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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

918–921

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dübbers, Michael

Titel/Untertitel:

Christologie und Existenz im Kolosserbrief. Exegetische und semantische Untersuchungen zur Intention des Kolosserbriefes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2005. XII, 377 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 191. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-148608-1.

Rezensent:

Christian Stettler

Michael Dübbers, jetzt Pastor in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, legt hier seine Dissertation in leicht überarbeiteter und gekürzter Fassung vor. Sie wurde an der Universität Tübingen unter der Anleitung von Gert Jeremias verfasst und 2002 von der Evangelisch-theologischen Fakultät angenommen. Ziel der Arbeit ist es, die von Ernst Käsemann ausgehende und weit verbreitete These zu widerlegen, dass die Christologie des Kolosserbriefs vor allem eine »Herrschafts-Christologie« sei. Dies gelingt in überzeugender Weise durch eine methodisch klar reflektierte Exegese von Kol 1,9–3,15, die den briefinternen kontextuellen Bezügen semantische Priorität gegenüber von außen an den Text herangetragenen Bezügen einräumt. Zentral ist dabei die Exegese des Hymnus in Kol 1,15–20. D. stellt fest, dass Christus im Kolosserbrief (einschließlich des Hymnus) »eher als Grund allen Seins und Neuseins denn als universaler Regent dargestellt wird« (20). Entsprechend sei nicht die Unterwerfung der Menschen unter den Chris­tus im Gehorsam, sondern ihre »existentielle Verbundenheit« mit ihm betont (21).
Nach einem komprimierten Überblick über die in der deutschsprachigen Exegese vorherrschende Sicht der Christologie des Briefs und der Auslegung des Hymnus (1–16; die Exegese außerhalb des deutschen Sprachraums bleibt hier, anders als in D.s eigener Exegese, praktisch unberücksichtigt) zeigt D. auf, »dass die herrschaftschristologische Interpretation des Hymnus wie des Briefes durch eine Reihe bisher kaum hinterfragter Voraussetzungen und me­thodischer Defizite belastet ist« (17–25, hier: 17). Sie gründet vor allem auf Käsemanns Zirkelschluss, dass der ursprüngliche Hymnus auf dem Hintergrund stoisch-platonischer Kosmologie zu lesen und deshalb »der Kirche« in Kol 1,18a als redaktioneller Zusatz auszuscheiden sei, wodurch der Vers wiederum zur (einzigen eindeutigen) Begründung für den stoisch-kosmologischen Hintergrund wird. Auch im Gesamtzusammenhang des Kolosserbriefs sieht D. keine »ausgeprägte Herrschaftschristologie« (20). Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Christus-Titel kefalē. Im Kolosserbrief bezeichnet dieser nach D. Christus nicht als Herrscher, sondern als Seinsgrund.
Als Grundlage für seine eigene Exegese bietet D. nun einen kenntnisreichen Überblick über ältere wortsemantische Theorien und über neuere Ansätze einer kontextuellen Semantik (26–83). Im Anschluss an Letztere hat die Kolosser-Exegese nach D. »vom Text selbst und seinen kontextuell eingebundenen Elementen als der alles entscheidenden Interpretationsnorm auszugehen und nicht primär nach der Textentstehung (Literarkritik) bzw. nach möglichen parallelen Vorstellungszusammenhängen in der Umwelt des Kolosserbriefs zu fragen (Traditionsgeschichte). Denn nur, wenn der Interpret der textinternen Verweisstruktur folgt und somit nur diejenigen textexternen Wissenskomplexe zum Verständnis des Textes heranzieht, die sich als vom Autor präsupponiertes oder intendiertes Referenzwissen wahrscheinlich machen lassen, ist es möglich, sich methodisch kontrolliert der Autorintention zu nähern. Wer dagegen den Textsinn auf dem Hintergrund vornehmlich textexterner Elemente zu erschließen versucht, läuft Gefahr, den Kolosserbrief mit Wissenskomplexen zu überfrachten, die am Text selbst keinen hinreichenden Anhalt haben.« (81)
