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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

960–964

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Ottmar

Titel/Untertitel:

Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2007. 284 S. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7917-2063 0.

Rezensent:

Christof Gestrich

Die Abhandlung bewegt sich auf der Grenze zwischen Praktischer und Systematischer Theologie (Fundamentaltheologie). Das Buch ist ein Paradestück für die heute aus hermeneutischen Gründen vielfach angezeigte ›Neuvereinigung‹ dieser beiden Fächer: Man kann, zumal vom ›Jenseits‹, nicht dogmatisch-theologiegeschichtlich dozieren, ohne das ›praktische Umfeld‹ der angesprochenen Fragen zu kennen und ohne ihre sprachlichen ›Spuren‹ z. B. in der Lyrik, Kunst und Philosophie der Gegenwart wahrzunehmen. Um solche Integrationen ist der Vf. in seiner ›Eschatologie für denkende Zeitgenossen‹ bemüht. Trotz des Heraushebens des Jüngsten Gerichtes – der ›Schleuse zwischen alter und neuer Welt‹ (30.173) – hat der Vf., Tübinger Professor für katholische Praktische Theologie, fast alle benachbarten Themen der christlichen Lehre von den ›Letzten Dingen‹ mit erörtert.
Das in vielen Religionen und auch in der abendländischen Phi­losophie bis einschließlich Kant erwartete ›Endgericht‹ stellt die christliche Glaubenslehre vor schwere innere Spannungen: z. B. Christus Retter und Richter? Es evoziert heute auch die (vom Vf. eingehend berücksichtigte) Frage, was ›zuletzt‹ aus den ›Tätern‹ und den ›Opfern‹ der Geschichte werden wird. Angesichts der massiv gewordenen Verunsicherung breiter christlicher Schichten über die ›Letzten Dinge‹ und angesichts der stark zurückgegangenen Fähigkeit theologischer Lehrbücher, sich über das, was nach dem Tod kommt, in wegweisender Form zu äußern, ist es verdienstvoll, dass hier ein längst ausgewiesener und in heutiger ökumenischer Theologie bestens bewanderter Seelsorger einfühlsam und behutsam argumentierend auf drängende religiöse Probleme der Existenz eingeht.
Der Vf. war bisher schon mit mehreren, an zum Teil entlegenen Orten erschienenen Aufsätzen zum Thema der Eschatologie hervorgetreten. Die wichtigsten von ihnen sind in dieses Buch mit eingegangen. Trotz einiger Überschneidungen (z. B. sind ›Hölle‹ und ›abschließende Gerechtigkeit‹ in mehreren Kapiteln besprochen) ist das Buch keine bloße Aneinanderfügung dieser Vorarbeiten. Entstanden ist eine in sich thematisch folgerichtige Darstellung, die, um breiterer Lesbarkeit willen, auf einen wissenschaftlichen ›Apparat‹ und auf nur ›in der Zunft‹ spontan verständliche Fremdwörter verzichtet. Trotz innerer Gespräche mit gewichtigen Texten anderer (z. B. H. U. von Balthasar, K. Rahner, K. Barth und J. Ratzinger) fehlen – bewusst – die entsprechenden Belege in Fußnoten. Zitate wurden in der Regel nur durch Beifügung des Namens den jeweiligen Autor(inn)en zugewiesen. Im Blick waren auch heute gängige, vor allem katholische Eschatologie-Lehrbücher. Schade ist nur, dass in einer am Schluss beigegebenen Liste der im Gespräch gewesenen Fachliteratur nur ein Teil der de facto zitierten Titel erwähnt wird.
Das erste (einleitende) Kapitel des Buchs präsentiert ›Spuren‹ der eschatologischen Thematik im heutigen Leben. Es erörtert zudem, wie tief die Gerichts- und Gerechtigkeitsfrage den Gottesbegriff berührt (12–40). Kapitel 2 untersucht den ›frag-würdigen‹ Kontrast von himmlischem Lohn und höllischer Strafe im Jenseits (41–76). Kapitel 3 gibt der Klage des Menschen Raum angesichts der von Gottes Allmacht verweigerten Hilfen, Rettungen, Antworten und Sinnstiftungen in der Geschichte. Hier stellt sich zuletzt die Frage, ob Gott vor und gegenüber den Menschen sühnen müsse oder wolle (77–109). Das zentrale Kapitel 4 ist sodann der Gerechtigkeitsfrage