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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

1011–1013

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Recker, Dorothee

Titel/Untertitel:

Die Wegbereiter der Judenerklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Johannes XXIII., Kardinal Bea und Prälat Oesterreicher – eine Darstellung ihrer theologischen Entwicklung.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2007. 464 S. 8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-89710-369-6.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die an der Universität Paderborn im Fach Katholische Theologie im Jahr 2005 angenommene Dissertation – betreut von dem Neu­tes­tamentler H. Frankemölle – geht der »Vorgeschichte« der sog. Judenerklärung von »Nostra aetate« (Art. 4) nach, indem sie die »theologische Entwicklung der offiziellen Hauptvertreter der Er­klärung … vor und während des Konzils untersucht« (13). Ergänzend wird auf die Bedeutung von J. Isaac, G. Luckner, K. Thieme und G. Baum für den jüdisch-christlichen Dialog und die Konzilserklärung eingegangen.
Der personengeschichtliche Zugang soll traditionelle textgeschichtliche Engführungen vermeiden und den in »Nostra aetate« sichtbar werdenden Willen zur epochalen Neubegründung des jüdisch-christlichen Verhältnisses in einem breiteren historischen Kontext plausibel machen (20–22). – In einem ersten Teil wird der neuthomistischen Prägung der drei Hauptpersonen nachgegangen. Dabei verflüchtigt sich allerdings der personengeschichtliche Ansatz schnell zur Vermutung über das, was jene wirklich gelesen und studiert haben (31). Ausführlich wird auf die Rolle der Juden bei Thomas von Aquin und im Kirchenrecht von 1918, nur vergleichsweise kurz dagegen auf wichtige frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte der Zeit um 1900 eingegangen. Diese Abschnitte bieten dem Leser willkommene Erinnerungen, doch für die Fragestellung sind sie nur begrenzt fruchtbar gemacht worden. Ähnlich verhält es sich mit den Skizzen zur vatikanischen Diplomatie und deren kirchlichen Eigeninteressen von Benedikt XV. bis zum Amtsantritt Johannes’ XXIII.
Nach diesem Anlauf, der den Charakter einer Sichtung der Sekundärliteratur hat, kommt R. in den folgenden drei Kapiteln zu ihrem Thema, beginnend mit der Analyse des Verhältnisses von Johannes XXIII. zum Judentum (103–199). Dieser vertrat demnach seit seiner Seminaristenzeit die in ihren Grundzügen antijüdische Theologie der Tradition, doch behinderte dies seine Hilfsbereitschaft für verfolgte Juden in seiner Zeit als Apostolischer Delegat in der Türkei und in Griechenland (1935–1944) nicht. R. vertritt dabe i– leider wenig systematisierend ausgearbeitet – die These, Johannes XXIII. habe »bis zu seinem Tod seine theologischen Meinungen über das Judentum nicht grundsätzlich« geändert (178). Dass es gleichwohl durch ihn selbst und unter seiner Regie gerade zu theo­logisch bemerkenswerten Neuansätzen in der Bestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses kam, bleibt auffällig, wird aber nicht näher untersucht. So erscheinen die 1959 durch den Papst angeordnete Streichung der jahrhundertealten Schmähung der Juden als »perfidi« im Fürbittegebet der Karfreitagsliturgie und der symbolträchtige Gruss des Papstes »Ich bin Josef, euer Bruder« an die Vertreter der »United Jewish Appeal« 1960 bis hin zu »Nostra aetate« im Grunde als theologisch unreflektierte Gesten eines Kirchenpolitikers, der vor allem als »Türöffner« für die neuen Ideen anderer wirkte. Gleichwohl sollen »Gesten und zwischenmenschliche Kontakte« eine »beginnende[n] Reflexion über das Judentum« signalisieren (198). Hier bleibt vieles im Unklaren.
