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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

1006–1008

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bergunder, Michael, u. Jörg Haustein [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Migration und Identität. Pfingstlich-charismatische Migrationsgemeinden in Deutschland.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Lembeck 2006. 206 S. 8° = Beiheft der Zeitschrift für Mission, 8. Kart. EUR 18,00. ISBN 978-3-87476-511-4.

Rezensent:

Daniel Cyranka

Dieser Tagungsband ist eine Herausforderung an die akademische Theologie. Die Herausgeber, Michael Bergunder, Professor für Religionsgeschichte und Missionswissenschaft in Heidelberg, und sein Mitarbeiter Jörg Haustein, sind maßgeblich daran beteiligt, die akademische Beschäftigung mit der sog. Pfingstbewegung anzustoßen. Der Band dokumentiert eine internationale und interdisziplinäre Tagung, die im Juni 2004 an der Universität Heidelberg stattgefunden hat. In diesem Rahmen wurde auch der »Interdisziplinäre Arbeitskreis Pfingstbewegung« gegründet.
Die Radikalität der Fragen und Herausforderungen, die sich den etablierten Kirchen und Theologien nicht zuletzt durch Mi­grationsbewegungen stellen, wird spätestens am Ende der Dokumentation deutlich. Walter J. Hollenweger, der als Nestor der europäischen Forschung zu pfingstlich-charismatischen Bewegungen gelten kann, appelliert hier in drastischer Weise an die deutsche Universitätstheologie. Er provoziert um der genannten Sache willen, wenn er beschreibt, was geschehen muss, »damit die Universitätstheologie überlebt« (206).
Die Dokumentation selbst geht anders vor und beginnt mit einem Überblick. Eröffnet wird dieser mit einem Beitrag von Claudia Währisch-Oblau, die als Beauftragte der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) für Christen und Gemeinden fremder Sprache und Herkunft eine der besten Kennerinnen der Situation in Deutschland ist. Sie beleuchtet die Strukturen auf diesem Feld, das Verhältnis pfingstlich-charismatischer Gemeinden untereinander wie zu den etablierten Kirchen. Bemerkenswert ist dabei u. a. die Typisierung, die sie vorschlägt und gleichzeitig problematisiert. Sie macht deutlich, dass ein sinnvoller und verantwortbarer Kontakt zu pfingstlich-charismatischen Migranten dringend von einer soliden Kenntnis der Situation in Deutschland (und darüber hinaus) begleitet sein muss. Einen Überblick für die Niederlande gibt Cornelis van der Laan, Professor of Pentecostal Studies an der Freien Universität Amsterdam und President of Azusa Theological Seminary an derselben Universität. Nicht nur die durch ihn repräsentierte Verankerung pfingstlicher Theologie im akademischen Rahmen der Niederlande steht in einer interessanten Spannung zu den deutschen Verhältnissen, auch die Situationsschilderung ermöglicht einen Vergleich mit Deutschland, gibt es doch in den Niederlanden auf Grund ihrer anderen kolonialen Vergangenheit neben neuen auch bereits historische Migrationskirchen.
Den ersten Überblick vertiefen vier Fallstudien zur Situation in Deutschland.
Afe Adogame, Lecturer in World Christianity in Edinburgh, beschreibt die Komplexität und Hybridität pfingstlicher Identität in afrikanischen Migrationsgemeinden in Deutschland anhand des zentralen Diskurses um »Ge­sundheit« und »Reichtum«. Adogame macht deutlich, auf welche Weise sich indigene und pfingstliche Elemente im deutschen Umfeld zu hybriden, fluiden Identitäten in ständigen Aushandlungsprozessen verbinden. Der Ethnologe Evangelos Karagiannis aus Zürich skizziert die Situation von zwei Ge­meinden in einer Stadt, die er anonymisiert »Oststadt« nennt. Er beschreibt die beiden dortigen Pfingstgemeinden afrikanischer Herkunft, in denen englisch bzw. französisch gesprochen wird. Karagiannis argumentiert gegen eine Ideologisierung in der Beschreibung solcher Kirchen und plädiert für die Wahrnehmung theologischer Positionen im Kontext spezifischer Probleme. Der Mitherausgeber des Tagungsbandes, Jörg Haustein, beschäftigt sich zu­nächst mit dem enormen Aufschwung des pfingstlich-charismatischen Chris­tentums in Äthiopien, einem traditionell christlich-orthodoxen und islamischen Land. Vor diesem Hintergrund betrachtet er die Situation der Pfingstbewegung unter äthiopischen Migranten in Deutschland. Es geht ihm um die Ab­grenzung und Identifikation des Forschungsgegenstandes und er zeigt deutliche Unterschiede innerhalb der »pfingstlichen Identität« auf. Haustein kommt zu dem Schluss, dass sich die Pfingstbewegung »immer definitorischen Bestimmungen entziehen wird« (126). Er plädiert dafür, dass sich die Forschung mit den Themen und Strukturen der jeweiligen dynamischen Aushandlungsprozesse beschäftigt, in denen so etwas wie »pfingstliche Identität« artikuliert wird. Werner Kahl, Privatdozent für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche in Frankfurt a. M. sowie Studienleiter an der Missionsakademie der Universität Hamburg, fragt nach der Bibelhermeneutik pfingstlich-charismatischer Gemeinden aus Westafrika in Deutschland. Er zeigt, dass ghanaische Christen eine spezielle Bibelhermeneutik praktizieren, die mit gewissen Transformationen auch im deutschen Kontext wiederzufinden ist. Kahl stellt die unter westafrikanischen Christen wirksame traditionelle Kosmologie vor, erläutert den hauptsächlichen Zugang zum Neuen Testament als Interesse an der Erlangung eines »Lebens in Fülle« (Joh 10,10b) und entdeckt diesen in Predigten von Migranten der ersten Generation in Deutschland wieder.