selbst gewidmet. Diese wird in die neutestamentliche Rechtfertigungslehre eingeordnet (110–165). Kapitel 5 untersucht den Begriff »Himmel«, wobei auch der Sinn der Anrufung der besonderen ›Heiligen‹ der Kirche erörtert wird (166–214). Kapitel 6 spiegelt die gewonnenen eschatologischen Einsichten zurück auf Glaube und alltägliches Leben in der Gegenwart bzw. auf die christliche Ethik (215–244). Das abschließende siebente Kapitel schenkt dem (un­längst von Britta Brendle neu beleuchteten) inneren Zusam­men­hang des die Absolution erteilenden oder verweigernden kirchlichen Bußsakramentes mit dem Jüngsten Gericht Beachtung: der Priester als Richter (245 ff.; vgl. 23 ff.).
Systematisch-theologisch steht in dieser Monographie die Frage im Vordergrund, ob es, wenn den Menschen das Heil wirklich allein aus göttlicher Gnade zukommt (was dem Vf. theologisch unerschütterlich feststeht), wirklich auch durchs Jüngste Gericht vom Heil ewig ausgeschlossene Menschen geben könne. Neben dem Apokatastasis Panton-Problem drängt sich hier auch die z. B. von Luther stark thematisierte Frage an: Was vermag die relative menschliche Freiheit gegebenenfalls gegen Gottes freie Gnade? Oder was vermag die menschliche Freiheit zum eigenen Heil? Kann sie zur eigenen Erlösung beitragen oder andererseits sich Gott definitiv verweigern? Könnte sie sich sogar für die Hölle entscheiden? Der Vf. nähert sich im Ergebnis der fast nicht mehr (oder gerade noch) mit der traditionellen Kirchenlehre übereinstimmenden Hoffnung H. U. von Balthasars an, dass sich, wegen der heilsentscheidenden Bedeutung von Gottes Gnade, die Hölle ›schlussendlich‹ als leer erweise (130 f.). Schon zu Beginn des Buches gibt der Vf. das theologische Motto vor: »Alle werden die unerschöpfliche, für uns unvorstellbare Versöhnungsmacht Gottes schauen und zu­tiefst als Reueschmerz erleiden dürfen, was sie anderen zugefügt haben.« Zu hoffen ist, »dass sich niemand diesem Gerichtsdurchgang in die neue, erlöste Welt verweigert« (16).
Der Vf. meditiert, die Aussage seines Buchs zusammenfassend, Roger van der Weidens großes Bild vom Jüngsten Gericht in der Kapelle des Krankensaales des Hôtel-Dieu in Beaune (Burgund): Auf dem Bild »scheint es fast so, als wäre der Gang der Verurteilten ins Feuer hinein nicht endgültig, als könnten sie nach dem Durchgang durch das Feuer wieder zurückkehren, nochmals auf die Waage kommen und von der Erfahrung des Feuers her, nämlich ihrer Reue her, und in der Solidarität der Heiligen ... noch ... denen zugefügt werden, die ... durch das gotische Tor ... in den Himmel hineinkommen«. Gewiss: »Die Trennung von Gut und Bös ist der Anfang. Und die Verurteilung ist notwendig, um der Gerechtigkeit, um der Opfer und um des Leidens willen, das zugefügt wurde. Denn ein verwundeter Richter wird selber auf der Seite derer stehen, denen die Wunden geschlagen wurden.« Und doch wird er auch nicht »die Wunden übersehen, die das Feuer des Reueschmerzes auf Seiten der Täter schlagen wird«, so dass auch hier am Ende »zur Gerechtigkeit Gottes die Güte sich gesellt« (10).
Von besonderem Interesse für die Rezension dürfte sein: Wie überzeugend geht der Vf. mit der Tatsache der Unzugänglichkeit des ›Jenseits‹ für die menschliche Vernunft hermeneutisch um? Der Vf. schreibt: »Der Glaube verlöre seinen Charakter, behauptete er, er wüss­­te mehr als andere über diese Dinge. Er kann über den Tod hinaus sich nur im Sprechakt der Hoffnung artikulieren.« (17) Dies ist eine angemessene, wenngleich etwas abgekürzte Auskunft (denn es geht ja um die Hoffnung, die sich gerade aus den Fundamenten des christlichen Glaubens heraus ergibt). Jedenfalls ist zu begrüßen, dass der Vf. nicht nur vom ›Auferstehungsglauben‹, vom Glauben ans ›Jüngste Gericht‹ usw. spricht, sondern hier dem Hoffen eine eigene Bedeutung zuerkennt. Das ist in der neueren Theologie, zum Schaden für ihre ›eschatologische Vollmacht‹, oft zu kurz gekommen. Zwar sagt auch dieses Buch nicht eben viel darüber, was denn das Besondere und Eigene gerade des Hoffens sei. Aber es erklärt immerhin den Unterschied zwischen Wissen und Hoffen, und es kommt dadurch der Kritik zuvor, das Buch passe nicht mehr mit einem von der Wissenschaft geprägten heutigen Wirklichkeitsverständnis zusammen, es ergehe sich dort in Behauptungen, wo man nichts wissen könne.
