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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

283–286

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1. Dietze, Gottfried 2. Kim, Hyung-Min 3. Wagner, Hartmut

Titel/Untertitel:

1. Problematik der Menschenrechte. 2. Solidarität und Menschenrechte. Eine theologisch-sozialethische Erörterung der Begründung und Umsetzung der Menschenrechte der dritten Dimension. 3. Utopie, Menschenrechte, Naturrecht. Zur Rechtsphilosophie Ernst Blochs.

Verlag:

1. Berlin: Duncker & Humblot 1995. 209 S. gr.8° = Beiträge zur politischen Wissenschaft, 87. Kart. DM 98,­. ISBN 3-428-08421-7. 2. Münster-Hamburg: LIT 1995. VI, 207 S. 8° = Entwürfe, 3. Kart. DM 39,80. ISBN 3-8258-2421-7. 3. Baden-Baden: Nomos 1995. 230 S. gr.8° = Nomos Universitätsschriften: Recht, 180. Kart. DM 68,­. ISBN 3-7890-3796-6.

Rezensent:

Franz Furger

Daß Menschenrechte als "ethischer Grundfaktor der neuzeitlichen Welt" (T. Rendtorff) zwar grundsätzlich anerkannt, aber dennoch gleichzeitig in der ganzen Welt verletzt würden, mahnt zwar der Klappentext zur Dissertation als das die Reflexion immer neu und besonders herausfordernde Problem an. Aber diese Problematik teilen die Menschenrechte mit allen ethischen Normen. Denn sofern man nicht entgegen aller Erfahrung mit Sokrates, aber auch mit den Humboldtschen Bildungsidealen weiterhin glaubt, daß begründete Einsicht in sittliche Zusammenhänge auch deren Befolgung nach sich ziehe, wird man diese Frage immer wieder neu zu stellen haben. Insofern ist dann aber auch die weitere ethische Reflexion für den Verpflichtungsstandard, obwohl nicht ausschlaggebend, doch nützlich und hilfreich. Dabei ist derzeit die ohne Zweifel dringendste Frage diejenige nach einer kulturübergreifenden Gültigkeit der von ihren Ursprüngen her der abendländisch westlichen Denktradition zugehörenden Menschenrechte. Bei allem machtopportunistischen Hintergrund klingt auch in der kalten Zurückweisung westlicher Menschenrechtskritik seitens des chinesischen totalitaristischen Regimes als einer ungehörigen spätimperialistischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des souveränen Reiches der Mitte stets auch diese Komponente als berechtigter Vorwurf gegen eine solche Heuchelei der ehemaligen Kolonialmächte durch. Wenn man Menschenrechte wirklich ernst nimmt, wird man deren Kulturbedingtheit in Entstehung und Aussageweise also nicht übergehen können. Gerade um ihren eigentlichen Gehalt zu bewahren, wird es vielmehr diese relativierenden Bedingtheiten auch ethisch zu beachten gelten.

Um so mehr muß es dann erstaunen, daß der Koreaner Hyung-Min Kim ­ übrigens der einzige Theologe unter den Autoren der hier vorzustellenden drei Studien ­ diese Dimension eher indirekt an der sogenannten Minjung-Theologie (als einer Theologie des leidenden, in Unmündigkeit geknechteten Volkes und dessen bitteren Klagen unter den Bedingungen von Diktatur und Ausbeutung) thematisiert. Auch macht er es dann so stark am Erleben der Koreanischen (Missions-)Kirche fest, daß vor allem die aus der westlichen Technologisierung und wirtschaftlichen Industrialisierung stammenden Belastungen als Menschenrechtsproblematik in den Blick kommen. Die genuine Inkulturationsdimension als solche wird aber kaum reflektiert, obwohl diese unter dem Brückenstichwort der Solidariät ebenfalls anklingt.

