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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

941–944

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Kraus, Thomas J., u. Tobias Nicklas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Petrus. Text, Kontexte, Intertexte.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. VIII, 384 S. gr.8° = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, 158. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-019313-8.

Rezensent:

Jens Schröter

In der Forschung zu den antiken christlichen Apokryphen hat das Petrusevangelium (EvPetr) in neuerer Zeit zunehmend Aufmerksamkeit erfahren, nachdem sich die Diskussion zuvor vor allem auf das Thomasevangelium konzentriert hatte. Die Herausgeber der zu besprechenden Aufsatzsammlung hatten bereits 2004 eine Ausgabe mit den griechischen Fragmenten des EvPetr und der Petrus­apokalypse publiziert (GCS NF, Bd. 11). Der nunmehr vorgelegte Band versteht sich als zweiter Teil des damals begonnenen Projektes. Sein Profil wird durch die drei Stichworte des Untertitels umrissen: Versammelt sind Beiträge zur sprachlichen und überlieferungsgeschichtlichen Analyse des Petrusevangeliums sowie zu seiner Einordnung in die frühchristliche Literatur- und Theologiegeschichte.
Am Anfang steht ein forschungsgeschichtlicher Überblick von Paul Foster, der gegenwärtig an einem Kommentar zum EvPetr für die neue Reihe »Oxford Early Christian Gospel Texts« (hrsg. von Christopher Tuckett und Andrew Gregory) arbeitet. Er schildert zunächst die Umstände der Entdeckung des Akhmîm-Codex mit Fragmenten von EvPetr, Petrusapokalypse sowie griechischem Henochbuch und geht dann auf die Erstedition des EvPetr sowie die frühen Forschungsbeiträge in England, Frankreich und Deutschland ein. Die neuere Diskussion kommt nur ansatzweise in den Blick, notiert wird allerdings ein am Ende des 20. Jh.s neu erwachtes Interesse an dieser Schrift.
Dieter Lührmann, vielfach ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der apokryphen Evangelien, hatte in Beiträgen von 1981 und 1993 auf zwei Oxyrhynchos-Papyri (XLI 2949 bzw. LX 4009) aufmerksam gemacht, die sich dem EvPetr zuweisen ließen. Ersterer würde dabei eine Datierung ins 2. oder 3. Jh. nahelegen, Letzterer könnte zu der Annahme führen, dass zum EvPetr nicht nur eine Passionserzählung, sondern zumindest auch eine Aussendungsrede gehörte. Lührmann hatte zudem die Möglichkeit erwogen, dass auch PVindob G 2325 (das sog. Fayûm-Fragment) Teil des EvPetr war(vgl. auch ders., Die apokryph gewordenen Evangelien, Kapitel 2; dazu ThLZ 130 [2005], 778–781; zur dort sowie im Beitrag selbst, Anm. 13, angegebenen Internetseite wäre jetzt zu ergänzen: http:// www. papyrology.ox.ac.uk/POxy/papyri/the-papyri.html). Nunmehr setzt er sich mit Kritik an diesen Zuweisungen auseinander. Zudem stellt er heraus, dass bei der Beschäftigung mit den apokryphen Evangelien mehrere Überlieferungswege zu beachten sind (Manuskripte, Übersetzungen, Zitate), eine »puristische« Engführung auf griechische Manuskripte deshalb nicht plausibel sei. Dies wird sich auch in der Anm. 80 erwähnten Neuausgabe der »Antiken christlichen Apokryphen« (hrsg. von Ch. Markschies und J. Schröter) entsprechend niederschlagen.
