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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

945–948

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, u. Wolf-Friedrich Schäufele [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Konflikt und Kooperation. Religiöse Gemeinschaften in Stadt und Erzstift Mainz in Spätmittelalter und Neuzeit.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2006. VIII, 272 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, 70. Geb. EUR 34,80. ISBN 978-3-8053-3595-9.

Rezensent:

Johannes Schilling

Der Band versteht sich nach dem Erscheinen des Handbuchs der Mainzer Kirchengeschichte (1997–2002) als ein Komplementärunternehmen zu diesem, als ein Buch, in dem Konflikte und Rivalitäten, Zusammenleben und Kooperation verschiedener religiöser Bewegungen und Konfessionen und damit die »nicht zu unterschätzenden dynamischen Prozesse und Beziehungen exemplarisch« beleuchtet und »die Vielfalt und Lebendigkeit christlichen Lebens in Mainz« (VII) illustriert werden sollen. Die Themen der einzelnen Beiträge reichen vom späten Mittelalter bis in die Mitte des 19. Jh.s; im Folgenden soll schwerpunktmäßig auf die Aufsätze zum späten Mittelalter und zur Reformation eingegangen werden.
Volker Leppin handelt in »Jenseits [Hieße es nicht zutreffender: »Diesseits ...«?] der Häresie. Zur Stellung der Beginen im sozialen Beziehungsgeflecht des spätmittelalterlichen Mainz« (1–15) über die Pluralität des religiösen Lebens in der Bischofsstadt, den Wunsch und die Versuche der Beginen, geistliche Versorgung (auch) außerhalb des Pfarrklerus zu erhalten, und die Reaktion der Pfarrer, »eine soziale und religiöse Homogenisierung des städtischen Gemein- und Gemeindewesens« (14) zu erreichen. Eine auf S. 1 gelegte Spur im Hinblick auf das Verhältnis von »spätmittelalterlichem« und »vorreformatorischem« religiösen Leben wird freilich nicht weiter verfolgt.
Ulrich Köpf behandelt »Gabriel Biel als Mainzer Domprediger« (17–33). Biel war von kurz vor Weihnachten 1457 bis spätestens Frühjahr 1466 Domprediger (26), hielt dort eine große Zahl von Predigten, aus denen sich auch interessante Bemerkungen zur Predigttheorie gewinnen lassen, so etwa das Aufbauprinzip: »Primo textus, secundo doctrina, tertio de fide« (27). Köpf behandelt vor allem die Überlieferung von Biels Predigten und die Herausgebertätigkeit seines Schülers Wendelin Steinbach, der die Texte seines Lehrers so bearbeitete, dass aus diesen Bearbeitungen Biels Wortlaut nicht rekonstruiert werden kann. Darüber hinaus ließ Steinbach die theologisch anspruchsvolleren dritten Teile der Predigten Biels durchweg aus. »Er hat Biels Texte einfach zu Handbüchern mit Musterpredigten oder Lesepredigten für den durchschnittlichen Pfarrer und die durchschnittliche Gemeinde gemacht, de­nen eine theologische Vertiefung nicht zugemutet werden konnte« (31). Biels lateinische Predigtautographen waren Vorbereitungskonzepte; die Predigten selbst hielt er auf Deutsch, wie zahlreiche deutsche Begriffe in den Handschriften belegen. Abschließend plädiert Köpf für eine vollständige kritische Edition von Biels Predigtwerk (33) – mögen sich für ein solches Vorhaben Geld und Mitarbeiter finden lassen.
Gustav Adolf Benrath, der seit Langem mit Johann von Wesel be­fasst ist, liefert mit »Johann von Wesel als Domprediger in Worms (1460–1477)« (35–48) einen weiterführenden Beitrag zu der Frage nach dessen Verurteilung. Als Wormser Domprediger kritisierte Johann von Wesel die Kirche seiner Zeit in der Hoffnung auf deren Besserung. Benrath versteht ihn als »vorreformatorischen Reformtheologen« und stellt die Aufgabe, ihn im Zusammenhang mit Gabriel Biel, Jakob Wimpheling und anderen zu betrachten. Zwei Textanhänge, die die Ernsthaftigkeit der Kritik Johanns belegen, bereichern die Ausführungen.
Wolf-Friedrich Schäufeles reichhaltig, wenn auch nicht gleichmäßig die neueste und/oder beste Literatur nennender Beitrag »Der Humanismus im Erzstift Mainz und die Reformation« (49–68) profiliert die Unterschiede zwischen Erfurt und Mainz – dort eine relativ freie, von der Stadt Erfurt begünstigte Situation, in Mainz eine durch den Erzbischof kontrollierte Lage – und skizziert das zweifache Fortwirken des Humanismus im Protestantismus wie im Katholizismus: »in der neuen protestantischen Universitätstheologie und Bildungsreform ebenso wie etwa in der Mainzer Vermittlungstheologie« (68).