Im folgenden Kapitel diskutiert R. die Schlüsselrolle von A. Bea (200–309) für das Zustandekommen von »Nostra aetate«. Wie viele Männer der Kirche lehnte auch dieser früh den Rassenantisemitismus ab, doch frei von massiven antijüdischen Vorurteilen war er deshalb nicht. Anfang der 1960er bahnte sich bei ihm ein theologisches Umdenken an, sichtbar in einer veränderten Deutung der Passionsgeschichten und einer stärkeren Betonung der Heilsgeschichte nach Röm 11. Dabei wurde nun auch die Schoa explizit als Mahnung zur fundamentalen Neubestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses verstanden. Hier und in der Schilderung des bekanntlich von allerlei Hemmnissen begleiteten Zustandekommens der sog. Judenerklärung von Vaticanum II folgt R. weithin bereits bestehender Literatur, eigene Interpretationsleistungen sind eher spärlich.
Mit dem 1924 vom Judentum zur katholischen Kirche konvertierten Prälaten Oesterreicher wird schließlich diejenige Persönlichkeit behandelt, die bei der Abfassung der einschlägigen Kon­zils­texte eine maßgebliche Rolle spielte (310–399). Anhand von Buchrezensionen in der Zeitschrift »Die Erfüllung«, Publikationsorgan des von Oesterreicher 1934 gegründeten Paulus-Werkes, wird dessen Kampf gegen die antisemitische Hetze und – erstmals in deutlich politischer Stoßrichtung – die Kritik an der Rassenideo­logie der Nürnberger Gesetze nachgezeichnet. Ne­ben der Berufung auf das heilsgeschichtliche Mysterium spielte bei ihm die schöp­fungs­theo­logisch motivierte Gleichheit aller Menschen eine wich­tige argumentative Rolle. Auch Oesterreichers engagiertes Buch »Rassenhass ist Christushass« (zuerst 1939 auf Französisch erschienen) kommt zur Sprache. Insgesamt wird auch hier eine traditionelle, kirchen- und papstorientierte Theologie konstatiert. Erst »mit und nach dem Konzil« sei »eine ›neue‹ Theologie des Judentums« entstanden (398). Vorkonziliar, d. h. in den Ansätzen zum jüdisch-christlichen Dialog nach 1945, lassen sich die »neuen« Ideen bei J. Isaac, der sich als Jude schon 1946 intensiv mit »Jésus et Israel« auseinandergesetzt hatte, und bei G. Luckner und K. Thieme finden. Naturgemäß spielt hierbei der »Freiburger Rundbrief« eine wich­tige Rolle, ihn hat R. ausgiebig zu Rate gezogen. Erfreulicherweise wird auch auf Gruppen in Israel, den Niederlanden und den USA verwiesen, denen die Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses lange vor dem Konzil am Herzen lag. Eine differenzierte Würdigung gerade dieser »Vorläufer« oder »Wegbereiter« der sog. Judenerklärung von »Nostra aetate« wäre sehr zu wünschen.
Was R. am Ende an Forschungsdesideraten zusammenträgt (446–448), kann nur mit Nachdruck unterstrichen werden. Es ist allerdings bedauerlich, dass sie selbst – Lehrerin in Heiligenstadt (Thüringen) – wegen der begrenzten Möglichkeiten der Fernleihe nicht im Stande war, ihrer Arbeit durch eigenständige Archiv- und Quellenstudien – für eine solche Fragestellung eigentlich unabdingbar – größeres Gewicht zu geben. Auch hätte etwas mehr sprachliche Sorgfalt das Lesen erfreulicher gestaltet (die Zusam­menfassung des Textes von Isaak auf S. 402 ist schlicht unerträglich). Statt einer umständlichen Übersetzung des Mottos »Écrasez l’infâme« in einem Text von Bea (259) hätte ein Verweis auf Voltaire mehr zum Verständnis der dabei angesprochenen Fronten beigetragen, und zur Kennzeichnung der Juden als »capsarii« wäre ein Hinweis auf die durch Augustinus begründete Tradition sinnvoll gewesen (49, Anm. 132). Vor allem aber hätte sich R. von Anfang an stärker um eine Klärung der Begrifflichkeit bemühen müssen. Zentrale, wenngleich gänzlich unterschiedlich gebrauchte Begriffe der Zeit wie »Judenfrage« und »Judenproblem« werden einfach übernommen, teils werden sie mit, teils ohne Anführungszeichen geschrieben. Daneben finden sich sinnlose Ausdrücke wie »nachjüdisches Schrifttum« (45), und zu allem Überfluss scheinen nicht nur »Antijudaismus« und »Antisemitismus«, sondern auch »Zeitung« und »Zeitschrift« dasselbe zu bedeuten (433.217).
Leider fehlt ein Personen- und Sachregister; auch ist das Literaturverzeichnis wenig gebrauchsfreundlich in Kapitel und Unterabteilungen aufgeteilt. Es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit trotz ihrer Mängel das Interesse an einer vertiefenden Weiterarbeit an der spannenden Thematik stimuliert und gelegentliche apodik­tische Belehrungen über akzeptable bzw. nicht akzeptable Meinungen (433) nicht allzu störend wirken.