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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

916–918

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Seybold, Klaus

Titel/Untertitel:

Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 331 S. gr.8° = Poetologische Studien zum Alten Testament, 2. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-019696-4.

Rezensent:

Wolfgang Oswald

Das anzuzeigende Werk ist der zweite Band der Reihe »Poetologische Studien zum Alten Testament« und führt den ersten Band »Poetik der Psalmen« desselben Vf.s weiter. Die vorgelegte Poetik hat die »Rekonstruktion der Technik und Kunst des Erzählens zum Ziel, mit der und aus der die Erzähler ihre Werke geschaffen haben« (14). Der Vf. nennt zahlreiche Autoren vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum und aus Israel, die sich in den vergangenen Jahren der Sprachgestalt der alttestamentlichen Erzählungen zugewendet haben und deren Werken er sich verpflichtet fühlt (16). Im Unterschied zu diesen Arbeiten will der Vf. die poetologische Analyse aber auf Basis der Ergebnisse der »älteren und neueren Literarkritik« (16 f.) durchführen. Tatsächlich haben etliche Vertreter des »literary criticism« (im Sinne von Literaturkritik) einen Gegensatz zwischen dieser Methode und dem »literary criticism« (im Sinne von Literarkritik) gesehen und ihre Analysen grundsätzlich nur am Endtext durchgeführt. Demgegenüber stellt der Vf. vollkommen zu Recht fest, dass »die zu untersuchende Werkeinheit erst festgestellt werden muss« (17). Dieser Ansatz ist nur zu begrüßen, denn es kann gar nicht oft genug gesagt werden, dass literargeschichtliche und literaturwissenschaftliche Analyse keine Gegensätze bilden. Vielmehr ist die vorgängige präzise Analyse der Sprachgestalt sowohl Voraussetzung für eine fundierte Literarkritik als auch notwendiger Teil der Interpretation der rekonstruierten Werke.
Die Darstellung des Vf.s geht dabei über reine Werkanalysen hinaus, im ersten Hauptteil führt er in die hebräische Erzählkultur ein, im zweiten in die erzählenden Gattungen und in die Stil- und Bauformen des Erzählens. Der dritte Hauptteil behandelt in kurzen, exemplarischen Auslegungen ausgewählte Erzählwerke des Alten Testaments, aufsteigend nach Länge geordnet von der Kurzgeschichte über Erzählungen und Novellen bis hin zu den großen geschichtlichen Erzählwerken, Sammelwerken und Großkompositionen. Der vierte Hauptteil schließlich befasst sich mit kommunikativ-pragmatischen Fragestellungen wie den Redezielen und Lehrzielen des Er­zählens. Eine Bibliographie sowie ein Bibelstellen- und ein Begriffsregister beschließen den Band.
Wenn der Vf. Texte analysiert, die mit Hilfe der »älteren und neueren Literarkritik« rekonstruiert wurden, dann ist de facto vor allem die ältere Literarkritik gemeint. Dem Leser begegnet der his­torisch-kritische Methodenkanon einer eigentlich vergangen ge­glaubten Wissenschaftsepoche, Formgeschichte und Quellenscheidung, in Kombination mit neueren Erkenntnissen der Poetologie und Narratologie, wie am Beispiel von Gen 22 demonstriert sei. In einem längeren Abschnitt benennt der Vf. die Voraussetzungen seiner poetologischen Analyse (115): 1. Gen 22 basiere auf der Heiligtumslegende eines nicht mehr bekannten Bergheiligtums. 2. In der Legende gehe es um die Auslösung des Menschenopfers durch ein Tieropfer. 3. Als diese Fragestellung nicht mehr aktuell war, habe sie der »Elohist« genannte Sammler derartiger Heiligtumslegenden in sein Werk integriert und mit Zusätzen versehen.
