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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

980–981

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

Ethik im Krankenhaus. Diakonie – Seelsorge – Medizin.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 238 S. 8°. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-525-62399-2.

Rezensent:

Reiner Marquard

Diakonische Ethik vergewissert identitätsstiftend diakonische Sys­teme nach innen und leistet eine Profilbildung im Außenbezug– so könnte man vereinfachend sagen. Es ist aber komplizierter. Eine pluralistische Gesellschaft produziert ihre multi- und interkulturellen Alltagsprobleme nicht an den diakonischen Gebilden vorbei. Diakonische Ethik reagiert auf derartige Pluralisierungsprozesse auch und gerade im Innenbezug. Mit diesem Eingeständnis ändert sich der Charakter der Ethik. Er unterliegt »einem Wandel von der Prinzipienethik zur Verfahrensethik« (12). Es geht nicht um die Durchsetzung einer bestimmten Moral, sondern darum, »Verfahren zur Bearbeitung moralischer Konflikte bereitzustellen und zu einer diskursiven Entscheidungsfindung beizutragen« (ebd.). Die deskriptiv-hermeneutische Aufgabenstellung verzichtet dabei nicht auf normative Anleihen. Der christliche Dienstgedanke gründet in Verschränkung mit dem neuzeitlichen (und christlich re-formulierten) Autonomie- und Freiheitsgedanken im »Urbild und Vorbild« des Lebens Jesu (14).
Eine (Bereichs-)Ethik in diesem Sinne entsteht nach einem Diktum von Reiner Anselm »nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte« (14). Damit sind wir beim Stichwort: K.s Plädoyer für eine Grundlegung einer diakonischen Ethik gilt dem Entwurf einer topischen Ethik (14f. u. ö.), die »systemisch« (oder »organisationstheoretisch«) an einem »kooperativen Hilfeverständnis« orientiert ist. Die Selbst­be­stim­mung und die Ressourcen der Betroffenen sollen wertgeschätzt und aktiviert werden, ohne die »grundlegenden Verän­derungen der ge­sellschaftlichen Rahmenbedingungen« in der »Triade von Kirche, Staat und (Zivil)gesellschaft« zu vernachlässigen (15f.).
Die Grundlagen dieser topischen Ethik werden in den Überschneidungen von Medizinethik, Pflegeethik und diakonischer Ethik ausgeleuchtet. Im ersten Teil (23–95) äußert sich K. zu Grundfragen einer diakonischen Ethik, es folgen Untersuchungen (97–144) zum Themenschwerpunkt Ethik und Seelsorge (Seel-Sorge als der nach innen gewendete Aspekt der Für-Sorge!). Ein abschließender dritter Teil (145–224) befasst sich mit einzelnen Ethik-Feldern (Neonatologe, Geriatrie und Palliative Care [inkl. ethischer Aspekte der Patientenverfügung]), in denen es die beteiligten Akteure nicht selten mit praktischen, strategischen und moralischen Dilemmata zu tun bekommen.
K. wirbt mit diesem Buch für eine anthropo-relationale Sicht der ethischen Problemstände. Die evangelischen Kirchen in Deutschland wären gut beraten, einer in diesem Sinne dezidiert evangelischen Sozialethik mehr Gehör zu schenken als sich von einer nur substanz-ontologischen Sichtweise die eigene Tagesordnung be­stimmen zu lassen. So sehr das eine Korrelat des anderen ist, so wenig gelingt die Korrelation, wenn die eigene Sichtweise latent ausgeblendet bleibt. K. rekurriert in seiner dynamischen Ethik auf den Husserl-Schüler Wilhelm Schapp, »wonach Mensch sein heißt, in Geschichten verstrickt zu sein«, und auf die Erzähltheorie Paul Ricœurs sowie das »Storykonzept« Dietrich Ritschls (157). K. lehrt in Wien: Die evangelische Handreichung zu Fragen der Biomedizin »Verantwortung für das Leben« (2001) hatte unter seiner theologischen Federführung einen protestantischen Konsens in Österreich erbracht, der den deutschen Kirchen ein Beispiel hätte geben können. Im zu besprechenden Buch erörtert K. z. B. das ethische Problem der Patientenverfügung am Beispiel des österreichischen Pa­ tientenverfügungsgesetzes (188–202) mit durchaus berechtigten kritischen Untertönen im Hinblick auf die Stellungnahme der EKD aus dem Jahre 2005 (187). Selbstbestimmung und Fürsorge dürfen nicht paternalistisch unterlaufen werden, bzw. es muss der Versuchung widerstanden werden, »die Reichweite von Patientenverfügungen auf ›irreversibel zum Tode führende Grundleiden‹ und die ›Sterbephase‹ zu begrenzen« (198) (in einer Stellungnahme vom 11. Juli 2007 nahm der Rat der EKD dementsprechende Bedenken positiv auf, um die Rechtssicherheit für Patientinnen und Pa­tienten, Angehörige und Ärztinnen und Ärzte zu verbessern).
Das Buch geht überwiegend auf Vorträge und Aufsätze zurück, »die im Rahmen der Fort- und Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diakonie sowie Angehörigen heilender und pflegender Berufe entstanden sind« (9). Die Kapitel wurden gründlich überarbeitet. K. besitzt die Fähigkeit, komplexe ethische Sachverhalte lesbar und gedanklich transparent darzustellen. So ist dieses Buch nicht nur für Theologinnen und Theologen geeignet, um sich im besten Sinne kundig und sprachfähig zu machen, sondern auch und besonders für jene, die im klinischen und pflegerischen Alltag an den Schnittstellen zwischen Medizin- und Pflege­ethik, Seelsorge und Diakonie ihre je eigene Profession im Blick haben müssen.