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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

292–294

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Josuttis, Manfred

Titel/Untertitel:

Gesetz und Evangelium in der Predigtarbeit. Homiletische Studien Bd 2.

Verlag:

Gütersloh:Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 197 S. 8°. Kart. DM 68,­. ISBN 3-579-02070-6.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Die in diesem Band gesammelten Beiträge zu einer die reformatorische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für die Predigtarbeit fruchtbar machenden Homiletik entstammen drei Jahrzehnten. Verständlicherweise ändert sich daher nicht nur die Sprache, es ändert sich auch der materiale Gehalt, mit dem der Vf. die existentielle und politische Relevanz einer sich an der reformatorischen Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium orientierenden Predigt zu verdeutlichen versucht.

Den umfänglichsten Beitrag des Bandes bildet die ursprünglich selbständig erschienene Studie des Vf.s zur "Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart" (2. Aufl., München 1969), (hier: 94-181). Mit ihr gehört zeitlich zusammen der Aufsatz zur "Predigt des Gesetzes nach Luther" (1965) (hier: 22-41). Darin betont der Vf. im Anschluß an G. Ebeling, daß "das Gesetz als hermeneutisches Prinzip zum Aufschließen der biblischen Texte in der Verkündigung zu benutzen" sei (39). Es ist "durch seine Funktion" bestimmt (38) und nicht durch seine materialen Gehalte. Das Gesetz hält uns zur nüchternen und kritischen Wirklichkeitswahrnehmung an, das Evangelium dazu, in dieser Wirklichkeit nicht stecken zu bleiben, sondern das Ja, das Gott dem Sünder um Christi willen zuspricht, auf befreiende Weise zuzueignen.

Diese hermeneutische Sicht der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium tritt in der umfänglichen Studie zur "Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart" merklich zurück. Hier operiert der Vf. sehr viel stärker mit dem der Theologie K. Barths und der Lutherinterpretation E. Bizers abgewonnenen Verständnis von der Souveränität und schöpferisch-sakramentalen Kraft des Wortes Gottes. Von ihm her will er Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in dieser einseitigen, die absolute Vorgegebenheit des Wortes Gottes betonenden Weise für die Predigtarbeit fruchtbar machen. Die hermeneutische Arbeit des Predigers/der Predigerin wird in die Schranken der behaupteten Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes verwiesen (107).

Das homiletische Interesse, das der Vf. mit dieser dogmatisch-theologischen Setzung verbindet, hält sich bis in die dem Band beigegebenen Arbeiten aus den 90-er Jahren durch. Es ist das Interesse an der, wie der Vf. später sagt, "energetische(n) Potenz" der Predigt des Evangeliums, daran, daß sie das "Wort" sagt, "das Leben schafft und verändert" (197). Es gilt das "Wort Gottes", das die Predigt ausrichtet, als "eine dynamische, eine kreatorische, eine sakramentale Größe" (197) anzusehen, weil die Predigt nicht nur über Gott und sein Verhältnis zu Mensch und Welt zu reden, sondern ihre Hörer wirksam in dieses sie und alle Welt richtende und rettende Verhältnis hineinzustellen hat. Was die Predigt sagt, will in der Kraft des Geistes zugleich geschehen. Die Predigt des Evangeliums soll zur befreienden Erfahrung der Gottesgegenwart werden.

Die homiletisch entscheidende Frage ist dann freilich die nach der menschlichen Machbarkeit einer solchen Predigt. Nahezu alle 907 Predigten, die der Vf. für seine Studie zur "Gesetzlichkeit in der Predigt der Gegenwart" untersucht hat, zeigen, daß diese wirksame Predigt des Evangeliums mißlingt. Die wirkliche Predigt ist geistlich unwirksam. Statt unsere sündhafte Verlorenheit aufzudecken, appelliert sie an das christliche Leben. Statt den Sünder in der Kraft Gottes bedingungslos freizusprechen, hält sie ihm in formelhafter Sprache ein Heilsgeschehen vor, das seine gläubige Anerkennung verdiene. Wie ist es zu der vom Vf. so beschriebenen gesetzlichen Schieflage der wirklichen Predigt gekommen? Der Vf. führt dies unter anderem auf eine mißverständliche Rezeption der Wort-Gottes-Theologie zurück (178). Daß diese auch in der Verwendung, die sie beim Vf. findet, daran schuld sein könnte, kommt ihm verständlicherweise nicht in den Blick.

