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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

921–923

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Johnson, Luke Timothy

Titel/Untertitel:

Hebrews. A Commentary.

Verlag:

Louisville-London: Westminster John Knox Press 2006. XXVIII, 402 S. 8° = The New Testament Library. Lw. US$ 32,97. ISBN 978-0-664-22118-8.

Rezensent:

Knut Backhaus

Der Hebräerbrief macht es seinen Auslegern nicht leicht; aber er inspiriert sie auch ungemein. Jedenfalls hat er nun seit einiger Zeit im deutsch- wie im englischsprachigen Raum eine stattliche Reihe vorzüglicher Kommentare veranlasst, von denen die meisten – was angesichts der »Konkurrenzlage« überrascht – ein unverwechselbares Eigenprofil aufweisen. Das gilt auch für das hier vorzustellende Opus. Um die theologische Synthese und die Überwindung (ge­nauer: Fruchtbarmachung) von Rezeptionsschwierigkeiten be­müht, tritt es auf gleicher Augenhöhe, aber mit ganz anderer Blick­richtung neben den analytisch prägnanten Hebr-Kommentar, den Craig Koester in der Anchor Bible vorgelegt hat. Luke Timothy Johnson, Neutestamentler an der Candler School of Theology der Emory University, hat schon manches neutestamentliche Buch kommentiert, und dieser Kommentar atmet den Geist eines Spätwerks: Nicht so sehr auf der Höhe der Forschung als in der Tiefe der christlichen Existenz will er Hebr verorten. Dabei fließt gerade auch hermeneutisch viel von den in früheren Arbeiten grundgelegten Einsichten J.s ein. Dagegen verzichtet er auf materiellen Ballast; die Fußnoten mit ihren Literaturverweisen sind im Auslegungsteil höchst sparsam und sowohl im Einleitungs- wie im Auslegungsteil eher unrepräsentativ und nicht immer hilfreich. Aber die Exegese ist durchgehend kundig und verlässlich und ihre Darlegung leserfreundlich und elegant.
J. nennt eingangs vier Bezugsgrößen, die ihm bei seiner Auslegung vor Augen standen: die großen Kommentare von Ceslas Spicq und Harold Attridge, die wissenssoziologische Arbeit von David de Silva und die asketischen Betrachtungen von Abt Columba Marmion. Dieses recht ungleiche Quartett kennzeichnet in gewisser Weise das innere Gefüge des Kommentars: Er ist (in gediegen-konservativem Sinn) theologisch orientiert und (ganz nach modernem Maßstab) historisch verantwortet, macht die Ausführungen des Hebr vor dem antiken Wertekanon transparent und sieht doch gerade auch in deren Undurchsichtigkeit die spirituelle Chance des Befremdlichen: »The task of a responsible commentary is not to explain away the difficulties, but to expose the challenge« (2).
Der Einleitungsteil (1–60) beschreibt zunächst knapp die Text- und Rezeptionsgeschichte des Hebr zwischen Papyrus 46 und Johannes Chrysostomos und fragt nach dem Wert des Schreibens in der Formung des Kanons; J. sieht ihn in dessen christologischem, nachfolgetheologischem und vor allem symbolsprachlichem Potential. In der Tat lebt die Rede von wanderndem Gottesvolk und himmlischer Heimat wesentlich aus der metaphorischen Suggestionskraft des Hebr. Freilich erwachsen gerade so Barrieren für den heutigen Leser, der weder die symbolische Welt noch die kreative Weise der Schriftlektüre noch die christozentrische Glaubensgewissheit des Hebr teilt. Es scheint, dass J. darin eher ein Problem des Lesers als des Hebr sieht.
Unter den literarischen Aspekten hebt J. den rhetorischen Cha­rakter des Hebr hervor: seine (zumindest nachgeahmte) Mündlichkeit, seinen deliberativen Grundzug, mit begründeter Skepsis ge­gen universalisierbare Regeln seine dispositio, mit ebenso begründetem Nachdruck die Grundlinien der inventio (Logos, Pathos, Ethos) und, etwas vordergründig auf die Synkrisis und die conclusio a minore ad maius konzentriert, die argumentatio. Be­sonders aufschlussreich sind die Ausführungen zum symbolischen Universum des Hebr (15–30): J. betont bereits in den Formfragen die griechisch-römische Verwurzelung des Hebr. Deutlicher noch stellt er sie für die mittelplatonische Denkweise des Hebr heraus, wobei er in angemessener Entschiedenheit die Metaphysik des Schreibens auch eine solche nennt und den biblischen Himmel mit der noumenalen Realität, die biblische Erde mit der phainomenalen Schattenwelt platonisierender Weltkonstruktion korreliert, zugleich aber die durch Schriftbindung und Christus-Homologia bedingten Unterschiede festhält: Hebr biegt die vertikale Dichotomie eschatologisch ins Zeitschema um und schreibt der physischen Wirklichkeit eigenen Wert zu. Zur Weisheit des Spätwerks mag es gehören, dass J. sich durch diese m. E. sehr zutreffenden Bewertungen nicht zu der – die Hebr-Forschung ebenso lange wie unnötig belastenden – Alternative »hellenistisch oder biblisch?