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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

988–989

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Koll, Julia

Titel/Untertitel:

Körper beten. Religiöse Praxis und Körpererleben.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 280 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 85. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-019814-2.

Rezensent:

Silke Leonhard

Der Marburger Körperdiskurs ist um einen Ansatz praktisch-theologischer Vertiefung bereichert worden: Der Titel der Dissertation »Körper beten« der von Gerhard Marcel Martin begleiteten Promovendin Julia Koll macht aufmerksam auf die Rolle des Subjekts im Gebet. Die Arbeit bewegt sich im Forschungsfeld um Praktische Theologie und Leiblichkeit und stellt sich der Frage: Welche Rolle hat die körperliche Dimension, genauer: das Körpererleben bei religiöser Erkenntnis? (19) Der Aufriss besticht durch die performative Form eines antiphonalen Gebets: Anders als im phänomenologischen Diskurs erwartet baut das Buch von der einen Seite zunächst die Theoriestimme der Neuen Phänomenologie nach Hermann Schmitz auf und erhebt dann von der anderen Seite her die der Leiblichkeit und Religiosität in der Körpergebetspraxis.
Teil I ermöglicht ein gründliches Hineinlesen in das Theorieinnere des Schmitzschen Ansatzes (Einbettung von personalem Kontext, erkenntnistheoretische Methode und »System«) und das Einklinken in die Diskussion um dessen Leibkonzept (B. Waldenfels, Th. Fuchs). Dieses wird kontextualisiert durch den gegenwärtigen Körperdis­kurs und zwei Exkurse zur praktisch-theologischen Aufnahme der Phänomenologie und zur Schmitz-Rezeption in gendertheoretischen Entwürfen. Mit kritischer Sympathie für Schmitz gilt der Leib als »zentrierende Kraft in diesem Personkonzept« (104) in der Unterscheidung von primitiver und entfalteter Gegenwart. Inkarnation und leibräumliches Erleben kommen zwischen Er­griffenheit und kultureller Distanz zusammen: »Eine Atmosphäre verdichtet sich in einer Person und nimmt in ihr und als diese Gestalt an« (124). Schmitz’ Ansatz erscheint in K.s Perspektive als Instrumentarium zur phänomenologischen Analyse eines leibkultischen Umgangs mit der Unverfügbarkeit Gottes, der nicht bei der Personalität Gottes stehen bleibt, sondern Türen zu einem transpersonalen Gottesbild öffnet.
Dies führt zur zweiten, praktischen Seite: Die Konzentration gilt dem Verhältnis von Form und Erleben religiöser Praxis zwischen »kulturell geformtem Traditionsschatz und spiritueller Weite« (257). Die liturgiewissenschaftliche Suchbewegung nach dem Medium von gelebter Religiosität wird phänomenologisch in der Frage aufgenommen: Was geschieht in der Achtsamkeit, wenn das Denken still (9), wenn der Körper ins Gebet genommen wird? Dem widmet sich Teil II, der zunächst leibphänomenologische Prüf­steine für Körpergebet entfaltet: Spüren, Bewegung, leibliche Kommunikation; Betroffensein, Ergriffenheit bzw. damit zusammenhängende personale Regression, Anknüpfung an Dimension der entfalteten Gegenwart (151). Vor dem Hintergrund monastischer Entstehungskontexte werden fünf gängige Körpergebetskonzepte (Körpergebet der Urgebärden, Sonnengebet, existentielles Beten, kontemplatives Beten, Kreuzmeditation, in kritischer Ergänzung: Meditatives Tanzen) anhand ihrer Gebetsgebärden nachvollziehbar dargestellt und auf der Basis der Kriteriologie auf das Verhältnis von Leiblichkeit und Religiosität untersucht. Je nach Gebetsform bekommen in de­ren Gestaltwerdung entfaltete Gegenwart (existentielles Beten), pathisches Gewahrwerden des transperso­ nalen Grundes (Urgebärden), Spüren (kontemplatives Beten und Kreuzmeditation) und leibliche Kommunikation (Sonnengebet) am schärfsten Kontur.
Mit Teil III ist der Chorschluss der beiden Perspektiven perspektivisch zum Ausdruck gebracht. Körpergebet schafft mit der Kontemplation eine praktisch-theologische Ressource für eine achtsame Lebenshaltung zwischen »Ganz-bei-mir und Außer-mir-Sein« (233). Gott »geht unter die Haut«, indem das angestrebte Körpererleben zu fließenden Übergängen zwischen Subjekt und Objekt führt (249). Mit ihrer »kritischen Theorie der Spiritualität« (255) baut K. tragende Pfeiler dafür auf, dass Leiber wie Kirchen »Orte körperbewusster Frömmigkeit« werden (259). Religiöse Tradition kann so zur sinngestaltenden Unterbrechung, Durchdringung und Verwandlung eines sinnentleerten Alltags führen. Für eine Theologie »von unten« wird dabei deutlich, dass die Notwendigkeit des eigenen praktischen Erprobens und Einübens religiöser Erkenntnismethoden im Sinne eines mehr als das Bewusstsein erreichenden Nachvollzugs nicht erspart bleibt. Dieser Bezugspunkt zwischen asketisch-übender impliziter Theologie und daraus resultierenden »Veränderungspotentialen für explizite Theologien« (252) würde vermutlich durch einen Stil prägnanter gezeigt werden, der die Theorie des Gebets nicht nur um Innenansichten von den Vollzugsprozessen ergänzt, sondern auch deren Resonanzen – im Sinne einer Wirkungslogik – darstellt.
Die fundamentaltheologische Relevanz der behandelten Leiblichkeitsthematik geht über den praktisch-theologischen Horizont hinaus: Indem das Spüren als Medium und Ausgangspunkt der Selbstreflexion die bewusste Integration der körperlichen Dimension des Menschen unterstützt, wird jegliche »reine« Bewusstseinstheologie einer ausschließlich gedachten Leiblichkeit herausgefordert, sich auf die Er-Lebensfähigkeit überprüfen zu lassen.
K. wagt sich an heiße Eisen heran, und sie schmiedet sie gekonnt und eigenwillig. Ihr Dialog von Phänomenologie und Liturgik trägt zu einer Theologie bei, welche die Dimensionen Leib-Körperlichkeit, Subjektivität und Religiosität zu materialen Elementen erhebt. Die bisherige Leerstelle in M. Josuttis’ Rezeption der Neuen Phänomenologie nach Schmitz wird so mit Präzision und Leben gefüllt. In ekklesiologischer Perspektive schärft das Modell der leiblichen Gestaltung von Präsenz im Gespräch um Personalität die Frage nach der Elementarizität von Kirche-Sein hinsichtlich des Verhältnisses von Individualität und Kommunität. Und schließlich: Von Religion in wissenschaftlich reflektierter Praxisdarstellung zu lesen, ist eine religionspädagogische Ermutigung zu weiteren performativen Wegen.