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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

286–288

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Scholtz, Gunter

Titel/Untertitel:

Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften.

Verlag:

Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995. 326 S. kl.8° = Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1191. Kart. DM 24,80. ISBN 3-518-28791-5.

Rezensent:

Christian Albrecht

"Jedes Verstehen des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehen des Ganzen." Diese schon in Schleiermachers frühen Aphorismen zurHermeneutik sich findende und stetswiederholte Grundregel virtuosen Verstehens ist in der Interpretation dieser Entwürfe selbst nicht immer hinreichend beherzigt worden. ­ Zwar darf mittlerweile als unumstritten gelten, daß die von Schleiermacher entfalteten Wissenschaftsdisziplinen sachgemäß nur aus ihrer funktionalen Fundierung in der philosophischen Ethik ­ als der systematisch konstitutiven Theorie allen menschlich-geschichtlichen Wissens und Handelns in der Kultur ­ verstanden werden können. Dort weist Schleiermacher der Hermeneutik unzweideutig den Status einer technischen Kunstlehre ­ also: einer methodologischen Disziplin ­ zu, und in diesem Kontext müßten alle seine materialen Entfaltungen der Hermeneutik gelesen werden. Doch im Zusammenhang der Heideggerschen Umwidmung der philosophischen Hermeneutik in die philosophische Fundamentalontologie, in deren Gefolge der von Gadamer eingeleitete Haupt-Rezeptionsstrom der Schleiermacherschen Hermeneutik steht, ist dieser Sachverhalt eher in den Hintergrund getreten. Zusätzlich begünstigt durch die fragmentarische Überlieferungsgestalt des Schleiermacherschen ‘uvre, wurden Einzelaussagen infolge jenes Verzichtes auf die Erhebung ihrer Systemstelle zu Bruchstücken, derer sich die Integral-Hermeneutik des 20. Jh.s zwanglos und mit vernehmlichem Überbietungsanspruch bediente.

Demgegenüber besteht die Leistung der von dem Bochumer Philosophen Gunter Scholtz vorgelegten Studien zunächst darin, diesen "Rezeptionsunfall" (86) aufzuklären und die spezifische Funktion von Schleiermachers Hermeneutik im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Gesamtsystems präzise zu rekonstruieren. Zwölf teils erstmalig zum Druck beförderte, durch Überarbeitungen fein aufeinander abgestimmte und mit einem ausführlichen Gesamtregister versehene Aufsätze aus den Jahren 1979-1994 sind in diesem Band zusammengestellt. Die Kapitel I bis VI befassen sich in grundlegendem Sinne mit dem in Frage stehenden Thema "Ethik und Hermeneutik". Scholtz verknüpft ­ in bester Tradition ­ die wissenschaftssystematischen Eckdaten der Ethik mit einer akribischen Exegese von Schleiermachers Einzelentwürfen zur Hermeneutik (cf. hierzu bes. 96 ff., 118-120) und gelangt zu dem Ergebnis: Schleiermachers Hermeneutik ist keine philosophische Hermeneutik im eigentlichen Sinne, die die transzendentalen Bedingungen des Wissens zu erheben beabsichtigte. Eine solche philosophische Theorie liegt vielmehr in der Ethik und in der Dialektik vor (99. 107. 138), und an diesen hätte die neuere philosophische Hermeneutik sich abzuarbeiten (92). Schleiermachers Fassung der Hermeneutik als einer technischen Disziplin weist dieser dagegen den Status einer Methodenlehre (98) zu, und genau darin gründet ihre lebenspraktische und sittliche Dimension (141).

Die sachliche Pointe dieser wissenschaftssystematischen Zusammenhänge erweist sich darin, daß Ethik und Hermeneutik nun in der Schleiermacherschen Konzeption in einem spezifischen Funktionalverhältnis stehen: Reformuliert die Ethik den transzendental fundierten, funktional differenzierten Zusammenhang aller (spekulativen, empirischen, kritischen, technischen) Einzelwissenschaften, so stellt die Hermeneutik die aus diesem Anspruch ableitbaren, also: transzendentallogisch begründeten technischen Mittel für die praktische Realisierung dieses Kommunikationszusammenhanges bereit. Und dies vollzieht sich in der Etablierung von (rechtsphilosophischen, theologischen, ästhetischen, logischen, philologischen, historischen u. s. w.) Spezialhermeneutiken, deren je spezifischen, funktional bestimmten Ausformungen dann die Kapitel VII-XII gewidmet sind. So hat beispielsweise die an den spezifischen Bedingungen der positiven Wissenschaft "Theologie" sich orientierende theologische Spezialhermeneutik die praktisch-kommunikative Realisierung des ethisch fundierten Zusammenhanges zwischen Theologie und Philosophie zu gewährleisten (203).

