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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

993–995

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schröder, Sabine

Titel/Untertitel:

Konfessionslose erreichen. Gemeindegründungen von freikirchlichen Initiativen seit der Wende 1989 in Ostdeutschland.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2007. XII, 308 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7887-2223-4.

Rezensent:

Reiner Knieling

»Konfessionslose erreichen« beschreibt das Ziel, für das Sabine Schröder (geb. 1965) praktisch und wissenschaftlich arbeitet. Der Untertitel benennt den Kontext, in dem sie es tat und tut. Als ehemalige Mitarbeiterin einer freikirchlichen Gemeindegründungsinitiative in Ostdeutschland dient ihr die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema nicht nur, aber auch zur Reflexion der eigenen Erfahrungen.
Da sowohl »Konfessionslose« als auch »Freikirchen« im praktisch-theologischen Diskurs selten Gegenstand des Interesses und der wissenschaftlichen Arbeit sind, halte ich die Entscheidung für dieses Thema und die Veröffentlichung der in Greifswald eingereichten und angenommenen Dissertation für einen wesentlichen Beitrag zur praktisch-theologischen Diskussion um die Zukunft der Kirche(n) und um ihre missionarische Ausrichtung.
Die am Ende des Einleitungskapitels (I., 1–18) formulierte These ist so klar wie erschütternd: »Über eine Theologie der Gemeindegründung wird von freikirchlicher Seite noch zu einseitig nachgedacht. Hierin liegt ein Grund, warum weder Gemeindeaufbauprogramme noch Gemeindegründungskonzepte letztlich nachhaltig erfolgreich in ihrem Bemühen sind, Ostdeutsche, die zum größten Teil konfessionslos sind, mit dem Evangelium zu erreichen. Viel zu wenig ist über Geschichte, Kultur und Sozialisation reflektiert worden. Eine Inkulturation des Evangeliums muss dringend stattfinden, damit die religiöse Sprachlosigkeit überwunden werden kann.« (18) Diese These wird in vier großen Teilen (Kapitel II.–V.) entfaltet und begründet, um schließlich zu überlegen, was bezüglich einer Verbesserung der Praxis beachtet werden muss.
Zunächst (Kapitel II., 19–86) geht es um die »Gründung von Freikirchen im historischen Kontext«. Neben der Klärung der Be­grifflichkeiten (Gemeindegründung; Kirche; Denomination; Evangelisation; Mission; Konfessionslosigkeit) wird der Entstehungskontext der klassischen Freikirchen im 19. Jh. skizziert. Dabei arbeitet Sch. besonders die sozialgeschichtlichen, gesellschaftspo­litischen und rechtlichen Rahmenbedingungen heraus, um – ge­genüber bestimmten freikirchlichen Selbstbildern – deutlich zu machen, dass Freikirchen »nicht nur dadurch entstanden [sind], dass erweckte Menschen bestimmte theologische Akzente in ihrer Kirche vermissten« (65). Im Blick auf den Fokus der Arbeit – freikirchliche Ge­meindegründungsinitiativen zur Erreichung von Konfessionslosen im Osten Deutschlands – folgt ein Überblick über die »Entstehung und Entwicklung der klassischen Freikirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR« (70 ff.). Hier weist Sch. darauf hin, dass die gegenwärtige Arbeit vor allem durch zwei Dinge erschwert wird: Große Teile Ostdeutschlands sind keine klassischen Gebiete für freikirchliche Arbeit und die Aufarbeitung des Verhaltens der Freikirchen in der Zeit des SED-Regimes (und vorher des NSDAP-Regimes) steht erst am Anfang.
Im dritten Kapitel (87–160) wird die »Gründung von klassischen und neueren Freikirchen im ostdeutschen Kontext nach der Wende« reflektiert. Dazu beschreibt Sch. zunächst ostdeutsche Mentalität und die Gesellschaft der DDR als »Organisationsgesellschaft« (92, Pollack) und wendet sich dann der Entwicklung der Säkularisierung und Konfessionslosigkeit zu, die nicht nur auf die DDR-Zeit zurückgeführt werden darf, sondern weitere Wurzeln früher, besonders in der Zerschlagung der ländlichen Dorfstruktur im 19. Jh. hat. Das Ergebnis ist: »Religion hat im Alltag der konfessionslosen Ostdeutschen keine Relevanz.