Peter van Minnen gibt eine knappe Beschreibung des Akhmîm-Codex und lenkt den Blick damit auf einen späteren Kontext des EvPetr. Es sei von einem Exemplar abgeschrieben worden, das vermutlich nur unwesentlich länger war als der Akhmîm-Text. Das unvollständige Ende könne daher rühren, dass am Ende der letzten Seite nicht mehr Platz zur Verfügung stand und der Schreiber oder die Schreiberin versuchte, noch möglichst viele Worte unterzubringen. Der Text könnte also zur Abfassungszeit des Manuskriptes als vollständig angesehen worden sein. Ob er dies auch zu seiner Entstehungszeit war, ist damit allerdings nicht gesagt.
Auch Thomas Kraus orientiert sich an dem Codex und weist darauf hin, dass eine sprachliche Analyse des EvPetr einen Text des 6./7. Jh.s untersuche, der bereits eine längere Überlieferungsgeschichte hinter sich hatte. Deshalb könnten aus linguistischen Beobachtungen keine unmittelbaren Schlussfolgerungen auf Verfasser und Entstehungszeit gezogen werden. Einen reichlich technisch wirkenden, kaum lesbaren Beitrag zum Griechisch des EvPetr steuert Stanley Porter bei.
Thomas Hieke fragt nach den alttestamentlichen Bezügen im EvPetr. Die Schrift stehe alttestamentlichen Überlieferungen fern und verwende sie in antijüdischer Tendenz sowie für eine Sicht auf die Kreuzigung Jesu als Ereignis mit »allerhöchste[m] geschichtstheologische[m] Rang«.
Drei Beiträge befassen sich mit dem Verhältnis zu den neutestamentlichen Evangelien. John Dominic Crossan nimmt die Diskussion um Abhängigkeit und Unabhängigkeit auf und plädiert für eine vermittelnde Position: Die älteste Stufe der Passionserzählung sei das sog. Cross Gospel, das nur kritisch gegenüber den jüdischen Führern gewesen sei und deshalb nicht pauschal als anti­jüdisch bezeichnet werden könne (eine von Crossan und Helmut Köster bereits vor etwa 20 Jahren entwickelte These). Die Verfasser der neutestamentlichen Evangelien hätten dieses aufgenommen und die antijüdischen Tendenzen verstärkt. Das EvPetr habe schließlich das »Cross Gospel« und die kanonischen Passions­berichte miteinander verbunden. Crossans Beobachtungen zum EvPetr sind nicht von der Hand zu weisen. Ob sein hochgradig komplexes Erklärungsmodell zu überzeugen vermag, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Alan Kirk knüpft an das Modell des kulturellen Gedächtnisses (Jan Assmann) sowie an neuere Forschungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (John Miles Foley, Ruth Finnegan) an. Er kritisiert vor diesem Hintergrund Helmut Kösters Modell der Jesusüberlieferung, das mündlichen und schriftlichen Überlieferungsmodus nicht zu integrieren vermag. Sein eigener Ansatz ist dagegen am Erinnerungsbegriff orientiert, den er auch auf das EvPetr anwendet: »The < /span>GosPet is a site in which the Erinnerungsfigur of the Passion narrative intersects with the social memory frameworks of the second century« (156).
Judith Hartenstein befasst sich mit den Beziehungen des EvPetr zu den kanonisch gewordenen Evangelien sowie zum sog. Unbekannten Berliner Evangelium (UBE). Während das UBE Sätze aus verschiedenen Evangelien kombiniere, gestalte das EvPetr unter Rückgriff auf ältere Überlieferungen eine eigenständige Erzählung. Damit ordne es sich in eine auch anderweitig (Lk, Joh, EvThom) erkennbare Tendenz ein, ein Evangelium im Bewusstsein darum zu verfassen, dass bereits andere Evangelien existieren. Ähnlich wie im EvThom trete dabei auch im EvPetr die Abgrenzung von anderen Entwürfen deutlicher in den Vordergrund als die positive Aufnahme.
