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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

925–927

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lehmeier, Karin

Titel/Untertitel:

Oikos und Oikonomia. Antike Konzepte der Haushaltsführung und der Bau der Gemeinde Paulus.

Verlag:

Marburg: Elwert 2006. Unv. Neuaufl. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. XVIII, 432 S. m. Abb. gr.8° = Marburger Theologische Studien, 92. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-02558-9.

Rezensent:

Ulrich Mell

In der neutestamentlichen Forschung besteht Konsens darüber, dass ein Zusammenhang zwischen antiker Haushaltslehre und den sog. »Haustafeln« besteht. Eph 5,21–6,9; Kol 3,18–4,1; Tit 2,1–10; 1Petr 2,13–3,7 gelten als literarischer Hinweis, dass sich urchristliche Gemeinden der zweiten Generation in ihrer Lebensordnung an die hierarchische Struktur des »Oikos« anpassten. Die bei D. Lührmann angefertigte und 2003 abgeschlossene Dissertation will dieser Diskussion eine Grundlage geben, indem sie alle erhaltenen Texte zur antiken Ökonomik bespricht. Da jedoch entwicklungsgeschichtlich eine Beziehung von Haushalten als Orte christlicher Existenz (vgl. 1Kor 11,34) zu der sich in Häusern versammelnden christlichen Hausgemeinde (vgl. V. 18) anzunehmen ist, werden für L. vorrangig Texte der ersten urchristlichen Generation interessant. So fragt L., »wie das frühe Christentum paulinischer Prägung die Oikos-Struktur in die Entwicklung der Gemeinden einband« (43), und, ausgehend von Gal 3,28, »ob die Missionspredigt des Paulus und die Integration in die neue Gemeinschaft nun den Bruch mit der oder das Bleiben in der Oikos-Struktur zur Folge hat« (46).
Nach einem forschungsgeschichtlichen Abriss zu »Haus und Haushalt in der Antike« (11–40) bespricht L. ausführlich die »Antike Oikonomia-Literatur« (53–218). Als vollständige Schriften werden Xenophons Gespräch über die Haushaltsführung (Oec., ca. 380–371 v. Chr.), Aristoteles’ erstes Buch der Politik (Pol., ca. 340–330 v. Chr.) und, aus der ersten Schülergeneration von Aristoteles stammend, das erste und zweite Buch der ps.-aristotelischen Ökonomik (Oec. 1 u. 2) analysiert. Im Zusammenhang der Rezeption klassischer Ökonomie in der römischen Kaiserzeit weist L. auf die schwer zugängliche Oikonomia-Schrift des Philodem von Gadara (ca. 110–40 v. Chr.) hin (Oec.) und demonstriert am Beispiel der mittelalterlichen Anthologie von Iohannes Stobaeus, dass in neutestamentlicher Zeit Stoiker und Peripatetiker eigene Positionen zur Haushaltsführung entwickelten. Zu fragmentarischen Überlieferungen aus frühmittelalterlicher Zeit bemerkt L., dass diese nicht als literale Übersetzungen, sondern als veränderte Aktualisierungen von Oikonomia-Traditionen gewertet werden müssen (200).
Die literaturgeschichtliche Analyse führt L. zu zwei Resultaten: Zum einen darf antike Ökonomik nicht als Literaturgattung verstanden werden: Vielmehr ist »οἰκονομία ... ein Wissensgebiet (ἐπιστήμη) oder eine Fertigkeit (τέχνη), Oikonomia-Literatur ist ›Fachliteratur‹« (120, vgl. 209). Zum anderen geben diese Schriften keine umfassende Lehre vom Haushalt, sondern besprechen philosophisch »das Verhältnis von ›Menschen und Besitz‹ ... mit dem Blick auf wohlhabende Landbesitzer« (205) im Sinne einer »Metron­ökonomie« (129.166.207.345).
Da antike Haushaltsliteratur Diskursschriften sind (343), können sie nicht als »Grundlage für die Beurteilung des antiken Wirtschaftslebens« dienen (206, vgl. 207). Auch stelle das in wirtschaftshistorischer Forschung für vormoderne Gesellschaften postulierte Konzept des autark wirtschaftenden »Ganzen Hauses« eine aris­totelische Idealkonzeption dar, die keineswegs von allen antiken Haushaltstheorien geteilt werde. Ein Themenkatalog zeige (s. die Tabelle, 211–213), dass Haushaltsschriften sich mit materiellem Besitz und seiner Vermehrung, mit Versorgung und Wohlstand, aber auch mit Herrschafts- (Mann gegenüber Frau, Freie gegen­über Sklaven) und Gemeinschaftsverhältnissen (Haushalt als Orientierung auf das Nützliche) beschäftigen.