D. setzt in seiner eigenen Exegese mit dem Hymnus ein (84–129). Hier schließt er sich eng an die Analyse von O. Hofius an (»Erstgeborener vor aller Schöpfung – Erstgeborener aus den Toten«, in: Auferstehung – Resurrection, hrsg. v. F. Avemarie und H. Lichtenberger, Tübingen 2001, 185–203). Es fällt auf, dass sich D.s Einzelexegesen und Ergebnisse fast durchweg mit der Monographie von C. Stettler decken (Der Kolosserhymnus, Tübingen 2000), obwohl er diese nur am Rande erwähnt und sich nicht mit ihr auseinandersetzt. Umso mehr darf man diese weitgehende Übereinstimmung als gegenseitige Bestätigung von zwei voneinander unabhängigen Arbeiten auffassen.
Der Hymnus ist für D. die Basis der Argumentation des Briefs, der immer wieder auf jenen Bezug nimmt (1,24; 2,9.10.15.18.19; 3,15). Inhaltlich ist der Hymnus in zwei Teile geteilt: 1,15–17 (Schöpfung) und 18–20 (Neuschöpfung). Wegen der Bedeutung der Engel für die Gegner in Kolossä (2,18) sieht D. in der Aufzählung der Mächte in 1,16 und der Erwähnung von »Erde und Himmel« in V. 20c Zusätze des Briefverfassers. In beiden Teilen des Hymnus »(gehört) Christus … als Schöpfungs- und Heilsmittler ganz auf die Seite Gottes« und steht der Welt und der Kirche » kategorial gegenüber« (105). Sein Verhältnis zur Welt und zur Kirche ist »nicht primär … ein herrscherliches, sondern … ein existenzbegründendes« (106). Genau dies besagt nach D. der Titel »Haupt« – auch im Ausdruck »Haupt jeder Macht und Gewalt« in 2,10. D. zeigt überzeugend, dass die Versöhnung der Welt in der zweiten Strophe nicht als »Überwindung eines innerkosmischen Streites«, sondern als »die in Gottes Versöhnungstat durch Christus begründete Wirklichkeit der Sündenvergebung« verstanden wird, die »von dem Kreuzestod Jesu Christi als dem entscheidenden Heilsereignis nicht zu trennen« ist (122 f.). Das »Kreuzesblut« (1,20) ist für den Hymnus »das eigentliche Sühnemittel und somit die conditio sine qua non der mit der Sündenvergebung identischen Versöhnungstat Gottes« (124).
Diese Exegese wird durch die Rahmung des Hymnus in 1,12–14.21–23, die auf die Versöhnungsaussagen des Hymnus Bezug nimmt, bestätigt (130–156). Die hier thematisierte Heilswirklichkeit der basileia gründet in der im Hymnus besungenen »Rettungstat Gottes als Überwindung der Sündenwirklichkeit« sowie in der »Verkündigung und Bekehrung als Vergegenwärtigung des im Kreuz erfolgten Wechsels« (140 f.). Auf dieser gegenwärtigen Heilswirklichkeit, nicht auf der Herrschaft des Christus, liegt nach D. der Akzent. Dass die Heilstat Gottes mit der Glauben schaffenden Verkündigung zusammen die neue Heilswirklichkeit konstituiert, findet seine Bestätigung auch in der Exegese von 1,24–2,5 (157–177). Nach D. bildet demnach die »Verbundenheit von Chris-tologie und Existenz … die soteriologische These des ersten Hauptteils des Kolosserbriefs« (177).
In seiner Exegese von 2,6–3,15 weist D. diese Grundthese auch für den zweiten Hauptteil des Briefs nach (178–305). »Wandelt in ihm« (2,6 f.) bilde hier das »grundlegende ethische Kriterium für alles christliche Verhalten«; es werde in der Auseinandersetzung mit den Gegnern in 2,8–3,4 »vor allem in negativer Hinsicht« und in 3,5–15 als »positive Explikation« des christlichen Verhaltens entfaltet (190). Schon in 1,9–11 werde zudem dieses Kriterium sichtbar.
In seiner Analyse von 2,8–3,4 stellt D. meist abwägend die unterschiedlichen philologisch möglichen Interpretationen dar; mit Schlussfolgerungen auf eine konkrete Gestalt der »Philosophie« ist er zurückhaltend, weil es ihm um die Argumentationsstruktur des Textes und nicht um Hypothesen über die Identität der Gegner geht. Diese Argumentationsstruktur arbeitet er denn auch klar heraus und fasst sie in einer hilfreichen Übersicht zusammen (285 f.). Der Abschnitt »erweist sich … als eine groß angelegte und wohldurchdachte Komposition«, in der der Verfasser dem Heilsversprechen der Irrlehrer die alleinige »Konstitution der Heilswirklichkeit durch die existentielle Bindung des Menschen an Christus« entgegenstellt (284). Auch hier erscheint Christus also als der Existenzgrund der Glaubenden und nicht als der Herrscher. Dies gelte auch für die kefalē-Aussagen.