Marc Lienhard behandelt unter der Frage »Evangelische Bewegung ohne Streit und Spaltung?« »Die Rolle Wolfgang Capitos, Domprediger in Mainz und Rat des Erzbischofs (1520–1523)« (69–86). Er berichtet unter Verweis auf die Quellen, charakterisiert Ca­pito als Bibelhumanisten, der um Vermittlung bemüht und seit 1523 »eindeutig ins evangelische Lager eingetreten [sei], was ihn nicht daran gehindert hat, während einiger Jahre vorübergehend Sympathie für die Täufer und Spiritualisten zu zeigen« (85 f.). Von den beiden erwähnten Forschungsdesideraten, einer Biographie Albrechts von Mainz (Anm. 2) und der Edition von Capitos Briefwechsel (Anm. 16) dürfte das zweite eher zu realisieren sein; die erste Aufgabe bedürfte eines wahren Meisters.
Rolf Decot fasst in seinem Beitrag »Der Einfluss der Reformation auf die Predigt im Mainzer Dom von Capito bis Wild« (87–102), in dem es ihm um den spezifischen Beitrag einer Mainzer »Vermittlungstheologie«, »den Versuch, innerhalb der Alten Kirche reformatorische Gedanken aufzunehmen und weiterzutragen« (102), geht, den bisherigen Kenntnisstand über die Frühzeit der Reformation knapp zusammen und bietet eine ausführlichere Übersicht über Johannes Wild und sein Predigtwerk, das nicht nur von beachtlichem Umfang war, sondern im 16. Jh. auch eine breite Rezeption erfuhr, bevor es 1596 auf den Index kam. Decot stützt sich dabei auf bevorstehende Veröffentlichungen von John Fry­mire, auf die man gespannt sein kann.
Eine mikrohistorische Studie par excellence ist Siegfried Bräuers Beitrag »Thomas Müntzers Kontakte zum Erfurter Peterskloster 1521/22 und zu Heiligenstädter Persönlichkeiten 1522. Zur relativ offenen Situation im Erzstift Mainz« (103–122). Was da zum Hintergrund und zur Bedeutung zweier Briefe Müntzers dargelegt wird, verdankt sich jahrzehntelanger Arbeit an den Quellen. Bräuer behandelt zwei Stücke aus Müntzers Briefwechsel – und verweist dabei (Anm. 39.40.43.62) auf seine neue Ausgabe dieses Corpus, von der man sich wünscht, sie möge bald erscheinen. Die Ausführungen lassen zudem erkennen, wie unverzichtbar für die Geschichtsforschung auch jahrhundertealte Literatur ist und welche Lücken etwa seit 1717 oder 1857 nicht geschlossen wurden. Einerseits wird aus Bräuers Darlegungen deutlich, wie kompliziert die Lebensgeschichte Müntzers ist, der 1522 für einen »Martinianer« (116) gehalten wurde; andererseits, dass in den weit von Mainz entfernt gelegenen Gebieten Erfurts und des Eichsfeldes, denen der Erzbischof und Landesherr keine sonderliche Aufmerksamkeit zuwandte, eine je spezifische relativ offene Situation für die Reformation und ihre Anhänger herrschte.
Eike Wolgast nimmt sich noch einmal »Die Unterdrückung der reformatorischen Bewegung in der kurmainzischen Amtsstadt Mil­tenberg 1523« vor (123–140), von der Ausgangssituation über den Prozess gegen Johannes Drach (Draco, Draconites), das Vorgehen des Erzbischofs von Mainz gegen die Stadt und die reichhal­tige Publizistik der Jahre 1523 und 1524 und endet in einem Ausblick bis zur Rekatholisierung der Stadt zu Beginn des 17. Jh.s.
Heiner Lücks übersichtlicher Beitrag »Das Projekt einer katholischen Universität in Halle an der Saale. Motive, Chancen, Realitäten. Mit Edition der Originalurkunde vom 27. Mai 1531« (141–166) bietet eine konzentrierte Darstellung des Forschungsstandes, skizziert das Verhältnis Albrechts zu Halle, beleuchtet die möglichen Motive einer Universitätsgründung im Kontext landesfürstlicher Hochschulpolitik des 15./16. Jh.s und macht wahrscheinlich, dass sich nach 1531 die Bedingungen für eine Universitätsgründung in Halle verschlechtert hatten. Den Begriff »katholisch« finde ich in diesem Kontext nicht passend. Man sollte von »gegenreformatorisch« sprechen. Die Bedeutung der »Bildungskrise« scheint mir überschätzt – Karlstadt war nicht repräsentativ für die Wittenberger Reformation.
Außerdem enthält der Band die folgenden Beiträge: Walter G. Rödel, Die »Secta Lutherana« im Schatten der Sancta Sedes Mo­guntina (167–180); Ludolf Pelizaeus, Herrschafts- und Konfessionswechsel: (Marien-)Born zwischen lutherischer und katho­lischer Obrigkeit 1521–1630 (181–195); Hermann-Dieter Müller, Die schwedische Kirchenpolitik unter König Gustav Adolf und Reichskanzler Axel Oxenstierna in Stadt und Erzstift Mainz (197–226); Armin Kohnle, Zwischen Mainz und Pfalz. Der Bergsträßer Rezeß von 1650 und die Konfessionen (227–238); Friedhelm Ackva, Kirche oder Reich Gottes? Der Konflikt des Nonweiler-Sohnes mit der katholischen Kirche in Mainz (1855–1857) (239–253) sowie ein Personenregister.
Die meisten Beiträge sind aus einem gemeinsamen Kolloquium des Instituts für Europäische Geschichte (Abteilung Abendlän­dische Religionsgeschichte) und des Fachbereichs Evangelische Theo­logie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hervorgegangen, einige sind in einer Vortragsreihe des Evangelischen Deka­nats Mainz unter dem Titel »Ins Licht gerückt. Evangelische Ge­schichte(n) aus vier Jahrhunderten in Mainz« vorgetragen worden. Mit dem Band wird diesen Unternehmungen Dauer verliehen – er dient der Dokumentation ebenso wie der Förderung und Anregung der Forschung.