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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

1001–1003

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Plagentz, Achim

Titel/Untertitel:

Religion lehren? Eine theoriegeschichtliche Untersuchung zur liberalen Religionspädagogik im Kontext der Reformpädagogik.

Verlag:

Hamburg-Münster: LIT 2006. X, 408 S. 8° = Jugend in Kirche und Gesellschaft, 1. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-8258-8595-X.

Rezensent:

Rainer Lachmann

Plagentz hat Recht: »Die Frage nach der Lehrbarkeit der Religion ist eine [wenn nicht die] Grundfrage der Religionspädagogik« (1), die nicht nur den Theoretiker, sondern auch die Praktiker des Religionsunterrichts interessiert, die wissen wollen, was sie eigentlich mit ihrem schwierigen religionsunterrichtlichen Geschäft erreichen können. Letztere dürften freilich in der Regel kaum die Zeit aufbringen, um die 400-seitige (Marburg-)Münchener Dissertation, die leider für den Druck keine leserfreundlichere Überarbeitung und Straffung erfahren hat, zu lesen. Dabei lohnt sich die Lektüre dieser Untersuchung mit ihrem »theoriegeschichtlichen« An­satz und Anspruch – »von gegenwärtigen Problemstellungen ausgehend auf aktuelle Lösungsmöglichkeiten« zielend (18) – auf alle Fälle, denn sie schottet sich nicht historistisch ab, sondern ist durchgängig offen für gegenwartsrelevante Fragestellungen und Probleme.
Der Schlussteil der Arbeit mit seiner »Systematischen Auswertung« und seinen »Konstruktiven Überlegungen« (337–379) belegt das geradezu vorbildlich und sei deshalb dem eiligen ›Wissenschaftler‹ als Minimalpensum seiner Beschäftigung mit dieser ge­schichtlichen Studie empfohlen. Als »Beschreibung ›zweiter Ordnung‹« erhebt sie zwar nicht den Anspruch, die spannende »Lehrbarkeitsfrage zu lösen« (339), sieht aber nichtsdestotrotz in dem »limitativ-differenzierenden Zugang zur Lehrbarkeitsfrage die eigentlich sachgemäße Theorieform« (353). Aktualiter meint das »eine Religionspädagogik, die an der Religion arbeitet, ohne den Bezug zum Glauben verlieren zu müssen ... Die Genese des Glaubens ist dann in soteriologischer Hinsicht allein auf Gottes Wirken zurückzuführen. In lebenspraktischer Hinsicht jedoch entsteht Religion im Zusammenhang von Erfahrung und Kommunikation und somit in einem Geschehen, dass [sic!] sich pädagogisch zwar nicht technisch kontrollieren lässt, innerhalb dessen aber pädagogisch gehandelt werden kann« (355). Dieses an Friedrich Niebergalls Ansatz orientierte Ergebnis ist ein bemerkenswerter Lösungsv ersuch für das religionspädagogische Lehrbarkeitsproblem, das al­lerdings erst in seiner ganzen Tiefe, Breite und Komplexität er­fasst wird, wenn man geduldig und gespannt der historischen »Spur« folgt, die P. mit seiner theoriegeschichtlichen Untersuchung gelegt hat.
Das Neue, Andere und Besondere der Untersuchung von P. gegenüber der fast titelgleichen Habilitationsschrift von Matthias Heesch »Lehrbare Religion« (Berlin-New York 1997) ist die Orientierung am Bildungsbegriff als »heuristischer Größe« und in ihrem Bezugsrahmen das »Religions- und das Lehrverständnis« (32 f.). Damit ist die spannungsvolle Zweigipfeligkeit der Untersuchung bezeichnet, die im wechselseitigen Bezug von Religionspädagogik und Reformpädagogik ihre durchgängige Entsprechung findet. Das verheißt interessante und aufschlussreiche Forschungsergebnisse, die freilich schon eingangs etwas getrübt werden, weil P. in den Ausführungen zum »Aufbau der Untersuchung« die Nummerierung der Teile ›gewaltig‹ durcheinander bringt (33 f.). Das macht zusammen mit den nicht wenigen Druckfehlern einen etwas flüchtigen Eindruck, den die wissenschaftlich solide Studie eigentlich ebenso wenig verdient hat wie die neue Reihe »Jugend in Kirche und Gesellschaft« ihr ›Layout‹ als schlecht verleimte ›wohlfeile‹ Ausgabe.
