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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

974–976

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Frühbauer, Johannes J.

Titel/Untertitel:

John Rawls’ »Theorie der Gerechtigkeit«.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. 192 S. 8° = Werkinterpretationen. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-534-15191-2.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Was ist gerecht? Wie sind die Güter einer Gesellschaft gerecht zu verteilen? Und wie sind Ungleichheiten gesellschaftlich fair zu gestalten, wenn sie unvermeidbar sind? Diese Fragen sind aktuell, wenn etwa über die Gesundheitsversorgung diskutiert wird oder die jetzige Generation über die Möglichkeiten ihrer Nachfahren entscheiden muss. Wer sich mit solchen Fragen beschäftigt, stößt schnell auf John Rawls. Im kleinen Kreis der politischen Philosophen im 20. Jh. gehört er zu den ganz Großen. Rawls’ Hauptwerke »A Theory of Justice« (1971) und »Political Liberalism« (1993) sind Klassiker der politischen Philosophie im Allgemeinen und des politischen Liberalismus im Besonderen. Dem ersten Werk wendet sich Johannes J. Frühbauer, Mitarbeiter am Lehrstuhl für wissenschaftliche Sozialethik an der Universität Augsburg, in diesem Buch zu. Dabei gibt F.s Vorgehen drei Schritte zu erkennen. Es geht F. erstens um eine geistesgeschichtliche Einordnung, zweitens um eine systematische Interpretation und drittens um eine anwendungsbezogene Kontextualisierung von »A Theory of Justice«. Im Hintergrund steht F.s auch 2007 erschienene Dissertationsschrift, die Rawls sozialethisch deutet.
Im ersten Schritt (13–39) diagnostiziert F., dass seit dem Er­scheinen von »A Theory of Justice« die politische Philosophie eine Wiederauferstehung feiert. Zuvor galt unter dem Einfluss des Positivismus, des Historismus und des Kulturrelativismus die Frage nach objektiven Normen auch im Bereich von Institutionen als irrational. Dagegen erneuert Rawls das klassisch neuzeitliche Paradigma des Vertragsdenkens, indem er Überlegungen einbezieht, die der Spieltheorie sowie den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften vertraut sind. Maßgeblich für die geistesgeschicht­liche Einordnung ist jedoch die inmitten noch so großer Übereinstimmung mit dem Utilitarismus noch größere Unterscheidung von ihm: Wie der Utilitarismus ist Rawls’ Theorie normativ, universal und unparteilich ausgerichtet. Doch gegen den Utilitaris­mus stellt Rawls die individuelle Grundfreiheit heraus: Das Wohl von vielen kann prinzipiell nicht auf Kosten der Freiheit von Einzelnen gehen. Rawls berühmte Begründung rekonstruiert F. im zweiten Schritt (40–127). So ist eine Gesellschaft nach »A Theory of Justice« dann gerecht, wenn sie von Grundsätzen bestimmt wird, für die sich ihre Akteure unter fairen Bedingungen frei entscheiden würden. Rawls entwirft dafür einen fiktiven Urzustand: Die Akteure kommen hinter einem »Schleier der Nichtwissens« (»veil of ignorance«, vgl. zur Problematik der Übersetzung: 161, Anm. 161) zusammen. Hinter diesem »Schleier« ist niemandem bekannt, wer er im wirklichen Leben ist. So spielen bei der Wahl der Grundsätze die individuellen Veranlagungen, die sozialen Machtverhältnisse und die Zugehörigkeit zu einer Generation keine Rolle. Nach F. kann man daher über Rawls hinausgehend die Entscheidung im Urzustand auf die eines einzigen Subjekts reduzieren. Rawls selbst zufolge einigen sich die Akteure im Urzustand auf zwei Grundsätze: Erstens werden allen Akteuren die gleichen politisch-rechtlichen Grundfreiheiten zugesprochen. Und zweitens sind sozio­ökonomische Ungleichheiten nur dann hinnehmbar, wenn sie der Chancengleichheit nicht widersprechen und am stärksten den schwächsten Akteuren nutzen. Mit der Verwirklichung dieser bei den Grundsätze sind sog. Grundgüter verbunden. Nach Rawls sind dies Rechte, Chancen, Einkommen und Vermögen sowie Selbstachtung.
Grundsätzlich lässt sich Rawls’ Theorie der Ge­rechtigkeit F. zufolge dreifach problematisieren: Während die libertäre Kritik mehr Freiheit fordert, klagt der Kommunitaris­mus mehr Gemeinschaft und der Feminismus mehr Solidarität ein. Dabei leuchtet F. besonders die letzte Kritik ein. Generell kann F. die Weiterentwicklung von Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption in »Political Liberalism« als Fortschreibung auf Grund kritischer Einsprüche werten. Dabei bleibt sich Rawls gegen verbreitete Deutungen, so F., in der Substanz treu. Doch Rawls weiß nun seine Konzeption stärker an westlich-demokratische Gesellschaften gebunden und bekommt die Pluralität von Weltanschauungen in den Blick. Im dritten Schritt (128–152) bezieht F. die Gerechtigkeitskonzeption von Rawls auf die Wirtschafts-, die Gesundheits-, die Umwelt- und die Informationsethik. Damit zeigt F., wie durch relativ geringe Veränderungen die Theorie von Rawls für die Entscheidung aktueller Debatten hilfreich sein kann. So ist etwa im Bereich der Gesundheitsethi k– über Rawls hinausgehend – eine Reflexion im Urzustand denkbar: Danach wissen die Akteure hinter dem »Schleier des Nichtwissens« nicht, ob sie krank sind bzw. werden und welche finanziellen Möglichkeiten sie haben. Entsprechend sind die grundlegenden Gesundheitsbedürfnisse dann nicht am Marktpreis, sondern im Sinn einer Solidargemeinschaft an der Bedürftigkeit zu orientieren.
Mit seinem Buch legt F. eine gut lesbare, übersichtlich gegliederte und auch über Register leicht erschließbare Interpretation von Rawls’ Klassiker »A Theory of Justice« vor. An Rawls selbst erinnert besonders F.s wohltuende Liberalität: Er führt seine Deutung begründet vor dem Hintergrund einschlägiger Forschungsdebatten und Problematisierungen vor, ohne den Leser zu einer bestimmten Interpretation zu nötigen: Geistvoller kann man eigentlich nicht in den Liberalismus einführen.