In 3,5–15 (3,16 f. zählt D. mit 3,18 ff. zu den »allgemeinen Schlussermahnungen«; 289, Anm. 9) entfaltet der Verfasser nach D., welches Verhalten der Heilswirklichkeit angemessen und welches ihr nicht angemessen ist. Am klars­ten kommt der hier vorausgesetzte Grundsatz der Entsprechung von Heilswirklichkeit und Verhalten in 3,10 zu Ausdruck, wonach der »neue Mensch … in tiefer Entsprechung zu Christus neu gebildet« wird (297), und in 2,13, wo­nach das »Handeln der Adressaten … der an Christus gebundenen Heilstat … entsprechen (soll)« (301). Demgegenüber forderten die Irrlehrer »ein bestimmtes Verhalten als Bedingung des Heils« (308).
Eine paraphrasierende Übersetzung von Kol 1,1–3,15 schließt die Untersuchung ab.
Die Arbeit geht konsequent im Sinne einer kontextuellen Se­mantik vor. Die philologische Analyse des Textes zeigt in der Regel die verschiedenen möglichen Interpretationen auf und wägt dann diese gegeneinander ab. D.s Argumentation ist immer bedenkenswert und meist überzeugend. In Exkursen schätzt er differenziert das Verhältnis von Aussagen des Briefs zu außerbrieflichen Traditionen ein, so bei den Themen Sühne, Tauftheologie, Neuschöpfung, Herzensbeschneidung und Leib Christi. Das Ergebnis ist eine erstaunliche Nähe des Kolosserbriefs zur Theologie der paulinischen Homologumena. Es ist schade, dass D. nicht auch im Blick auf die Verfasserfrage differenziert argumentiert – er schließt sich der gegenwärtigen deutschen Mehrheitsmeinung an, statt die Frage, die ja nicht sein Thema ist, im Blick auf die unentschiedene internationale Diskussion offenzulassen.
An einigen Stellen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die These die Mutter der Exegese war, so in der doch gezwungenen Auslegung von 2,15, wo D. apekdyomai und thriambeuein jeder kriegerischen Konnotation entledigen will und so auslegt, dass Gott die Engel »entzauberte«, »ihnen den Glanz (nahm), zum Heil führen zu können« (261 f.). Ist im Urchristentum, das durchweg eine hohe Ehrfurcht vor den Engeln Gottes zeigt, die Aussage vorstellbar, dass Gott »die Engel [und zwar böse wie gute!] … dem öffentlichen Gespött preis(gab)« (262)? Kann man ferner christos, hyios theou und basileia so ganz jeder herrscherlichen Konnotation entledigen, wie D. dies tut? Ist nicht der Christus – gerade weil er »auf die Seite Gottes« gehört – auch der Herr des Kosmos und der Gemeinde und ist diese Konnotation nicht an Stellen, die von der basileia des Sohnes oder von seinem »Haupt«-Sein sprechen, zumindest mitvorhanden, auch wenn D. überzeugend gezeigt hat, dass darauf weder im Hymnus noch im ganzen Brief der Akzent liegt?
In dieser Frage zeigt sich m. E., dass es methodisch letztlich undurchführbar ist, eine kontextuelle Exegese auf jene »Wissenskomplexe« zu beschränken, auf die in einem Text eindeutig Bezug genommen wird. Vielmehr ist jede Exegese bewusst oder unbewusst! – immer auch beeinflusst davon, welches »Weltwissen«, welche »Enzyklopädie«, welche »Traditionen« sie in der kulturellen Welt des Autors als bekannt voraussetzt; Wörter sind immer auch »Eingangstore« zu außertextlichen Wissenskonzepten, mit denen sie in Verbindung stehen (s. klassisch U. Eco, Lector in fabula). Es findet immer ein hermeneutischer Zirkel statt zwischen der Analyse eines Textes und seinem angenommenen kulturellen Kontext. Deshalb ist es ratsam, diesen Zirkel in die methodische Reflexion einzubeziehen.
Diese Anfragen schmälern aber keineswegs das Urteil, dass diese Arbeit eine meisterhaft durchgeführte philologische und theologische Exegese darstellt, die die Diskussion nicht nur im Blick auf die Hauptthese der Arbeit, sondern auch im Blick auf vielen einzelne Stellen des Kolosserbriefs wirklich weiterführt (so zu 2,14 oder zu den »Weltelementen«) und die es verdiente, nicht nur in einer Mo­nographie »begraben« zu sein, sondern zu einem Kommentar des ganzen Briefes ergänzt zu werden, so dass ein breiteres Publikum davon Nutzen ziehen könnte. Es ist zu hoffen, dass D. dazu Zeit und Energie findet.