Von den vier Teilen der Untersuchung mit ihren insgesamt zehn Kapiteln befasst sich der Teil I im 2. und 3. Kapitel mit der Diskussion um die Lehrbarkeit der Religion in der religionspädagogischen Bewegung zwischen 1900 und 1914, die ergänzt wird durch die zeitgleichen reformpädagogischen Erziehungsdiskurse. Schon in diesem Vor-Gang zum Hauptteil II sieht P. wesentliche Ansätze und Argumentationsmuster zur Lehrbarkeitsfrage religionspädagogisch vorgebildet. Dasselbe gilt für den reformpädagogischen Mainstream dieser Jahre mit seinen »Leitmotiven von Schul- und Unterrichtskritik, Orientierung vom Kinde aus, Selbsttätigkeit und Erlebnisbezug«. Gleichsam rückblickend ist diesen beiden vorausschauenden Kapiteln das präludierende 1. Kapitel vorgeschaltet, das sich mit Schleiermachers ablehnender Position zur Lehrbarkeitsfrage befasst, einer Frage, die wirklich ernsthaft erstmals von Schleiermacher gestellt und diskutiert wurde. Fragt sich freilich, warum es dazu vor ihm noch nicht gekommen war – das »Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Religion, von Religion als Leben und Lehre« (131) war auch schon in der Neologie der Aufklärung angelegt – und fragt sich weiter, ob man wirklich in der zentral um die Lehrbarkeitsfrage kreisenden Theoriearbeit der ersten 20 Jahre des 20. Jh.s »die eigentliche Geburtszeit der Religionspädagogik« sehen kann (47). Auch hier weist wiederum bereits die Aufklärung mit ihrem Boom an religionspädagogischer Literatur institutionell, bezugswissenschaftlich und didaktisch wesentliche Elemente moderner Religionspädagogik auf.
Mit Teil II und seinen drei Kapiteln über Otto Baumgartens, Richard Kabischs und Friedrich Niebergalls Religionspädagogik kommt der theoriegeschichtliche Kernbereich der Untersuchung in den Blick. Zwar betritt P. mit diesen ›alt-bekannten‹ und beispielhaften Vertretern liberaler Religionspädagogik nicht un­bedingt historiographisches Neuland, fokussiert aber seine Darstellung geschickt auf die Lehrbarkeitsfrage, so dass ihm in differenziertem Vergleich eine überzeugende Typisierung dreier un­terschiedlicher Positionen gelingt: Baumgarten bestreitet unter seinem »technologischen Verständnis« die Lehrbarkeitsthese entschieden, Kabisch dagegen vertritt sie mit seinem »technologischen Modell« ebenso vehement, während Niebergall mit seiner »limitativ-differenzierenden Theorie« die technologisch verengte Lehrbarkeitsdiskussion zu einer »differenzierten Theorie der Be­einflussung« ausbaut (284), die nicht zuletzt im Blick auf die Grenzen der Erziehung religionspädagogisch weiterführende Anstöße vermittelt. Ungeachtet der unterschiedlichen Antworten auf die Lehrbarkeitsfrage gründen alle drei Religionspädagogen fest im Erbe der liberalen Theologie und stimmen überein in ihrem »lehrkritisch-reformorientierten Ansatz«.
Etwas nachhängend befasst sich Teil III im 7. und 8. Kapitel mit der Reformpädagogik und zeigt vergleichend die große Affinität auf, welche die drei Religionspädagogen mit dem reformpädagogischen Mainstream und seinen Leitmotiven gemeinsam haben. Interessant und wichtig sind hier nicht zuletzt die Ausführungen, die P. zum ambivalenten Verhältnis von Reform- und Religionspädagogik gegenüber der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne macht (329 ff.)! Ebenso beachtenswert, weil häufig in reformpä dagogischer Euphorie übersehen, ist dabei gerade auch in religionspädagogischer Hinsicht die von P. zu Recht angemerkte Tatsache, »dass die religionspädagogische Reformbewegung der ›Moderne‹ bis 1914 [und erst recht danach] keineswegs die ›Diskurshoheit‹ in Sachen religiöser Bildung erlangen konnte«, sondern ihre Wirksamkeit durch »die kirchliche Dominanz der orthodox-positiv [sic!] und konservativen Kräfte« ganz erheblich begrenzt wurde (332). Auch das hatte diese Religionspädagogik wieder mit den ›Anfängen moderner Religionspädagogik‹ in der Aufklärung gemein, die freilich bei P. anders als bei seinen liberalen Gewährsleuten – besonders Niebergall war sich seiner aufklärerischen Wurzeln stets bewusst – nicht in den Blick kommen.
Wie eingangs bereits erwähnt und gelobt bündelt Teil IV in kritisch-konstruktiver Reflexion und systematischer Auswertung den Ertrag der gediegenen historischen Arbeit und führt nicht nur zu diskussionswürdigen, sondern durchaus auch beachtenswerten Er­gebnissen, denen zwar leider ein ökumenischer Blick über den Zaun zur katholischen Religionspädagogik abgeht, die aber hoffentlich bedenklichen Tendenzen in schulisch entgrenzten und ›ent-lehrten Performanzen‹ gegenwärtiger Religionspädagogik wehren können. Nicht nur deshalb wünscht man der verdienstvollen Dissertation möglichst viele Leser mit langem Atem, wachem religionspädagogischen Problembewusstsein und kompetentem Urteilsvermögen.