Neben dieser Rekonstruktionsleistung steht jedoch eine zweite, die Methodik der Forschungsgeschichte vorantreibende Leistung des vorgelegten Bandes. Die innere Verbundenheit der seit über zwei Jahrzehnten schulmäßig betriebenen, im wesentlichen auf die Impulse H.-J. Birkners zurückgehenden Schleiermacher-Forschung (der Scholtz sich verbunden weiß [17] und der er seinerseits als ihr Historiograph in dem 1984 erschienenen EdF-Band "Die Philosophie Schleiermachers" zu historischer und systematischer Selbstverständigung verhalf) besteht in dem durchgängigen Bemühen um die Kontextualisierung des jeweiligen Interpretationsgegenstandes. Bedingt durch die jeweilige Fragehinsicht konnte der Akzent dabei entweder stärker auf der Kontextualisierung des Gegenstandes im Horizont von Schleiermachers philosophisch-theologischem Gesamtsystem oder aber auf der Kontextualisierung im Horizont des die Schleiermacherschen Ausführungen prägenden oder durch sie geprägten Diskurszusammenhanges liegen. In der von Sch. vorgelegten Interpretation der Hermeneutik treten nun beide Formen, die binnensystematische und die problemgeschichtliche Kontextualisierung, in eine ausgewogene und sich je gegenseitig erhellende Verbindung. Denn Sch. rekonstruiert die Schleiermachersche Hermeneutik sowohl im Blick auf deren Zusammenhang mit dem Schleiermacherschen Gesamtsystem als auch im Blick auf die ­ zeitgenössischen oder zeitversetzten ­ Gesprächspartner Schleiermachers, so daß die innere Gestalt des Schleiermacherschen Programmes zusätzlich profiliert wird durch die Kontrastierung nach außen. Exemplarisch zu nennen ist hier das Kap. VI zum Thema "Die Philosophie und die Wissenschaften in der Akademie. Schleiermacher und Hegel". Sch. beleuchtet Schleiermachers Konzeption der Akademie zunächst auf dem Hintergrund von dessen Wissenschaftsbegriff, sodann aber auch durch deren Gegenüberstellung mit Hegels Sozietät und dem diese Institutsgründung leitenden Wissenschaftsverständnis. Muß die Sozietät als der Versuch einer institutionellen Ingeltungstellung spekulativen Ideenwissens gelten, so bestand das Programm der Akademie demgegenüber in der Realisierung eines wissenstheoretisch begründeten Kommunikationsprozesses.

Entsprechend verfahren die übrigen Kapitel. Schleiermachers Platon-Rezeption (258-285), Schleiermachers kulturtheoretische und geschichtsphilosophische Differenzen zu Hegel (35-64. 286-313), das Verhältnis seiner Rechtsphilosophie zu der Savignys (170-192), seiner Musikphilosophie zu der Dahlhaus’ u. a. (212-234), seiner Dialektik zu Diltheys erkenntnistheoretischer Logik (235-257) ­ jedes einzelne Kapitel wie auch eher versteckte Andeutungen (vgl. etwa die Kontrastierungen der Schleiermacherschen Kulturtheorie mit derjenigen Luhmanns, Derridas und Lévinas’ [14 f. 60-62 u. ö.]) rekonstruieren den je diskursiven Kontext stets auf dem Hintergrund binnensystematischer Zusammenhänge. Möglicherweise werden sich in der künftigen Schleiermacherforschung erst unter Zuhilfenahme dieser von Sch. exemplarisch vorgeführten präzisierten Methodik die immer noch unübersehbaren Beziehungslosigkeiten zwischen philosophisch und theologisch situierten Forschungsergebnissen ­ wie sie etwa gerade im Zusammenhang der unterschiedlichen Einschätzung des Stellenwertes von Ethik und Hermeneutik unverändert einschlägig sind ­ überwinden lassen. Jedenfalls scheint es kein Zufall zu sein, daß die methodische Verfeinerung hier, im Zusammenhang der Hermeneutik-Forschung, erfolgen konnte.

Der vorgelegte Band empfiehlt nicht Schleiermacher als "universalen Problemlöser" (17) ­ er empfiehlt die systemorientierte Rekonstruktion historischer Gesprächskonstellationen als den angemessenen Weg zur Deutung gegenwärtiger Debattenlagen. Indem aber diese Rekonstruktion selbst sich ihrer stets geschichtlichen Gestalt bewußt ist, beugt sie allen Hermetiken vor und stellt ihrerseits nichts Geringeres als die Anleitung zur selbständig weiterbildenden Aneignung angerissener Perspektiven dar. Doch genau darin realisiert sich der von Schleiermacher benannte tiefere Sinn allen Verstehens und Auslegens: "Es ist das allmähliche Sichselbstfinden des denkenden Geistes."