Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2008

Spalte:

929–931

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe.

Verlag:

Tübingen: Francke 2006. XIII, 388 S. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7720-8150-7.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Aus den neutestamentlichen Examensrepetitorien in Erlangen ist dieser Band hervorgegangen als Pauluslehrbuch, »das den gegenwärtigen Forschungsstand zur Person, zum Werk, zu den Briefen des Paulus und zu ihren theologischen Themen zusammenstellt, auf Examensniveau formuliert und in Lehrbuchform präsentiert« (XVII).
Besonders instruktiv ist im ersten Teil der Beitrag von J. Frey über »Das Judentum des Paulus«, der Vorarbeiten zu einer längeren Studie über »Paulus und sein Judentum« enthält. Er zeigt die bleibende Verbundenheit des Apostels mit Israel auf, legt die Bedeutung seiner pharisäischen Prägung sowie seine Auseinandersetzung mit den Merkmalen jüdischer Identität (Beschneidung, Tora) dar und schließt mit einer differenzierten Würdigung der Diskussion zur »neuen Paulusperspektive« (5–43). Paulus war und blieb zeitlebens Jude. Aber um zu verstehen, wie das »Heidentum« aussah, dem seine Mission galt, beschreibt B. Heininger »Die religiöse Umwelt des Paulus« (44–82). Er vermittelt ein buntes Bild vom öffentlichen Kult einschließlich Opferwesen und religiösen Vereinen, Mysterienkulten, Mantik, Wundern, Zauberei, Kaiserkult und Gnosis. Beim letzten Punkt geht er davon aus, dass gnostische Lehrsysteme überhaupt erst in nachneutestamentlicher Zeit ab der Mitte des 2. Jh.s in Umrissen greifbar werden und im 3./4. Jh. im Manichäismus ihren Höhepunkt erlangten. Es folgen ein solider Überblick zum Leben und Missionswerk des Paulus von E. Ebel (83–96.97–106) und einige Überlegungen von E.-M. Becker zu Paulus als Person, Autor und Autobiograph, aber auch zu seinem Verständnis von Leiblichkeit und Leib Christi sowie zu seinen eschatologischen Erwartungen (107–119).
Der zweite Hauptteil stellt »das Zentrum des Lehrbuchs dar. Er bietet ausführliche Darstellungen der Paulusbriefe und des paulinischen Denkens« (XX). Die einzelnen Briefe werden nach einem festen Aufbauschema mit Texterschließung (Überlieferung, Gliederung, Thematik, Wortfelder, Rhetorik), Textentstehung (Einleitungsfragen), Textexegese (Durchgang durch den Text und exe­getische Probleme), einer summarischen Würdigung (max. eine Seite) und ausgewählten Literaturhinweisen vorgestellt (E. Ebel, O. Wischmeyer, E.-M. Becker, J. Frey, L. Bormann). Die wichtigsten exegetischen Probleme werden zu den einzelnen Briefen benannt, manche auch ausführlicher diskutiert (z. B. zur Entstehungsgeschichte des 2. Korintherbriefs sowie zur Landschaft- oder Provinzhypothese und den Argumentationslinien im Galaterbrief). Doch zu den »Grundfragen der paulinischen Theologie« werden beim Römerbrief nur sechs Punkte aufgelistet: Gesetz, Sühnevorstellung, Rechtfertigungslehre, »Ich« in Röm 7, »pas Israel« in Röm 11,26a und Röm 13,1–7 (271). Diesen Hauptteil schließt die Herausgeberin mit einer »Einführung in die theologischen und ethischen Themen der Briefe« (125). Gleich zu Beginn erwähnt sie ihre Ab­sicht:
»Der vorliegende Beitrag entwirft keine ›Theologie des Paulus‹, sondern beschreibt die Typen und Themen des paulinischen theologischen Denkens, Urteilens und Argumentierens, wie wir sie in seinen Briefen finden« (282). Als Typen werden genannt: 1. Verkündigungs- bzw. Evangeliumstheologie, 2. Gemeindetheologie, 3.Po­lemische Theologie, 4. Freundschaftstheologie, 5. Autobiographische Theologie und 6. Apostolatstheologie (283 f.). Sodann geht sie die theologischen Themen der einzelnen Briefe durch, die auf 16 Seiten aber kaum über eine erneute – bereits im Textdurchgang zu den einzelnen Briefen dargelegte – Inhaltsangabe hinausgehen und größere theologische Sachzusammenhänge eher anreißen als entfalten.