So verweist auch Kim zwar deutlich auf das Ungenügen der klassischen Menschenrechte (d. h. so wie sie sich etwa in der UNO-Charta von 1948 finden) hinsichtlich der Bedürfnisse der Entwicklungsländer. Aber er glaubt, daß mit den sogenannten "Menschenrechten der dritten Dimension" (oder: Generation), nämlich den Rechten auf Entwicklung, Frieden, gesunde Umwelt und das gemeinsame Menschenerbe diesem Anliegen hinreichend Rechnung getragen werden könne. Ob diese Erweiterung, die sich ja bei allen sonstigen systematischen Schwierigkeiten durchaus westlichen Denkmustern verdankt, dies wirklich zu leisten vermag, scheint allerdings fraglich. Dennoch macht es Sinn, wenn sich diese an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Münster vertretene Dissertation mit dieser Erweiterung systematisch kritisch befaßt und sie mit E. H. Riedel von den personbezogenen Freiheits- und Partizipationsrechten wie von den sozialen Anspruchsrechten abhebt, um sie als gesellschaftliche "Menschenrechts-Standards", also als gesellschaftspolitische Zielnormen zu fassen.

Für deren theologische Aufarbeitung verweist Kim auf die "ausgeprägten theologischen Resonanzen in der katholischen Theologie" (67), folgt aber dann als protestantischer Theologe dennoch den Entwürfen von J. Moltmann, nicht zuletzt wegen dessen persönlichen Beziehungen zu seiner eigenen koreanischen Heimat. Menschenrechte, die hier biblisch im Licht der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens und des Gottesbundes am Sinai verstanden werden, finden so bei Moltmann ihre Legitimierung in der Glaubensbotschaft, lassen aber ­ trotz der kritischen Auseinandersetzung mit E. Bloch ­ die Frage nach der Möglichkeit ihrer Vermittlung nach "außen" offen. Dieser Vermittlungsfrage wendet sich Kim im dritten Teil seiner Arbeit zu, wo er auf Ansätze aus der (Genfer)Ökumene zurückgreifend sich vor allem mit anthropologischen und pragmatischen Begründungsansätzen auseinandersetzt. Dabei läßt sich eine "strukturelle Parallelität von Menschenrechten und christlichem Glauben" herausarbeiten, die sich an Namen wie T. Rendtorff, M. Honecker, aber auch A. Rich festmachen läßt. Wenn dabei auch eine Reihe von rechtsphilosophischen Arbeiten aus der katholischen Tradition zitiert werden, wird diese, obwohl vonder Naturrechtslehre her seit je eben damit besonders befaßt, nicht thematisiert. Dies ist nicht nur unter ökumenischen Gesichtspunkten zu bedauern. Es verbietet auch in einer m. E. zu westlichen konfessionellen Optik, einige gerade für den interkulturellen Austausch besonders wertvolle Differenzierungen angemessen zu nutzen.

Direkt mit dem im Zusammenhang mit Moltmann von Kim angesprochenen Menschenrechts-Verständnis von Ernst Bloch befaßt sich die rechtsphilosophische Studie (ob es sich, was sich formal vermuten läßt, um eine Dissertation handelt, wird nicht gesagt) von Hartmut Wagner. Als Ziel wird genannt, den in der Wirkgeschichte auf Rechtsphilosophie und Verfassungstheorie eher blaß gebliebenen Einfluß Blochs für aktuelle Entwicklungen für diese Fachgebiete aufzuarbeiten. Dazu wird in einem ersten Teil der utopische Ansatz sowohl allgemein als auch als rechtsphilosophischer Ausgangspunkt kurz vorgestellt, um dann im zweiten Teil Blochs Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsparadigma (allerdings ohne dessen geistesgeschichtliche Vereinfachungen kritisch zu thematisieren) zusammenzufassen. Der dritte (Haupt-)Teil befaßt sich dann unter dem Titel: "Menschenwürde und Recht, Selbstbestimmung und Solidarität" mit den grundlegenden anthropologischen Voraussetzungen der Spannung zwischen Menschenrechten aus/in Freiheit und derjenigen mitmenschlicher ("brüderlicher") Gleichheit. Deren Versöhnung läßt sich über die freiheitsrechtliche Emanzipation unter dem Prinzip Hoffnung als Utopie eines (in dem Blochschen Sinn) Sozialismus, d. h. eines wahren Reiches der Freiheit andenken.

