Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2008

Spalte:

954–955

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Peiter, Hermann

Titel/Untertitel:

Wissenschaft im Würgegriff von SED und DDR-Zensur. Ein nicht nur persönlicher Rückblick eines theo­logischen Schleiermacher-Forschers auf die Zeit des Prager Frühlings nebst einem Exkurs über das Verhältnis zwischen der ersten textkritischen Ausgabe der Christlichen Sittenlehre Schleiermachers und den monarchischen, vordemokratischen Grundsätzen der Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe.

Verlag:

Berlin: LIT 2006. 284 S. gr.8° = Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 10. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-8258-7907-5.

Rezensent:

Christoph Markschies

Neben dem, was die Historikerzunft sine ira et studio schreibt (oder mindestens zu schreiben versucht), steht insbesondere auf dem Feld der Zeitgeschichte stets auch das, woran sich Zeitzeugen erinnern. Wenn in diesem Band – wie schon der barocke Titel anzeigt – durchaus mit einiger Emotion Rückschau gehalten wird, dann steht der nachgeborene Rezensent zunächst einmal beklommen vor dem Ausmaß an ideologisch motivierter Verbohrtheit und persönlicher Gemeinheit, die einem gelehrten Wissenschaftler of­fen­kundig zugemutet wurde – wer wollte angesichts eines Lebens unter solchen Umständen auf einer emotionsfreien Darstellung be­stehen?
P. versucht bereits in seiner Einführung zu erklären, warum hier nicht nur ein individueller Lebensweg geschildert wird, sondern gleichzeitig auch die Probleme der Edition der Werke Schleiermachers in verschiedenen politischen Systemen, wissenschaftspoli­tischen Kontexten und persönlichen Zusammenhängen behandelt werden und eine persönliche Sicht auf die Geschichte der evange­lischen Kirche im sozialistischen Staat geboten wird. Vordergründig geht es um das Problem, ob von einem Habilitationsaspiranten der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität die erste textkritische Ausgabe der Sittenlehre Schleiermachers in einer preiswerteren wie allgemeineren Reihe veröffentlicht werden kann – mit diesem Projekt wird P. 1965 bzw. 1967 beauftragt (16–19.115–117). Aber diese geplante Veröffentlichung, die bis auf den heutigen Tag (von der reprographierten Habilitationsschrift einmal abgesehen) noch nicht zu Stand und Wesen gekommen ist, steht natürlich in übergeordneten Kontexten: Die Zensoren (ihre Identitäten bleiben im Dunkel) verbanden mit der Veröffentlichung bestimmte Erwartungen: Schleiermacher sollte in der Interpretation P.s »Argumente gegen staatskirchlichen und kirchenfürstlichen Konservativismus« liefern (24). P. wiederum flüchtet sich in die Editionsarbeit, weil er hofft, hier ideologiefrei forschen zu können (46), und muss erleben, dass es solche ideologiefreien Bereiche mindestens in der Akademie der Wissenschaften und der Theologischen Fakultät bzw. Sektion der Humboldt-Universität nicht geben soll. Ross und Reiter nennt P. in seiner Monographie weitgehend ohne Scheu. Dazu versucht er sich an einer Art Kulturgeschichte von Wissenschaft unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus (85: »Abwertung der Kühnheit zugunsten der sozialistischen Langeweile«). Schließlich de­battiert er mit den Herausgebern der kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe über Editionsprinzipien (154–165) und cha­rakterisiert deren Orientierung an einem Leittext (einer bestimmten Kollegnachschrift) als »monarchisches Prinzip«: »Der Leittext bin ich« (157).
Das Buch ist auf Grund dieser sehr vermischten Gegenstände eher mühsam zu lesen, zudem auch, weil eine Fülle von Quellen­zitaten (auch aus der Aktenüberlieferung) in Klammern in den Haupttext eingefügt ist. Der durch den einstigen Union-Verlag vermittelte Konflikt zwischen dem Editor und seinen Zensoren spielt auf nahezu jeder Seite implizit oder explizit eine Rolle, ohne dass der Leser schon die grundlegende Chronologie der Edition und ihrer Ablehnung kennt. In gewisser Weise könnte man das ganze Buch als ein »Gespräch mit den Zensoren« apostrophieren und dann die Frage anschließen, ob das Vorbringen von Argumenten nicht ex post implizit eine Rationalität des Verfahrens voraussetzt, die so nie gegeben war. Verständlich ist, dass gelegentlich schroffe Urteile ohne alle Absicherung mitgeteilt werden (»So unsolide Gerhard Besier in aller Regel auch gearbeitet hat …«, 37), weniger verständlich dagegen, dass allerlei Druckfehler (selbst in Überschriften) stehen geblieben sind. Ein Personenregister wäre fein gewesen.
Ob ein solches Buch wirklich der Ort ist, um über die Grundprinzipien der KGA zu diskutieren oder gar die Frage nach Recht und Grenze eines Leittextes in Editionen zu stellen, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Schließlich wird diese Debatte nicht nur im Blick auf Schleiermacher längst an verschiedenen Stellen ge­führt und sollte nicht mit Metaphern aus der Politik (Monarchie versus Demokratie) aufgeladen werden. Peter Schäfers synoptische Präsentation der jüdischen Mystik ist nicht »demokratischer« als die Edition eines Leittextes durch Hugo Odeberg. Zurück bleibt aber nicht dies, sondern der starke Eindruck eines repräsentativen Stücks des Genres »Bekenntnisse«, einer Beschreibung eines be­schädigten Lebens aus theologischer Perspektive.