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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

948–950

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ohlidal, Anna, u. Stefan Samerski [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570–1700.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2006. 337 S. m. Abb. u. 1 Kt. gr.8° = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 28. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-515-08932-6.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Der Band ist das Ergebnis eines Workshops am Leipziger »Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas«, und in der Einleitung wird mit Recht darauf hingewiesen, dass es bisher an einer Ausweitung der Konfessionalisierungsforschung auf diesen geographischen Raum fehlte (7). Dass sich der Jesuitenorden als Untersuchungsgegenstand besonders eignet, versteht sich von selbst, doch geht es hier eben speziell um jesuitische Frömmigkeitsformen und jesuitische Spiritualität und ihre jeweilige Vermittlung und Etablierung im lokalen und regionalen Kontext (9 f.). Der methodische Ansatz liegt also in einem mikrohis­torischen Zugang auf empirischer Basis (11). Diese Basis wird in den einzelnen Beiträgen je nach Quellenlage und Untersuchungsgegenstand ganz unterschiedlich erfasst.
In einer ersten Gruppe von Aufsätzen geht es um die vertikalen Beziehungen innerhalb des Ordens, zwischen Orden und Kirche oder zwischen kirchlichen Akteuren und Kirchenvolk. So lernt man aus Gábor Tüskés’ Beitrag zu Jesuitenliteratur und Frömmigkeitspraxis in Ungarn im 16. und 17. Jh., dass die jesuitische Erbauungsliteratur in den lesefähigen Oberschichten eine nicht unwesent­liche Wirkung auf die Formierung einer erneuerten katholischen Frömmigkeit hatte, wobei einerseits auf regionale Umstände Rück­sicht genommen, andererseits aber die Integration in die »Pietas Austriaca« betrieben wurde. Auf ähnliche Adaptionstendenzen verweist Maria Cra čiun in ihrem Beitrag über Siebenbürgen (Transsylvanien), wofür sie vor allem Briefe von Jesuiten auswertet: Hier wurde besonders auf die Revitalisierung liturgischer Traditionen gesetzt, wenn auch ohne nachhaltigen Erfolg. Jens Baumgarten untersucht die Bildprogramme der Jesuitenkirchen in Breslau und Glatz unter den Gesichtspunkten des »Transitorischen« (das einen Betrachter voraussetzt, welcher das Gebäude durchschreitet) und des »Performativen« (Theatralischen) und ordnet diese Gesichtspunkte in die Vorgeschichte der modernen Propaganda ein. Stefan Samerski wiederum widmet sich der Annenbruderschaft im an­fangs noch protestantisch dominierten Olmütz: Von den Jesuiten neu begründet, wurde sie zum Vehikel, um überhaupt in Olmütz heimisch zu werden, führte aber bald ein Eigenleben. Das prominenteste Beispiel aus der Kunstgeschichte in diesem Buch behandelt Michal Šroneˇk mit seinem Beitrag zu den Statuen der Karlsbrücke in Prag, die jesuitische Heilige darstellen.
Die zweite Gruppe der Beiträge thematisiert die horizontalen Beziehungen der Jesuiten zu anderen Organisationen innerhalb der katholischen Kirche. So fragt Helga Penz nach der »Jesuitisierung der alten Orden«, konkret nach dem Einfluss der Jesuiten auf österreichische Stifte wie Melk oder Göttweig. Wohl gab es »strategische Partnerschaften«, nicht zuletzt zur Festigung von Frömmigkeitsformen, es kam aber auch zu Auseinandersetzungen. Ähnliche Ein- und Wechselwirkungen beobachtet István Fazekas in der Priesterausbildung am Ungarischen Seminar (Pazmaneum) in Wien, in dem nicht nur die jesuitische Spiritualität eine wichtige Rolle spielte, sondern auch die Einübung der Verehrung ungarischer Landesheiliger. Ganz andere Querverbindungen untersucht Petr Mat’a in seinem Beitrag über charismatisch-ekstatische Frömmigkeitsformen bei Karmelitern und Jesuiten, für die exemplarisch Cyrillus a Matre Dei und Hieronymus Gladich stehen. Beide waren allerdings in ihren Ordensgemeinschaften auch nicht un­umstritten. Mit dem Grad des Einflusses der Jesuiten auf die Intensivierung von Wallfahrten in Böhmen befasst sich Anna Ohlidal, wobei sie verschiedene Akteure in einem Netzwerk verbunden sieht. Der Beitrag von Martin Čičo wiederum hat den Anteil der Jesuiten an der Errichtung der Kalvarienberge in Österreich und Ungarn zum Thema, und hier kam es vor allem auf die Etablierung von und die Zusammenarbeit mit Bruderschaften an.