Insofern sind Menschenrechte als Grundlage von gesellschaftlicher Rechtsordnung und Verfassung zwar nicht einfach Garanten für die Erreichung dieses Zieles. Wagner wie letztlich auch schon Bloch selber sind sich dessen durchaus bewußt. Aber als philosophischer Wegweiser für eine dieser Zielsetzung angemessenere Konkretion sind sie dennoch rechtsphilosophisch wie auch konkret rechtspragmatisch relevant. Wagner, als ehemaliger Referent beim saarländischen Ministerpräsidenten (1988-93) und im dortigen Kulturministerium weiterhin tätig, weiß aus solcher (von entsprechender Parteiprogrammatik natürlich nicht freien) Praxis, wovon er dabei redet. Eben dies macht seine Überlegungen für den theoretischen Ethiker besonders interessant. Für den Theologen aber dürfte vor allem der Hinweis wertvoll sein, daß auch der moderne Verfassungsstaat kein finales Ereignis, sondern "work in progress" darstellt. Auch als menschenrechtlich verfaßter bleibt er also bei all seinen unbestreitbaren Meriten in der Ambivalenz jeden innerweltlichen Fortschritts, theologisch also unter "eschatologischem Vorbehalt".

Diesem Grundverständnis verpflichtet ist auch der in den USA lehrende Rechtsgelehrte und -philosoph Gottfried Dietze, der nach "einem halben Jahrhundert des Bemühens um die Menschenrechte" seine Veröffentlichung von fünf früheren Studien zum Thema mit den Worten einleitet: "Menschenrechte bewegen und erregen die Menschheit. Ihre Problematik ist unerschöpflich, sind sie doch von verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aufgefaßt worden. Wohin ihr Drang führen kann, sollte immer wieder gefragt werden. Wer sich mit Menschenrechten befaßt, erfährt immer mehr, wie sehr sie zu fassen sind in Folge all ihrer Auffassungen. Immer weniger aber erscheint ihm das unfaßbar" (Vorwort).

Aus diesen Sätzen spricht eine gewisse Skepsis, die sich in den gegenläufigen Titeln des ersten und des letzten Beitrags: "Menschenrecht und Menschenrechte" bzw. "Menschenrechte und Menschenrecht" ebenso ankündigt, wie sie sich in den anderen drei Titeln, nämlich "Irrnis und Wirrnis", "Nutzung und Ausnutzung" und "Entpflichtung und Verpflichtung" bemerkbar macht. Der nüchterne Vf. fürchtet aus langer Erfahrung ­ und dies in deutlichem Unterschied zum vorgenannten Theologen Moltmann ­, daß ein Zuviel an konkreter menschenrechtlicher Fixierung trotz allem darin investierten guten Willen nicht Verstärkung, sondern entweder (statt der ursprünglich intendierten Freiheit) neuen Zwang fördere oder (wegen der ob der hohen Konkretion praktisch immer neu notwendig werdenden Ausnahmen) neuerlicher Beliebigkeit die Hinterür öffne, ja die im hier eingangs erwähnten Chinabeispiel sich abzeichnende Verdrehung von Kulturimperialismus heraufbeschwöre.

Beispiele dafür lassen sich leicht anführen: Die immer präziseren Ausfaltungen des Kriegsvölkerrechts des IKRK bedrohen schließlich dessen Minimalstandard. Die gelegentlich mit Weltgeltung von den USA vertretene eigene Rechtsauffassung bewirkt deren Ablehnung usw. Man wird diese Bedenken gerade als theologischer Ethiker ernst zu nehmen haben, dabei aber doch auch darauf hinweisen dürfen, daß schon die klassische Naturrechtstradition der Hochscholastik eben deshalb in ihrer Theorie zwischen einem wirklich allgemeingültigen Menschenrecht, wie etwa der umfassenden Gerechtigkeitsforderung und einem sekundären, konkreteren, aber nur mehr "im allgemeinen" gültigen Menschenrecht (wozu man damals schon auch den Dekalog zählte!) unterschied. Manchmal könnte es sich somit in Anbetracht moderner Probleme selbst für den Juristen lohnen, sich einer Jahrhunderte alten rechtsphilosophischen Erkenntnis zu erinnern.