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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

971–972

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bormann, Franz-Josef

Titel/Untertitel:

Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation. John Rawls und die katholische Soziallehre.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Academic Press Fribourg; Freiburg-Wien: Herder 2006. 436 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 113. Kart. EUR 50,00. ISBN 978-3-7278-1546-1 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-29158-6 (Herder).

Rezensent:

Nils Ole Oermann

Als katholischer Moraltheologe leistet Franz-Josef Bormann in seiner Habilitationsschrift etwas in der aktuellen Diskussion höchst Notwendiges: Er analysiert im Detail den oft nur als politischen Kampfbegriff gebrauchten Terminus »soziale Gerechtigkeit«, füllt diesen wissenschaftlich-theologisch auf Grundlage seiner Analyse der Theory of Justice von John Rawls und setzt seine Ergebnisse in Bezug zur katholischen Soziallehre.
Die Kernfrage aus Sicht der Leserschaft ist: Wie und vor allem: für wen wird diese Lücke gefüllt? Für einen Teil seiner Leser verringert B. den wachsenden Abstand, der zwischen der katholischen Soziallehre und der liberalen Philosophie eines John Rawls entstanden ist. Wie nämlich ist Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit mit der katholischen Soziallehre und ihrem Konzept von »sozialer Gerechtigkeit« und »Gemeinwohl« – im Übrigen zwei Begriffe, die Oswald von Nell-Breuning synonym verwendet! – unter den Bedingungen der Globalisierung sinnvoll und symbiotisch zusammenzubringen? Für den anderen Teil seiner Leserschaft liefert B. umgekehrt zahlreiche gute Argumente dafür, warum Rawls’ Theory of Justice nur mit Mühe oder gar nicht mit dem Grundansatz der katholischen Soziallehre vereinbar ist.
In der Zusammenfassung der Arbeit ist sich B. dieses alter-alter seiner Analyse nur zu bewusst, wenn er als Fazit (399–409) titelt: »Zur (In-)Kompatibilität von Rawls’ Theorie mit dem lehramtlichen Gerechtigkeitsverständnis«. Das Grundproblem dabei ist, dass sich der Leser durch die Lektüre des Buches hindurch fragt, ob er es bei Rawls’ Gerechtigkeitstheorie und der katholischen Soziallehre in ihrer lehramtlichen Untermauerung mit Alternativen oder Optionen zu tun hat, d. h. schließen sich beide Denkweisen von Gerechtigkeit aus oder nicht? Diese Frage beantwortet B. treffend und gleichzeitig kryptisch am Ende mit: »Ja und Nein.«
Schon nach der Lektüre weniger Seiten bemerkt der Leser, dass er es bei B. mit einem intimen Kenner des Werkes des 2002 verstorbenen Harvarder Professors für Politische Philosophie zu tun hat. Gekonnt und informativ stellt B. Inhalt und Stärken (63–111) sowie Weiterentwicklung und Einwände (113–217) gegenüber der 1971 von Rawls veröffentlichten Theory of Justice dar. So stößt der ega­litäre Liberalist Rawls immer wieder an die nationalstaatlichen Grenzen seines eigenen Modells, das in der Folge dennoch eine globale Prägekraft entfaltet, eben weil es so klare Definitionen von und Kriterien für den Begriff »Gerechtigkeit« zu liefern im Stande ist. B. stellt aus seiner betont theologischen Perspektive an diesen Ansatz die entscheidenden Fragen: Wenn Rawls als Grundvoraussetzung für Gerechtigkeit Chancen- und Zugangsgerechtigkeit fordert, wie verhalten sich dann innerhalb dieser Forderung Individual- und Sozialethik zueinander? Wie sind dabei Partizipations- und Befähigungsgerechtigkeit zu verbinden?
In seiner Analyse stellt B. im Detail und kritisch auch Rawls’ Entwicklung nach 1971 dar (219–263) und kontrastiert diese kenntnisreich im zweiten Teil seiner Untersuchung mit der Entwick­lung des Konzeptes von »Sozialer Gerechtigkeit« innerhalb der katholischen Soziallehre (266–398) – etwa in der Diskussion um die »Option für die Armen« innerhalb der südamerikanischen Befreiungstheologie und erneut 1986 im Hirtenbrief der US-Bischöfe. Damit versetzt B. seine Leser je nach deren Perspektive in die Lage, fundiert für sich selbst zu beantworten, ob überhaupt und, wenn ja, wie »Personalität«, »Subsidiarität« und »Solidarität« als Kernprinzipien der katholischen Soziallehre sowie der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« mit dem Grundansatz der Theory of Justice von John Rawls zusammenpassen oder nicht. Diese ethisch wie theologisch pointierte Basis zur Beurteilung geschaffen zu haben, ist das unbestreitbare und bleibende Verdienst von B.s Arbeit.
Weniger als Kritikpunkt denn als Ausdruck eines Gefühls des Alleingelassenseins des Lesers ist im Ergebnis jedoch Folgendes festzuhalten. Eines kann und will B. in seinem pointierten Fazit offenbar nicht eindeutig beantworten: Derjenige, der den Terminus »soziale Gerechtigkeit« nicht als politischen Kampfbegriff, sondern als sozialphilosophisch und theologisch begründbaren Terminus gebraucht, findet bei Rawls sowie in der katholischen Soziallehre doch offenbar zwei sehr unterschiedliche, sich zuweilen widersprechende Fundierungen dieses Begriffes vor. Wie ist mit dieser Divergenz umzugehen?
Während John Rawls Gerechtigkeit in dem Sinne liberal definiert, dass er zuerst nach den Rechten und Pflichten des Individuums fragt, um dann zur Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft zu kommen, argumentiert die katholische Soziallehre in ihrem naturrechtlichen Rekurs genau umgekehrt: Soziale Gerechtigkeit entspricht dort dem Gemeinwohl, so dass die Rechte des Einzelnen erst dann definiert werden können, wenn die Verpflichtungen des Individuums gegenüber der Gemeinschaft hinreichend geklärt sind. Wem diese Zusammenfassung nach der Lektüre des Buches von B. zu pauschal erscheint, der möge sich fragen, an welchem Punkt sich John Rawls und etwa Oswald von Nell-Breuning vor dem Hintergrund ihres Verständnisses von »sozialer Gerechtigkeit« bzw. »Ge­meinwohl« fundamental unterscheiden würden: Während Rawls bei den Rechten des Einzelnen ansetzt, fragen die meisten Vertreter der katholischen Soziallehre zuerst nach der Rolle des Einzelnen in der Gemeinschaft. Dieser Unterschied bleibt nicht ohne Konsequenzen: Denn welche Gerechtigkeitskriterien wären zum Beispiel bei einer Enteignung von Privateigentum (cf. Art. 14 GG) als einem der stärksten individuellen Rechte zu berück­sichtigen? Welche Rechte wären stärker zu schützen? Vorrangig die der Gemeinschaft oder die des Individuums und bis zu welchem Punkt?
B. arbeitet diese inhärente Dichotomie des Begriffes »soziale Gerechtigkeit« in seiner Habilitationsschrift sehr gekonnt heraus, überlässt die Positionierung im Umgang mit dem Terminus »so­ziale Gerechtigkeit« aber letztlich ganz dem Leser. Doch vielleicht kann man von einer herausragenden wissenschaftlichen Analyse wie der vorgelegten auch gar nicht mehr erwarten.