Der dritte Teil ist der Paulusrezeption gewidmet, zunächst den Deutero- (Kol, Eph, 2Thess) und Tritopaulinen (Pastoralbriefe) so­wie dem Paulusbild der Apostelgeschichte (B. Heininger), sodann im 2. Jh. vom 1. Clemensbrief und den Ignatianen bis zu den Paulusakten und »Kerygmata Petrou« (A. Lindemann). Der Band schließt mit einigen Entwicklungslinien von der Alten Kirche (be­sonders Origenes und Augustin) über die Reformation und die Aufklärung bis zur historisch-kritischen Forschung des 20. Jh.s (W. Wischmeyer).
Aufs Ganze gesehen bietet dieses Pauluslehrbuch eine umfassende Darstellung, die informativ, kenntnisreich und übersichtlich in die paulinischen Briefe, die Umwelt und die Person des Paulus einführt. Dennoch fordert der Band auch einige kritische Be­merkungen heraus:
Mehrfach wird auf das für die Gliederung der Paulusbriefe übliche epistolographische Schema (z. B. 141.167) oder die drei antiken rhetorischen Genera (149.199 f.253–255) hingewiesen, die aber nicht im Zusammenhang erklärt werden. Vorgestellt wird die rhetorische Analyse anhand des 1. Korintherbriefs (148), obwohl sie von H. D. Betz beim Galaterbrief in die Paulusexegese eingeführt wurde und dort für das Verständnis der einzelnen Briefteile in ihrer argumentativen Funktion wesentlich mehr austrägt als bei den disparaten Fragestellungen des 1. Korintherbriefs. So hilfreich viele ta­bella­rische Übersichten sind, fragt man sich beim 1. und 2. Korintherbrief, ob hier wirklich alle 36 (!) Tabellen notwendig gewesen wären. Auch wirken manche Aufstellungen z. B. mit den Gegensatzpaaren in 2Kor 3 (170) oder Gal 3 f. (294 f.) wenig erhellend, da sie ohne Erläuterung bleiben. Außerdem wäre es sinnvoll gewesen, bei Fachausdrücken wie z. B. Glossolalie (157), Eulogie (184) und manchen religionsgeschichtlichen Schlagworten zur Gemeinde (159) oder den Gegnern in Korinth (186) zu erläutern, was damit gemeint ist.
Beim 2. Korintherbrief (E.-M. Becker) würde man gerne genauer erfahren, mit welchen Vorwürfen Paulus sich in seiner Apologie auseinanderzusetzen hat und mit welchen inhaltlichen Argumenten er sie erwidert. Unklar bleibt auch, inwiefern »apostolos« nur Berufsbezeichnung, aber nicht Titel sein soll (112.184). Bei den Er­scheinungen in 2Kor 12,1–10 kann es sich nicht um »seine apostolische Beauftragung« (187) handeln. Denn Paulus datiert sie »vor 14 Jahren« (2Kor 12,2), d. h. auf den Anfang der 40er Jahre, was schon chronologisch gegen sein Damaskuserlebnis spricht (um 32 n. Chr.; vgl. 87). Außerdem bekam er bei der Berufungsoffenbarung keine »unsagbaren Worte« (2Kor 12,4) zu hören, sondern einen klaren Auftrag, den er andernorts zur Begründung seines Apostolats nutzt (Gal 1; 1Kor 15,8). Zumindest missverständlich ist die Formulierung, dass Paulus »gerade seine Krankheit als seine eigentliche Stärke interpretiert« (293). Denn selbst in der paradoxen Zuspitzung charakterisiert Paulus seine Krankheit nicht als eigene Stärke, sondern als den Ort, an dem die göttliche Kraft Christi wirksam ist.
Terminologisch wenig glücklich ist es, wenn E.-M. Becker und O. Wischmeyer wiederholt die Theologie bzw. theologische Themen als »meta-kommunikativen Überschuss« bezeichnen (147. 170ff. u. ö.). Denn diese Themen entfaltet Paulus in der Korintherkorrespondenz gerade nicht »jenseits der Kommunikation« (147; Hervorhebung O. W.), sondern als christologische Argumente, mit denen er sehr präzise auf direkte Anfragen und konkrete Probleme der Adressatengemeinden eingeht. Auch »bestimmt Paulus« in Röm 1,16 f. nicht den »Glauben«, sondern das Evangelium »als die Kraft, die die Menschen rettet« (297; Hervorhebung O. W.).
Die größte Anfrage an die Konzeption des Bandes wirft die Herausgeberin selbst auf: »Die Darstellung einer ›Theologie des Paulus‹ kann und muss hier nicht geleistet werden, da diese nur in einem ausdiskutierten und theologisch reflektierten Referenzrahmen möglich und sinnvoll wäre« (282). Ob diese Behauptung bei einem Paulusbuch von 410 Seiten noch überzeugt, mag dahingestellt bleiben. Aber wer ein Lehrbuch »auf Examensniveau« beabsichtigt (XVII), muss sich – auch im Blick auf die spätere theologische Existenz in Gemeinde und Schule – fragen lassen, wann es denn »möglich und sinnvoll« wäre, die Theologie des Paulus zu diskutieren und zu reflektieren, wenn nicht in der Vorbereitung auf das theologische Examen.