Die dritte Gruppe der Beiträge steht unter dem Oberthema »Interkonfessionelle Interaktion«. Lilya Berezhnaya widmet sich der Tätigkeit zweier polnischer Jesuiten in Polen-Litauen. Hier geht es also um die Beziehungen zur Orthodoxie. Dabei prallten in intellektueller Hinsicht zwei Welten aufeinander, während manche Motive in der Frömmigkeit durchaus verwandt und gerade darum strittig waren – das Hauptbeispiel ist hier die Eschatologie. Auf jesuitisch-protestantische Wechselbeziehungen ausgerichtet ist der Beitrag von Pál Ács über das Geschichtskonzept des ungarischen Jesuiten Péter Pázmány, in dem der Gedanke des drohenden Gerichtes (durch die Türken) über das (vom wahren Glauben) abgefallene Volk (der Ungarn) eine zentrale Bedeutung hatte. Hierzu werden vor allem Predigten Pázmánys ausgewertet, in denen sich eine Aufnahme und zugleich eine Abwandlung zeitgleicher protes­tantisch-apokalyptischer Vorstellungen finden. Marcin Wi sl ´ocki schließlich geht den umgekehrten Weg, indem er nach der Rezeption jesuitischer Ideen in der evangelischen Frömmigkeit und Kirchenkunst Pommerns fragt; im Zentrum steht dabei die Emble­matik.
Eine Schlussauswertung fehlt, und so bleiben die einzelnen, thematisch sehr unterschiedlichen Beiträge letztlich recht unverbunden nebeneinander stehen. Im Rückblick lohnt es sich, die ab­schließenden Fazits der einzelnen Beiträge noch einmal zu lesen. Sind die jeweiligen Ergebnisse aber nun exemplarisch, paradigmatisch, singulär? Gilt das, was im Einzelnen »vor Ort« festgestellt wurde, auch an anderen Orten? Insofern sind die Tagung und dieser Band eher als der Versuch zu verstehen, Probebohrungen in einem weiteren Umkreis vorzunehmen. »Frömmigkeits­kul­tu­r[en]« ist eben ein sehr weiter Begriff, und er wird von manchen Beiträgen auch nicht in einem engen Sinne auf Frömmigkeit und Spiritualität bezogen. In der Einleitung wird ja nicht zufällig die weiterführende Frage gestellt, ob es in der Frühen Neuzeit überhaupt ein typisches Frömmigkeitsprofil der Jesuiten gab (10). Diese Frage klingt da wieder an, wo Gábor Tüskés die »Jesuitenfrömmigkeit« als eklektisch bezeichnet (36) und wo z. B. Helga Penz nach der »Jesuitisierung« fragt.
Wenn man davon ausgehen kann, dass die gemachten Beobachtungen eine gewisse Signifikanz haben, zeigen die Beiträge, dass die Jesuiten ihre Ziele durch eine in viele Richtungen reichende Vernetzung erreichten, die nicht immer strategisch geplant war und auch nicht immer zum Ziel führte. Die große Geschichte der »Konfessionalisierung« oder eben der »Gegenreformation« wird durch solche Einzelstudien neu lesbar, aber dieses Phänomen ist ja schon aus der Konfessionalisierungsdebatte der letzten Jahre be­kannt. Erhellend ist die oft sehr intensive Analyse von Quellen ganz unterschiedlicher Art und Herkunft, seien es zum Beispiel Briefe, Predigten oder Kunstwerke. Die Medialisierung von Frömmigkeit durch Bilder, das Theater und Erbauungsliteratur hatte offensichtlich eine wichtige Funktion, auch im Hinblick auf eine die Sinnlichkeit ansprechende Frömmigkeit. Festzuhalten ist die Erkenntnis, dass gerade die Variierung älterer Traditionen und ihre Anpassung an aktuelle Bedürfnisse sowie auch die Anknüpfung an den inzwischen etablierten Protestantismus besonders erfolgversprechend waren. Womöglich waren die jesuitischen Frömmigkeitskulturen in dieser Zeit doch die dynamischeren und anpassungs­fähigeren.