Eine Stärke des Buches ist auch die, dass sein Vf. nicht das, was wir allenfalls wünschen können (nämlich: nicht ›im Tod definitiv zu enden‹), zu schnell als ›christliche Gegebenheit‹ erklärt. Er spricht sich vielmehr dafür aus, das für uns Unerträgliche mehr als bisher in Form der Klage vor Gott zu bringen (268 ff.). Soll die Eschatologie nicht zu einem Hort ungedeckter ›natürlicher Theologie‹ verkommen, müssen Christen eine »Spiritualität der Klage« (Fuchs) ent­falten.
Das Jüngste Gericht wird vom Vf. im Durchgang durch oft ge­stellte Fragen (Theodizeeproblem, Widersprüche in der Bibel selbst, Zeitpunkt des Gerichts schon jetzt oder erst am Ende aller Tage usw.) beleuchtet, so dass Fragende und Klagende sich verstanden und ›argumentativ weitergeführt‹ fühlen können. Im Ergebnis treten Wohltat und Erfreulichkeit des abschließenden Gottesgerichts, das Christi Werk zusammenfasst und krönt, deutlich hervor. An der Stelle einer mit geradezu kreatürlicher Furcht zu erwartenden ›Welt-Schlussveranstaltung‹ des Zorns (»dies irae, dies illa...«), die die kirchliche Tradition sehr wohl kannte, wird als Jüngstes Ge­richt eine Veranstaltung der göttlichen Gnade vor Augen geführt, die Christi Heilswerk zum Abschluss bringt – und von allen Chris­ten begrüßt werden wird.
Abschließend bleibt aus der Sicht des von der evangelischen Systematischen Theologie herkommenden Rezensenten zu bemerken, dass er über die Darstellung der Bedeutung der menschlichen Seele, der Heiligenverehrung, des Fegfeuers und Ablasses sowie des Bußsakramentes im letzten Drittel dieses Buchs etwas verwundert ist.
Bei der komplizierten Frage, ob Christen, statt an eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele zu glauben, auf die Auferweckung der mit Leib und Seele Gestorbenen durch Gott hoffen sollen, kommt der Vf. (188 ff.) zunächst zu der weiterführenden Aussage, dass man die Besonderheit der menschlichen Seele (die in der Gottesbeziehung liegt) nicht ausspielen dürfe gegen den Glauben an die leibliche Auferweckung am Jüngsten Tag. Solches theologische Gegeneinander-Ausspielen geschieht heute leider oft, und dabei bleibt dann, wie der Vf. richtig sieht, die theologische Würdigung der menschlichen ›Geistseele‹ auf der Strecke. Aber ob der Vf. sie nicht selbst ein wenig ›unterbestimmt‹ hat, wenn er sie äußerst zurückhaltend nur als eine bloße Fähigkeit des Menschen definiert (nämlich als die facultas, sich auf Gott zu beziehen)? Dann stünde die ›Geistseele‹ auf gleicher Stufe wie z. B. das Denken, das auch eine mit dem Tod (spätestens) endende menschliche Fähigkeit ist. Mit Recht zwar sucht der Vf. zu vermeiden, dass die menschliche Seele, wie in der kirchlichen Tradition geschehen, als eine unsterbliche Substanz gefasst wird. Aber hätte er sie nicht dennoch als die vor und nach dem Tod des Menschen von Gott gehaltene und Gott gegenüberstehende Konfiguration des menschlichen personalen Ichs bzw. der dynamischen menschlichen Identität bestimmen sollen?
Angesichts historisch bedingter Defizite im Umgang mit den Heiligen der Kirche, der unter Evangelischen ja ganz außer Übung gekommen ist, sind die Hinweise des Vf.s sehr beachtenswert, dass die Gottesbeziehung blass bleibt, wenn wir sie sich nicht in zu Herzen gehende Beispiele eines heiligmäßigen Lebens einzubetten vermögen und wenn wir uns nicht in einer lebendigen Gemeinschaft mit denen fühlen, auf deren Schultern wir geistlich stehen.