« (114) Im Unterschied zu westdeutscher sei ostdeutsche Konfessionslosigkeit in der Regel kein emanzipatorischer Schritt gegenüber den Kirchen, sondern erlernt. Konfessionslose im Osten seien deshalb religiös gleichgültig bzw. klammerten diese Dimension aus. – Neben dem Kontext erörtert Sch., mit welchem theologischen Verständnis Gemeinden gegründet werden (sollen), wobei sie die ekklesiologische Spur ihres Doktorvaters Michael Herbst aufnimmt: »Kirche ist von ihrem Grundwesen her eine missionarische Kirche, oder sie ist keine Kirche.« (131) Bezogen auf den ostdeutschen, »religiös unmusikalischen« (E. Tiefensee) Kontext heißt das, dass die entscheidende Voraussetzung für missionarische Arbeit ist, »religiöse Inhalte alltagsrelevant zu kommunizieren« (158). Am Ende des Kapitels bleibt der Eindruck, dass zwei verschiedene Einsichten bzw. Perspektiven nebeneinander stehen: die empirische Feststellung, dass Konfessionslose mehr oder weniger religionsresistent sind, und die theologisch begründete Hoffnung, dass bei entsprechend alltagsrelevanter Kommunikation christlicher Inhalte auch Konfessionslose dafür interessiert und gewonnen werden können: »So hoffnungslos die Lage in Ostdeutschland auch scheinen mag, es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die die Gemeinden als Chancen nutzen könnten, um die Sprachlosigkeit der Konfessionslosen zu überwinden.« (160) Wie empirische Feststellung und theologisch begründete Durchbrechung der Wirklichkeit aufeinander bezogen sind, oder anders: warum ich den zahlreichen »Möglichkeiten« trotz der »Hoffnungslosigkeit« trauen soll, wird leider nicht deutlich.
Im vierten Kapitel (IV., 161–218) beschreibt Sch. die »Planung und Durchführung einer Vollerhebung von Gemeindegründungsinitiativen in Ostdeutschland« und entfaltet anschließend die Ergebnisse. In der empirischen Erhebung wurden freikirchliche Gemeindegründungsinitiativen im Osten Deutschlands u. a. daraufhin befragt, wie sie gewachsen sind (dadurch, dass Menschen zum Glauben kamen, dass sie aus anderen Gemeinden kamen, durch Zuzug, zum Teil auch durch Nachwuchs) und warum Menschen die Gemeinde(gründung) wieder verlassen haben (neben Wegzug sind vor allem theologische Gründe und Unzufriedenheit zu nennen). Leider lassen die Daten der quantitativen Erhebung keine zuverlässigen Rückschlüsse auf Motive, Hintergründe, handlungsleitende Bilder etc. zu. So ist es angemessen, dass die Er­gebnisse zum Teil als Vermutungen formuliert sind (216–218).
Die im fünften Kapitel entwickelten »Prinzipien für eine Ge­meindegründung in Ostdeutschland« (219–266) gehen von dem Ziel aus, »dass Ostdeutschland insgesamt mit dem Evangelium erreicht wird« (220). Das sei bisher zwar weder Landes- noch Freikirchen gelungen, deshalb »aber kein Grund zur Resignation, sondern führt genau zu der Überlegung, was denn verändert werden muss, damit dieses Ziel erreicht werden kann« (220). So hilfreich die folgenden Überlegungen sind, ist das Ziel m. E. viel zu hoch, wenn ernst genommen wird, was Sch. über Konfessionslose im Osten referiert. Sie empfiehlt für freikirchliche Gemeindegründungen 1. die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte (244 ff.), 2. die Auseinandersetzung mit der Geschichte Ostdeutschlands (nicht nur bezüglich der DDR, 247 ff.), 3. die Auseinandersetzung mit den »gelernten Konfessionslosen« (251 ff.) und 4. mit der »ostdeutschen Mentalität« (255 ff.), schließlich mit der Frage, welche Kirche gegründet wird (261 ff.). Die Spuren, die hier gelegt sind, müssen erprobt, weitergedacht, kritisch hinterfragt und kontrovers diskutiert werden.
Insgesamt ist zu loben: Sch. hat wesentliche Einsichten zu Geschichte und Charakter freikirchlicher Arbeit und zu den verschiedenen Gesichtern der Konfessionslosigkeit zusammengetragen. Außerdem hat sie die eigene Arbeit und den eigenen Kontext selbstkritisch reflektiert, was ausdrücklich zu würdigen ist. Insgesamt entfaltet und begründet sie die eingangs formulierte These und macht diese – jedenfalls auf ihrer analytischen Ebene – plausibel. Bei den Lösungsansätzen der Arbeit hätte ich mir eine kritische Auseinandersetzung damit gewünscht, dass es angesichts der tiefsitzenden Konfessionslosigkeit – jedenfalls nach menschlichem Ermessen – ein unangemessenes Ziel ist, Ostdeutschland insgesamt mit dem Evangelium zu erreichen. Vielleicht kann diese Spur in einer anderen Arbeit weiterverfolgt werden.