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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

972–974

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg, u. Arnulf von Scheliha [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. VI, 337 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 16. Kart. EUR 59,00. ISBN 3-16-148769-9.

Rezensent:

Michael Haspel

Wie bei Sammelwerken nicht selten der Fall, enthält dieser Band sehr disparate Einzelstudien. Auffällig ist, dass die Mehrzahl der theologischen Beiträge das Thema Freiheit weitgehend ohne Bezug zur Menschenwürde abhandeln. Als methodischer Zugang wird überwiegend die philosophiegeschichtliche Rekonstruktion des Freiheitsbegriffes der einschlägigen Autoren der deutschen Aufklärung und des deutschen Idealismus gewählt. Letztendlich bleiben diese Re­konstruktionen einer metaphysisch imprägnierten Problemstellung des Gegensatzes von Leib und Seele bzw. Geist und Materie etc. verhaftet. Man muss kein Anhänger seines Systems sein, um an diesem Punkte dem Diktum eines großen deutschen Sozialwissenschaftlers zumindest partiellen Wahrheitsgehalt zuzugestehen, der sagte, die gegenwärtige protestantische Theologie turne nur die Figuren des deutschen Idealismus nach. Wo bleibt die Aufnahme und die Auseinandersetzung mit der durch die Psychoan­a­lyse angestoßenen Erkenntnis, dass die Freiheitsproblematik keinesfalls im überlieferten Dualismus hin­rei­chend bearbeitet werden kann, sondern dass mit den in­ner­psychischen Unfreiheiten eine neue Qualität ins Spiel kommt? Genauso wäre zu fragen, wie denn die seit Mitte des 19. Jh.s diskutierten und in den Sozialwissenschaften verdichteten Fragen nach den sozialen Konstitutionsbedingungen von Freiheit und Unfreiheit systematisch in diesen am Idealismus orientierten individualistischen Diskurs Eingang finden sollen. Insofern überrascht es auch nicht, dass dort, wo die Frage der Menschenwürde überhaupt im Zusammenhang mit der Freiheit diskutiert wird, dies, vor allem im ersten Teil des Bandes, weitgehend ohne jeden Bezug zur gegenwärtigen sozial- und politikwissenschaftlichen sowie philosophischen Diskussion über Menschen würde und Menschenrechte geschieht. (Die Rekonstruktion des nordamerikanischen Verständnisses der Christlichen Freiheit in dem Beitrag von Christian Schwarke böte hier einige Ansätze.)
Die in den Band aufgenommenen Beiträge aus dem Bereich der Literatur, des Rechtes und der Hirnforschung bleiben als Solitäre unvermittelt neben den theologischen Aufsätzen stehen. Insofern ist der Band Ausdruck eines nicht unwesentlichen Teils der gegenwärtigen protestantischen systematisch-theologischen Forschung, der methodisch und inhaltlich durch die religionsphilosophische Rekonstruktion bestimmter Themen in der Tradition des deutschen Idealismus und Schleiermachers charakterisiert ist und ohne Auseinandersetzung mit gegenwärtigen gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen auszukommen meint. Methodisch schwierig und nicht immer nachzuvollziehen bleibt dadurch allerdings der Übergang von historischer Rekonstruktion und systematischer Entfaltung, steht Letztere dann doch in der Gefahr, die anachronistischen Kategorien der Ersten unausgewiesen zu transportieren.
Innerhalb dieses ersten, bei Weitem umfangreicheren Teils ist allerdings die fast schon monographische Studie Martin Ohsts zum reformatorischen Freiheitsverständnis gesondert anzuzeigen. Vom jeweils unterschiedenen Freiheitsverständnis Luthers und Me­lan­chthons ausgehend, zeigt der Kirchenhistoriker den notwendigen systematischen Zusammenhang von Freiheitsverständnis, Glaube und sittlichem Handeln in einer Klarheit und Deutlichkeit auf, die sowohl für die theologiegeschichtlichen als auch systematisch-ethischen Diskurse wichtige neue Impulse geben.
Im zweiten Teil des Bandes, der unter der Überschrift »Menschenwürde als Auslegung der Freiheit« steht, finden sich nun zwei Beiträge, die tatsächlich die Themenstellung des gesamten Bandes im Kontext gegenwärtiger Diskurse anschlussfähig aufnehmen.