Aber warum sagt der Vf. abschwächend auch: Wenn die Gottesbeziehung blass bleibt, dann muss die Heiligenverehrung als Korrektiv aufgenommen werden? (200: »So nimmt das Kirchenvolk über die Heiligen jene Beziehung zum Himmel auf, die in entfernten, verengten oder gar zerstörenden Gottesbildern keinen Raum mehr haben.«; 199: »Wo die offizielle Verkündigung der Kirche Gott als herrschsüchtigen Übervater und Christus als Sieger und erbarmungslosen Richter verkündet ..., ist die Heiligenverehrung als notwendige ›gesunde‹ Reaktion auf ›ungesunde‹ Verkündigungsverhältnisse anzusehen«.) Diskre­ditiert diese Argumentation nicht entweder die Heiligenverehrung oder die kirchliche Rede von Gott und Christus völlig? Muss die Heiligenverehrung, wenn sie überhaupt etwas bedeuten soll, nicht gerade mit ›gesunder‹, ›starker‹ Lehre von Gott und Christus zusammengehen? Mit Recht weist der Vf. in seinem Kapitel über die Heiligen doch auch auf die unerlässliche Solidarität der Lebenden mit den schon Gestorbenen hin, die auch in nichtchristlichen Religionen ein großes Thema ist und die sogar ein postumes Sühnen von Nachkommen für die Schuld geliebter oder eben nahestehender Gestorbener möglich macht. Der Vf. ist sensibel dafür, dass in jeder Menschenseele auch viele andere Menschenseelen vor und nach ihr mit enthalten sind und dass die menschheitlichen Geschicke überhaupt miteinander vernetzt sind. Das kann nicht nur den Sinn des Jüngsten Gerichtes, sondern auch das menschliche ›Seelenbedürfnis‹ nach wechselseitiger Fürbitte der (christlich) Lebenden und der (christlich gestorbenen) Seelen im Himmel in eigener Weise beleuchten. Auch evangelische Christen hoffen – jedenfalls nach ihrer Abendmahlsliturgie –, dass die vor uns Gestorbenen und die Engel zusammen mit uns jetzt und hier Lebenden Gott loben und Gott anrufen für alle, die es nötig haben.
Über Ablass und Fegfeuer äußert sich der Vf. nur kurz. In beiden sieht er, die traditionelle katholische Kirchenlehre bewusst selektiv zuspitzend, Möglichkeiten der Läuterung sowie des Empfindens eines heilsamen ›Reueschmerzes‹, die dem Jüngsten Gericht entweder vorangehen oder aber ihm nachfolgen (nämlich falls Menschen schon in ihrem Glauben oder gleich bei ihrem Sterben durch dieses Endgericht hindurchgehen konnten). Offenkundig ist hier nur von einem Nebenzweiglein des dem Vf. viel wichtigeren Bußsakramentes die Rede.
Der Vf. sagt, zu widersprechen sei der (sprich: lutherischen) Reduktion des Bußsakramentes auf confessio oris und absolutio (unter Absehen von der durch priesterlichen Richterspruch auferlegten satisfactio operum; vgl. 249)! Gerade wegen seiner Grundintention, von Schuld zu lösen, müsse das Bußsakrament auch (heilsam) strafen können. Hier sind die Dinge m. E. etwas im Unklaren geblieben. Denn dem Vf. scheint es – auch für evangelische Theologie völlig zustimmungsfähig! – darauf anzukommen, an die trotz der Sündenvergebung notwendige Aufarbeitung vergebener Schuld zu erinnern. Letztere darf mit der Absolution nicht einfach ›weggewischt‹ werden. Zu fragen ist aber, ob diese Aufarbeitung, die der Vf. auch ›Genugtuung‹ nennt, wirklich an eine Ablass­praxis (vgl. 256 f.) und an ein Richteramt des Beichtvaters oder der Beichtmutter zu knüpfen ist. Ob hier nicht vielmehr der bedingungslose Zuspruch des Evangeliums der einzig richtige ›Augenöffner‹ für die Möglichkeit ist, dann zur eigenen Schuld auch zu stehen und sich um sühnende Maßnahmen zu mühen?
Die Monographie hat dennoch das Charisma, zahlreiche hilfreiche eschatologische Denkanstöße zu vermitteln und Gespräche über schon beiseitegeschobene dogmatische ›Erbstücke‹ wieder möglich zu machen. Dafür ist dem Vf. zu danken; dem Buch ist ökume­nische Beachtung zu wünschen!