« verführen lässt. Vielmehr würdigt er mit keiner geringeren Entschiedenheit den Umstand, dass sich die mittelplatonischen Denkbewegungen im Rahmen des biblisch-frühjüdischen Sinnkosmos und im Modus der Schriftauslegung vollziehen. Ganz im Gefolge Spicqs sieht J. daher ein imaginatives Schnittfeld zwischen Philo und Hebr (ohne dass er dessen biographische Konklusion teilt, der Auctor ad Hebraeos sei Philo-Schüler). Freilich fügt er hinzu: Hätte Hebr Philo verstanden, so doch Philo kaum Hebr, denn die christozentrische Erdung des Heils stellt unser Schreiben in eine gänzlich anders geartete, nämlich urchristliche Denktradition. Der theologische Einzelgänger, als der er oft gesehen wird, ist Hebr jedenfalls vor deren Hintergrund nicht.
Bei der Bestimmung der rhetorischen Situation und der Adressatenfrage geht dieser Kommentar einen Mittelweg: Er schließt sich nicht der (im englischsprachigen Raum dominierenden) »re­lapse«-Theorie an (Hebr wende sich an Judenchristen, die auf Grund ihrer Tempelbindung zum »Rückfall« in ihre Stammreligion neigen) und versagt sich den Rückschluss vom theologischen Profil auf den ethnischen Hintergrund oder vom exegetischen Präsens auf die Zeitgeschichte. Gleichwohl folgert er aus dem Schweigen über das Ende des Tempelkults, dass dieser zur Zeit der Abfassung des Hebr noch vollzogen wird: »In this case, the nonbarking dog does support, all other things being equal, a date before 70« (39). Über die »equality« des übrigen Sachstands wird weiter zu diskutieren sein, und wer den Hund nicht in 8,13 und 10,9 zumindest knurren hört, der mag (wie der Rezensent) davon ausgehen, dass Hunde vor allem dann nicht bellen, wenn sie sich einer wesentlicheren Sache widmen (und Hebr verrät das zeitgeschichtliche Desinteresse des Intellektuellen). Mit Blick auf die Autorenfrage vertritt J. ein informiertes Ignoramus: Wenn er sich ausführlich, wiederum im Gefolge Spicqs, mit der Zuschreibung an Apollos auseinandersetzt, so bringt dies heuristischen Gewinn: So ähnlich wie diesen müssen wir uns den Auctor ad Hebraeos vorstellen, und wie kein anderer namentlich bekannter Urchrist verkörpert Apollos jene hellenis­tischen Urchristentümer jenseits des Paulus, von denen wir wissen, ohne sie zu kennen.
Besonders sensibel widmet sich J. der theologischen Linienführung, namentlich dem Sprechen Gottes, der reifen Christus-Lehre und dem Jüngerschaftskonzept (44–60). Dabei versucht er nicht nur die Botschaft des Hebr zu skizzieren, sondern auch die Gründe zu nennen, weshalb sie als schwierig gilt. Mutig plädiert er für eine Art »zweiter Naivität«, die die historische Kritik voraussetzt, aber so denn auch hinter sich lässt, um jene symbolische Welt zu betreten, in die Hebr einlädt. In ihr kann der Alltag auf Gott hin durchschaut werden, besitzt die Schrift prophetische Gegenwartsmacht, sind das Menschliche und das Göttliche an Jesus nicht Definitionsstadien, sondern dessen Brücken schlagende Wirklichkeit, bedingen sich individuelle Frömmigkeit und die gemeinschaftsorientierte Dimension des Evangeliums gegenseitig, ist Leiden Entwicklungs- und Entdeckungsprozess.
Entlang dieser Linien bewegt sich die Einzelauslegung. Auf einen knappen sachlich hinführenden, aber kaum analytisch zu nennenden Abschnitt folgen Übersetzung, Hinweise zur Textkritik und ausführliche Vers-für-Vers-Interpretation. Diese ist empathisch am Text orientiert und gleichzeitig (mit einer die Lektüre nicht erleichternden Fülle von Querverweisen) um religions- und christentumsgeschichtliche Kontextualisierung des Hebr bemüht. Zudem ziehen sieben Exkurse Querstränge zur alttestamentlichen, frühjüdischen und urchristlichen Theologie: »Warum Engel?«, »Die Wüste als Paradigma«, »Leiden und Glaubensgehorsam«, »Der geheimnisvolle Melchisedek«, »Alter und Neuer Bund«, »Heiligtümer, materiell und ideal« und »Lob auf Israels Helden«.
Der handliche, aber nicht spärliche Kommentar strahlt die Individualität J.s aus, ohne krampfhaft nach Originalität zu haschen. Wer weniger an exegetischem Detail und Fachdiskussion interessiert ist und einen zuverlässigen und klaren Zugang zu den theologischen Grundzügen des Hebr sucht, wird reichen Gewinn aus ihm ziehen.