In einem zweiten Großabschnitt wendet sich L. »Themen der Oikonomia-Literatur in den Paulus-Briefen« zu (219–305). Während 1Kor 4 zeige, dass für Paulus die expansiv ausgerichtete Mission »eine latent kritische Haltung gegenüber dem Eingebundensein in die Verpflichtungen im Haushalt zur Folge« hat (346), lasse sich an 1Kor 9,1–23 erläutern, dass der Themenkomplex ökonomischen Denkens den Hintergrund der paulinischen Apologie über seine apostolische Freiheit bildet (221–244).
L. folgert daher für Korinth, dass der Apostel in der Ausübung seines »Amtes« im Konflikt mit einem ökonomischen Wertesystem liegt: Für Teile der Ge­meinde gehöre Paulus zu einer Gattung von Missionaren, die sich der Demagogie verdächtig machen, da sie nicht als Freie ihre Überzeugung unabhängig vertreten können. Sie halten sich von wohlhabenden Haushalten frei, indem sie deren Versorgungsangebot ausschlagen (vgl. 1Kor 9,4) und ein eigenes Erwerbsleben führen (vgl. V. 6). Sie erniedrigen sich damit zu Sklaven, die keine Muße zur Philosophie haben (vgl. Xen. Oec. 11,22–12,5; Arist. Pol. 1,5 f.). Zudem verweigern sie durch ihr Verhalten »das Angebot patronaler Freundschaft und ... den Anbietern dieser Freundschaft das für sie mit der Annahme verbundene Prestige« (233, vgl. 239).
Paulus verteidige in 1Kor 9,1–23 seine »rufschädigende Lebensweise« (233) als handwerklich arbeitender und ehelos Lebender mit dem Hinweis, dass er als Apostel mit einer »Haushaltsführung beauftragt ist« (9,17), in der die ökonomische Wertordnung in Frage gestellt werde: Da er auf Grund eines Zwanges das Evangelium verkündigen muss (V. 17), stehe ihm als Missionar die durch gemeindliche Haushalte vermittelte Versorgungsleistung nicht zu (230). Sein Lohn ist die Verkündigung des Evangeliums selbst (V. 18b). Ist er aber von einem Entlohnungsprinzip frei, so auch von Verpflichtungen des patronalen Beziehungssystems und kann auf diese Weise sein missionarisches Ziel maximieren, gerade auch die »Schwachen« zu gewinnen (vgl. zu V. 22: 8,9.13; 10,32).
Zum Schluss ihrer Studie widmet sich L. dem Thema »Haushalte und Hauskirchen im Corpus Paulinum« (307–342). Da Paulus einzelne getaufte Mitglieder eines Haushalts nenne (vgl. Röm 16,11a u. b; 1Kor 7,12–14; Phil 4,22), habe der Apostel – im Unterschied zur Darstellung der Apg (vgl. 18,8) – im Allgemeinen keine ganzen Haushaltsgemeinschaften getauft (Ausnahme: 1Kor 1,16). Paulus unterscheide zwischen Haushalten, die sich für die Gemeinde und den Dienst für den Apostel engagieren (Röm 16,1–4), sog. »safe houses«, und Haushalten (V. 23), die zum Kristallisationskern einer gemeindlichen Versammlung werden.
Die Studie schließt mit einer Ergebnissicherung (343–348) und einem Personen-, Sach- und Stellenregister, das leider keine An­merkungen nennt. Die optische Zugänglichkeit des Literaturverzeichnisses leidet darunter, dass das gesamte Layout des Buches ausschließlich Absätze mit Einzug verwendet.
Durch die Beschäftigung mit der antiken Oikonomia-Literatur hat L. ein wichtiges Kapitel der Geschichte der Ökotrophologie, der Wirtschaftswissenschaften und der antiken Philosophiegeschichte geschrieben. Für die neutestamentliche Exegese bildet ihre sozialgeschichtliche Studie eine gute Ausgangsbasis, um Interdependenzen zwischen antiken Oikos-Vorstellungen und christlicher Ekklesiologie wie Gemeindeethik nachzugehen. Auch erhalten neutestamentliche Texte, die auf Haushaltsfunktionen oder -metaphorik eingehen, einen sozialtheoretischen Hintergrund. Nicht überzeugen kann L. mit der These, dass die vorpaulinische Tauftradition Gal 3,26–28 haushaltsökonomisch einzuordnen sei (296.346). Die soteriologische Aufhebung des Unterschiedes zwischen Jude und Nichtjude lässt sich auf der Folie frühjüdischer Anthropologie angemessener interpretieren (vgl. U. Mell, Neue Schöpfung, BZNW 56, 306–315). Ist der Arbeit von L. anzumerken, dass sie nicht aus einem Guss, sondern über einen längeren Zeitraum entstanden ist, so darf sie doch als ein wichtiger sozialgeschichtlicher Beitrag zur Paulusexegese gewertet werden, zum apostolischen wie paulinischen Freiheitsverständnis im Kontext antiker Haushaltstheorien.