Weitere Beiträge fragen nach der Einordnung des EvPetr in die frühchristliche Literatur und erweitern damit das Spektrum der »Intertexte«. Martin Meiser stellt heraus, dass die nachweisbare Rezeption des EvPetr in der Alten Kirche sehr gering war. Der Grund dafür muss – trotz des Urteils Serapions – nicht in einem als »häretisch« betrachteten Charakter der Schrift liegen, sondern kann auch darauf zurückgeführt werden, dass für die kirchliche Deutung des Leidens und Sterbens Jesu andere als die im EvPetr verarbeiteten Motive im Vordergrund standen.
Katharina Greschat nimmt die bereits häufiger diskutierte Frage auf, ob Justin auch das EvPetr zu den »Erinnerungen der Apostel« rechnete. Die Nähe zwischen beiden müsse nicht mit literarischer Abhängigkeit erklärt werden, sondern könne sich auch der histo­rischen Situation (zunehmende Schärfe der Polemik einer hei­denchristlich werdenden Kirche gegenüber dem Judentum) verdanken. In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Thomas Karmann, der das Verhältnis von EvPetr und Melitos’ Paschahomilie untersucht. Auch hier sei weniger mit literarischer Abhängigkeit (so noch Othmar Perler) als vielmehr mit einem gemeinsamen antijüdischen Milieu des 2. Jh.s zu rechnen. Weitere Beiträge untersuchen das Verhältnis des EvPetr zu den Pseudo-Clementinen (F. Stanley Jones), zu den apokryphen Apostelakten (István Czachesz) sowie zu Buch VIII der Sibyllinischen Orakel (Tobias Nicklas).
Die letzten vier Beiträge befassen sich mit übergreifenden Themen des EvPetr. Joseph Verheyden versteht das EvPetr als eine Schrift, die bereits im Umlauf befindliche Evangelien bei ihren Lesern voraussetzt und das dort Erzählte ohne nennenswerte Eigenständigkeit so wiedergibt, wie es von seinen Lesern verstanden und akzeptiert wurde. Matti Myllykoski stellt heraus, dass die Christologie des EvPetr nicht als doketisch, sondern als adoptianisch zu bezeichnen sei. Heike Omerzu befasst sich mit der Figur des Pilatus, die im EvPetr in differenzierter Weise entwickelt werde. Pilatus erscheine als widersprüchliche Gestalt mit positiven und negativen Zügen. Diese Darstellung werfe auch ein Licht auf die unterschiedliche Rezeptionsgeschichte des Pilatus, der in der koptischen und äthiopischen Kirche sogar als Heiliger verehrt, in den westlichen Kirchen dagegen überwiegend negativ beurteilt wurde. Am Ende steht ein eigenwilliger Beitrag von Todd Penner und Caroline Vander Stichele. Sie fragen nach dem kulturellen Kontext der Entstehung des EvPetr (»Reading the Gospel of Peter under Empire«) und entwickeln die Theorie, dass die Körper (»Bodies«) für die Manifestation von widerstreitenden Mächten stünden.
Der Band demonstriert auf eindrückliche Weise die Intensität der gegenwärtigen Forschung am EvPetr. Etliche Fragen bedürfen weiterer Diskussion – etwa nach dem Ort des EvPetr innerhalb der christlichen Literatur der ersten beiden Jahrhunderte, nach dem Verhältnis des Akhmîm-Textes zu einer Schrift, deren Entstehungsdatum im 2. Jh. angesetzt wird, oder nach dem Verhältnis des EvPetr zu den neutestamentlichen Evangelien. Der Band zeigt, dass hier nach wie vor unterschiedliche, zum Teil unvereinbare Antworten gegeben werden. Das ist beim Thomasevangelium ähnlich. Für eine Literaturgeschichte des frühen Christentums ist die Be­schäftigung mit den Apokryphen jedoch ebenso unverzichtbar wie für eine Theologie des Neuen Testaments. Deshalb muss die Debatte über diese Fragen weitergehen. Den Herausgebern sowie den Autoren des Bandes ist zu danken, dass sie dazu durch einen anregenden Band beigetragen haben.