Dabei ist es doch gerade die Hypostasierung des Wortes Gottes zur absoluten Vorgegebenheit, die seine Vergegenständlichung zur autoritativen Lehre, welche gläubigen Gehorsam verlangt, im homiletischen Gefolge hat. Sie verlangt doch gerade, den affektiven und kognitiven Vorgang aus der Predigtarbeit auszublenden, vermöge dessen das die desaströse Wirklichkeit erschließende und aus ihr gnädig befreiende Predigtwort den Predigthörern zur subjektiven Gewißheit, zur geistgewirkten Glaubensgewißheit wird. Daß sich in Luthers Rechtfertigungslehre das geistliche Verständnis des Gesetzes in Gestalt der Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder ereignet und das ihm von außen begegnende Evangelium seiner gnädigen Freisprechung im geistgewirkten Glauben von ihm subjektiv angeeignet sein will, wird vom Vf. geflissentlich übersehen. Das läßt die Frage aufwerfen, ob das Mißlingen einer wirksamen Predigt des Evangelliums, ihre "Vergesetzlichung", ihre Vergegenständlichung zu einer Glauben und Handeln fordernden Lehre von Gottes Reden und Tun, nicht genau der homiletischen Umsetzung eben derjenigen Theologie (des Wortes-Gottes) geschuldet ist, die dieses Mißlingen diagnostiziert.

Auch in den aus den 90er Jahren stammenden Beiträgen des Bandes steigt der Vf. nicht aus der die absolute Vorgegebenheit des Wortes Gottes behauptenden Theologieformation aus. Erstaunlicherweise fragt er dennoch nach dem "anthropologischen Sinn" der theologischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium (9-11). Er verweist auf die "wirklichkeitserschließende Kraft der Gesetzespredigt", die "sich gegenwärtig vor allem in der Kritik des Allmachts-, des Autoritäts- und des Heilswahns zu bewähren" habe (19). Ebenso will das Evangelium nun in seiner "wirklichkeitserschließenden Kraft" verstanden sein. Wo es gepredigt wird, soll sich die Einsicht vermitteln, "daß es trotz aller Negativerfahrungen eine umfassende Annahme des eigenen Ich, der anderen Menschen, ja der ganzen Schöpfung erlaubt" (20). Es ist also eine bestimmte, aus der Zusage unbedingter Bejahung sich nährende Selbst-, Menschen- und Weltanschauung, die die Predigt des Evangeliums den sich in ihr neu und anders verstehenden Hörern mitteilt.

So jedenfalls muß man den Vf. in den Wandlungen seines Denkens verstehen, auch wenn er bis in seine jüngsten Beiträge nach dialektisch-theologischer Manier gegen die Transformation des Evangeliums in ein Weltbild und eine Weltanschauung polemisiert (vgl. 195). Er kann dennoch sagen, was zurecht gilt: "Predigt in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ermöglicht eine realistische und doch hoffnungsvolle, eine kritische und zugleich bejahende Wahrnehmung der Wirklichkeit" (20). Dadurch erschließt sie die biblischen Texte in ihrer existentiellen Relevanz, daß sie uns zu vertiefter Selbsterkenntnis führt und uns aus der unversieglichen Quelle schöpfen läßt, aus der wir in Wahrheit leben.

Daß eine solche Predigt gelingen kann, versucht der Vf. in seinen späteren Aufsätzen durch Einsichten aus der Phänomenologie, der Literaturwissenschaft, der Psychologie (42-65) und der Religionswissenschaft (66-81) plausibel zu machen. Er plädiert also für die Verknüpfung der theologischen Unterscheidungslehre von Gesetz und Evangelium mit außertheologischen Diskursen. Wie jedoch die Verknüpfung der Diskurse, die die Predigtarbeit in der Tat zu leisten hat, vorzunehmen ist, wird vom Vf. an keiner Stelle expliziert. Er macht es mit der Vollmacht seines Sprachgebrauchs allenfalls vor. Es können diese diskursiven Verknüpfungen von theologischem Urteil, antikapitalistischer Gesellschaftskritik und tiefenpsychologischem Menschenbild auch gar nicht durchsichtig gemacht werden, solange in kerygmatischer Diktion immer dann die Selbstmächtigkeit des Wortes Gottes beschworen wird, wenn bei Lichte besehen die hermeneutisch-konstruktiven Leistungen der religiösen Subjektivität des Predigers am Werke sind. Weil dieser hermeneutische Bezugsrahmen um einer theologischen Setzung willen, die als solche freilich nicht erscheinen darf, ausgeblendet bleibt, wird der praktische Orientierungsgewinn, den die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für eine der Bildung des religiösen Bewußtseins dienliche Predigtarbeit erbringen kann, in den vorliegenden Beiträgen zum Thema verspielt.