämissen hinreichend einbezogen und bewertet würde.

Das Buch zeichnet sich durch eine sehr dicht angelegte Struktur aus, deren Aufbau freilich etwas gestreut, manchmal assoziativ wirkt; die eigenwillige, kettenförmig aufgereihte Schlagwort-Gliederung, die bald subordinierende, bald attributive Funktionen hat, entbehrt m. E. bisweilen der Stringenz, was sich insbesondere für den nachschlagenden, gezielten Gebrauch des Buches als nicht sehr förderlich erweisen dürfte.

Unter dem Motto "Worum es gehen soll" (17-25) werden zwar ­ bei bis zu fünf Gliederungspunkten pro Seite ­ die Reflexionskomplexe der Arbeit abgeschritten; weshalb aber unkonventionellerweise Hermeneutik ­ Meditation ­ Predigt-Subjekt ­ Rhetorik ­ Kommunikation ­ Kerygma ­ Hörer usw. (23 f. bzw. 109-248) aufeinanderfolgen sollen, ist nicht überzeugend begründet worden. Die Abfolge der Reflexionsperspektiven in dieser Anordnung birgt insofern Probleme, als sie eine sinnvolle Vernetzung der Themenschwerpunkte häufig eher erschwert als begünstigt. Wenn z. B so fundamentale Aspekte wie "Kommunikation" und "Kerygma" fast ans Ende der Darlegungen gerückt werden, ist es schwierig, ihre faktische Relevanz etwa für die Rolle des Predigtsubjekts oder den hermeneutischen Prozeß darzulegen.

Nach diesen kritischen Beobachtungen, die sich weitgehend auf das didaktische Arrangement und die Auswahl des einbezogenen Materials beziehen, darf nun auch nicht unerwähnt bleiben, daß das Buch nicht nur im Hinblick auf seine Grundkonzeption (s. o.) zu begrüßen, sondern schließlich auch aufgrund vieler Einzelergebnisse, treffsicher formulierter Einsichten und inopportuner Thesen empfehlenswert ist: Dazu zähle ich das Insistieren auf dem unaufgebbaren Beieinander von Bezeugung und Begründung (55, 95 u.ö.), die Bestreitung der Rechtmäßigkeit einer vom Schreibtisch auf die Kanzel geratenen Exegese (52), die umsichtigen, äußerst klaren Überlegungen im Hinblick auf eine "Diskrete Selbstthematisierung" (155-157) u. a. m. Vieles hiervon kann direkt in die homiletische Ausbildung übernommen werden und potentiellen Leser unmittelbar von Nutzen sein.

Dessenungeachtet möchte man bei einigen, oft am Rande aufgestellten Thesen widersprechen, etwa, wenn im Zuge der Verhältnisbestimmung zwischen Altem und Neuem Testament die Aufgabe der Predigt kurzerhand auf die Auslegung der Bibel reduziert (73) oder behauptet wird, die an Drewermann orientierte Erschließung der "Eigenbedeutung eines im biblischen Kontext möglicherweise durchaus als historisch firmierten Symbols" sei die Methode, "die die geistliche Schriftauslegung sehr erfolgreich vor jedweder (sic!) Eisegese" bewahre (63). Beide Fragestellungen werden in der homiletischen Debatte weitaus differenzierter beantwortet.

Alles in allem hat der Vf. eine Arbeit vorgelegt, die in ihrem Bemühen, den Leser an der Erarbeitung homiletischer Fragestellungen zu beteiligen, im Spektrum aktueller homiletischer Literatur unzweifelhaft einen Gewinn darstellt. Konzeptionell birgt das Buch einige Schwächen, die aber ­ insbesondere durch eine stärkere Berücksichtigung bereits erarbeiteter homiletischer Grundlagen ­ in einer zweiten Auflage leicht behoben und mit einer stringenteren Struktur verknüpft werden könnten. In diesem Fall sollte auch darauf geachtet werden, daß ­ anders als im vorliegenden Satzbild ­ neue Absätze im Interesse bequemeren Lesens eingerückt werden.