Nach diesen Fallstudien wird mit dem Beitrag von Michael Bergunder der Horizont der religionswissenschaftlichen und theologischen Reflexionen geöffnet.
Bergunder diskutiert das Verhältnis von Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration. Nach einem Blick auf den globalen Ursprung der Pfingstbewegung im missionarischen Aufbruch des 19. Jh.s und den Veränderungen im beginnenden pfingstlichen Selbstverständnis nach 1910 reflektiert er den Neologismus »Glokalisierung« (Roland Robertson), der das Zusam­menspiel von De-Lokalisierung und Re-Lokalisierung im Prozess der Globalisierung be­zeichnen soll. Die Pfingstbewegung ordnet Bergunder hier ein und zeigt, dass sie nicht nur von ihrem Ur­sprung her eine globale Bewegung ist, sondern auch derartige paradoxe, »glokale« Eigenschaften der Verbindung von glo­balen und lokalen Identitäten aufweist. Er versteht die »Zugehörigkeit zur Pfingstbewegung als eine Positionierung innerhalb eines breiteren Diskurses über Kultur, Identität und Macht« (162). Damit ist die Pfingstbewegung als ein globales Netzwerk anzusehen, als fluide, hybride und offene Größe und nicht nur als historische Folge aus einem US-amerikanischen Export. Das Verhältnis von Pfingstbewegung und Migration wird von Bergunder dementsprechend nicht mit Hilfe von Diaspora-Theorien beschrieben, sondern mit Blick auf verschiedene, kontextuelle Identitätspositionierungen, die lokale Rückbezüge (z.B. afrikanische Spiritualität) wie globale Aspekte (weltweite christliche Gemeinschaft) aufweisen (»glokale« Hybridität der Pfingstbewegung). Allan Anderson, Professor of Global Pentecostal Studies in Birmingham, fragt da­nach, was europäische Christen von afrikanischen Pfingstlern lernen können. Seine Hauptthese ist, dass die europäische Christenheit hier zahlreiche ihrer eigenen Defizite vor Augen gestellt bekommt. Neben Hinweisen auf eine meist als Reverse Mission durch afrikanische Christen in Europa bezeichnete Situation konzentriert Anderson sich auf die Entstehung der Pfingstbewegung in Afrika in einer sehr lesenswerten kurzen afrikanischen Kirchengeschichte. Anderson greift einige »Lehren für europäische Christen« heraus, wie die Erfahrung der Gegenwart des Geistes verbunden mit einem an­steckenden Enthusiasmus im Gottesdienst, aber auch im Alltag. Daneben verweist er darauf, dass afrikanische Christen, »unbelastet von veralteten kirchlichen Strukturen und Hierarchien« (185) für sich einen klaren Auftrag in Europa sähen, zu dem Gott Einzelne von ihnen berufen habe. Sie gingen mit unterschiedlichen Mitteln direkt auf die religiösen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen ein, hätten keine starke Dichotomie zwischen Klerus und Laien und beschäftigten sich in besonderer Weise mit den Problemen ihrer Glieder. In ihrer spezifischen Situation hätten afrikanische Ge­meinden in Europa eine fürsorgliche, therapeu­tische Funktion für die Migranten und gleichzeitig eine missionarische Aufgabe. Anderson bezieht dies auf den Begriff der koinonia, die den europäischen Christen mehr und mehr fehle. Zu fragen bleibt m. E., ob diese Beobachtungen in Gänze tatsächlich spezifisch für pfingstlich-charismatische Gemeinden in Europa sind oder ob sie sich nicht großenteils – wenn auch mit anderen Be­gründungszusammenhängen – grundsätzlich unter Migranten ausmachen ließen. Der Beitrag von Walter J. Hollenweger, Professor Emeritus of Mission in Birmingham, beschließt den Tagungsband mit den Fragen »Was ist charismatische Theologie? oder: Was muss sich ändern?« Hollenweger klagt eine Be­schäftigung mit der Pfingstbewegung ein und fordert z. B. dazu auf, die »skandalöse, völlig unwissenschaftliche Ignoranz in Bezug auf das heutige Chris­tentum zu überwinden, und dies in allen Hauptfächern, also zum Beispiel auch in der Exegese und in der Systematischen Theologie« (206).
Wie man sich zu den einzelnen, teils bemerkenswerten Aussagen Hollenwegers auch positionieren wird – sie sind notwendig. Denn jeder der in diesem Tagungsband dokumentierten Beiträge weist nachdrücklich auf große Forschungs- oder gar Wahrnehmungslücken innerhalb der deutschsprachigen akademischen Theologie hin. Das ist neben den einzelnen Darstellungen, Analysen und konzeptionellen Überlegungen ein ganz wesentlicher Beitrag dieses Bandes zum akademischen Diskurs über das Christentum in Deutschland und darüber hinaus.