Blickt man in die neuere Literatur, so teilen nur noch wenige diese Prämissen. Was der Vf. im Folgenden dann schreibt, hängt aber nur geringfügig von den selbst gestellten Vorgaben ab. Wenn etwa den Reden in der Erzählung ein »doppelter Boden« (117) attestiert wird, so ist dies eine gelungene poetologische Analyse (von vielen), die aber mit der postulierten Heiligtumslegende sicher nichts mehr zu tun hat. Die weitere Auslegung kreist um das Leitwort »sehen« und die Erkenntnis, dass alle Ereignisse »unter den Augen Gottes« (118) ablaufen. Neuere Auslegungen von Gen 22 betonen gerne die vielfältige Intertextualität (Veijola; Steins) und damit einen – doch wohl poetologischen – Aspekt, der beim Vf. nicht nur im Zusam­menhang mit Gen 22, sondern durchweg gar nicht zur Sprache kommt. Diese Kontextualitäten freilich lassen sowohl die Hypothese der Heiligtums­legende als auch die Urkundenhypothese unangemessen erscheinen. Diese poetologische Analyse von Gen 22 ist aber auch dann interessant zu lesen, wenn man die form- und literargeschichtlichen Hypothesen des Vf.s nicht teilt. Man wird allerdings auf Grund jener Analysen nicht zu den literargeschichtlichen Urteilen kommen, die er als Voraussetzung benennt. Will man poetologische Arbeit in diachroner Perspektive machen, so darf man die Poetologie auch getrost zur Revision der Literarkritik und der Formgeschichte einsetzen, nicht nur zur Weiterverarbeitung von deren Ergebnissen.
Einen ähnlich zwiespältigen Eindruck hinterlässt auch die poetologische Analyse der sog. Quellenschriften des Pentateuch. Während der Vf. zahlreiche Kurzgeschichten, Novellen und Erzählungen des Alten Testaments gattungsmäßig und narratologisch treffend einordnet und beschreibt, will es mit dem Jahwisten (und dem Elohis­ten) nicht so recht klappen. In einem Überblick werden sie der Gattung »Sammelwerke, vorgestellt als Archive« (57) eingeordnet, in dem Zeugnisse zu einer bestimmten Geschichtsepoche aufbewahrt werden. »Narrative Kompositionsstrukturen« sollten im Jahwisten-Archiv eigentlich nicht zu erwarten sein, dennoch bietet der Vf. einen Abschnitt zu genau diesem Thema (235–238), der freilich über einige Andeutungen nicht hinauskommt. Diese und andere Leerstellen deuten doch wohl daraufhin, dass er hier ein Phantom beschreibt – im Unterschied zur Analyse der Priesterschrift (242–246), die sehr anschaulich ist.
Somit liegt die Stärke des Buches eindeutig in der poetologischen Analyse kleinerer und mittlerer Einheiten. Wie ein roter Faden zieht sich der Nachweis durch die Beispielanalysen, dass die methodisch geschulte Wahrnehmung von Stil und Erzähltechnik die Mitteilungsabsicht des Erzählers zu Tage treten lässt. So kommt der Vf. etwa auf Ex 2,1–10 dreimal zu sprechen. Das erste Mal im Abschnitt zu den Stilformen des Erzählens (62–64), das zweite Mal im Abschnitt Kurzgeschichten (119–121), das dritte Mal schließlich im Zuge von Überlegungen zum Thema »Fiktionalität« (296–297) im Schlussteil des Buches. Die Dreiheit spiegelt den an methodischen Aspekten orientierten Aufbau des Buches wider, der dazu führt, dass einige Texte mehrmals unter je anderer Fragestellung behandelt werden. Im ersten Durchgang geht es im Wesentlichen um das Ausdrucksinventar des Textes, im zweiten, der Narratologie gewidmeten, be­schreibt der Vf. die Art und Weise, wie die Frauen in konzertierter Aktion den Tötungsbefehl des Pharao umgehen, wobei er die neueren Vorschläge, Ex 2,1–10 als Erzählungsanfang zu verstehen (K. Schmid; E. Otto) nicht aufgreift. Der dritte – hermeneutisch orientierte – Anlauf stellt drei Arten vor, wie man Ex 2,1–10 lesen kann: Der naive Hörer »nimmt die Erzählung für das Geschehen selbst« (296), der literarisch gebildete erkenne das altorientalische Wandermotiv des ausgesetzten Kindes, der theologisch versierte schließlich verstehe so­wohl die Fiktivität der Handlung als auch ihre theologische Qualität als Führungsgeschichte.
Insgesamt ist es dem Vf. gelungen, das weite Feld der Poetik der alttestamentlichen Erzählungen in umfassender Weise darzustellen. Dank eines ausführlichen, methodisch geordneten Inhaltsverzeichnisses ist es auch als Nachschlagewerk geeignet.