In seinem Beitrag »›Menschenwürde‹ – Konkurrent oder Realisator der Christlichen Freiheit?« unternimmt Arnulf von Scheliha eine sozialhistorisch eingebettete ideengeschichtliche Rekonstruktion des Begriffes der Menschenwürde im Spannungsverhältnis zu dem der Christlichen Freiheit. Der Begriff der Menschenwürde ist für eine Rezeption im Protestantismus im 19. Jh. dadurch belastet, dass die Forderung nach einem »menschenwürdigen Dasein« sozialdemokratische Programm- und Kampfformel war. Insofern sowohl von sozialdemokratischer als auch von kirchlicher Seite wechselseitige weltanschauliche und politische Ablehnung und Abgrenzung gepflegt wurden, ergaben sich hier also semantische und begriffliche Blockaden. Von Scheliha arbeitet überzeugend heraus, dass Kants Begriff des Wertes, der noch inhaltsgleich mit dem der Würde Verwendung findet, bei Hegel in den metaphysischen Begriff der Unendlichkeit überführt wird. Dem Individuum wird demzufolge ein unendlicher Wert zugeschrieben. Dies kann im weiteren Protestantismus mit dem Konzept der Seele oder eben der Christlichen Freiheit zum Ausdruck gebracht werden. Zu Grunde liegt hier die metaphysische Leitdifferenz von Geist und Natur, die den Wert des Geistes gerade in der Qualität der Differenz zur Natur bemisst und insofern die Christliche Freiheit geradezu im Gegensatz zum natürlichen und gesellschaftlichen Leben versteht. Semantisch gerät dadurch der Begriff der Würde ins Abseits.
Daneben arbeitet von Scheliha einen zweiten Entwicklungsstrang heraus, der die Menschwürde als soziale bzw. sozialethische Norm auffasst, die in der Formulierung vom »menschenwürdigen Dasein« ihren Ausdruck findet. So verstanden wird die Kategorie der Menschenwürde im Evangelisch-sozialen Kongress diskutiert. Dieses Verständnis findet auch in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 151, Abs. 1) seinen Niederschlag, an deren Entstehen auch der protestantische Theologe Friedrich Naumann beteiligt war. Diese Tradition wird z. B. fortgeführt in den wirtschaftsethischen Überlegungen Georg Wünschs. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelingt es, auf dem Boden des Grundrechtsverständnisses des Grundgesetzes im (west-)deutschen Protes­tantismus beide Entwicklungsstränge wieder zusammenzuführen.
Wolfgang Vögele entfaltet dann unter dem Titel »Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit« eine kurze Theologie der Menschenwürde. Zunächst expliziert er eine Minimaldefinition von Menschenwürde. Konstitutiv sind die Universalität der Menschenwürde, das Verständnis der Würde als Voraussetzung des Menschseins, weiterhin, dass die Menschenwürde ein intrinsischer Wert ist, mithin also nicht erst erworben werden muss, und schließlich die Einsicht, dass Menschenwürde keine formal zu fassende Norm ist, sondern ein Prinzip, das rechtsbegründend ist und rechtlicher Konkretion in Freiheits- und Gleichheitsrechten bedarf. Für eine theologische Theorie der Menschenwürde hält Vögele es für grundlegend, dass der allgemeine Begriff der Menschenwürde begründungsoffen ist, also auf unterschiedliche Weise begründet werden kann, insofern der Inhalt hinreichend überlappend ist. Für die Theo­logie ergibt sich daraus die Notwendigkeit, einerseits für den Dialog mit anderen Begründungen offen zu sein, andererseits eine eigene Begründung der Menschenwürde zu entwickeln. Für diesen Ansatz wählt Vögele im Anschluss an Jack Donnelly den Begriff des »schwachen Relativismus«. Als spezifisch christlich-theologische Begründungsfigur rekurriert Vögele auf das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit des Menschen: In der Schöpfung der Menschen durch Gott zu seinem Bilde ist die gleiche und unantastbare Würde aller Menschen begründet. Daraus folgen dann für alle Menschen gleiche Menschenrechte und -pflichten.
Die zuletzt referierten beiden Beiträge dieses Bandes haben eine Argumentationslinie und eine Diskursform, die prinzipiell an den gegenwärtigen Menschenwürde- und Menschenrechtsdiskurs an­schlussfähig ist. Dies ermöglicht dann die kritische Auseinandersetzung über einzelne Argumente und Positionen, etwa das Verständnis der Rechte der sog. zweiten und dritten Dimension, oder ob die dargebotene theologische Begründung schon hinreichend ist. Von solchen Beiträgen wären dem Band mehr zu wünschen gewesen.