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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

281–283

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Beckmann, Dorothee

Titel/Untertitel:

Hippokratisches Ethos und ärztliche Verantwortung. Zur Genese eines anthropologischen Selbstverständnisses griechischer Heilkunst im Spannungsfeld zwischen ärztlichem Können und moralischer Wahrnehmung.

Verlag:

Frankfurt-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1995. 549 S. 8° = Forum interdisziplinäre Ethik, 10. DM 138,­. ISBN 3-631-48400-3.

Rezensent:

Wolfram Winger

Die Dissertation im Fachbereich theologische Ethik (Universität Tübingen/Professor Hunold) beeindruckt durch die ihr zugrundegelegte Idee: Die seit Anbeginn von Ethik und Medizin für beide Wissenschaften konstitutive, sich in Folge gerade in der Person des Arztsohnes Aristoteles kristallisierende besondere Interdependenz von Medizin und Ethik soll an der Genese des hippokratischen Ethos aufgewiesen werden. Der Vfn. gelingt es, den gegenseitigen Verweisungszusammenhang von geistesgeschichtlichen Entwicklungen (Natur- und Technikverständnis), soziologischen Grundlagen und pragmatisch-technischen Gegebenheiten schon für diese Frühphase der Entstehung europäischer Ethik herauszuarbeiten, die gewöhnlich ausschließlich philosophiehistorisch angegangen wird. Ethik basiert immer schon auf einem komplexen Gefüge von philosophischen Prinzipien, gesellschaftlichen Leitideen, sozialen Erfordernissen und technischen Möglichkeiten. Ethosentstehung und Ethikentwicklung sind an Voraussetzungen gebunden und deshalb zwar plural, weil ’kultur-relativ’, aber dennoch nicht beliebig gestaltbar. Aktuell ist die gewählte Thematik aufgrund der dramatischen Umbrüche, Entwicklungschancen und Gefährdungen im Bereich heutiger Medizin (moderne Apparaturen, Anwendungsmöglichkeiten der Humangenetik, moderne Medikation, oft beklagte Pflegedefizite) und, damit verbunden, heutiger medizinischer Ethik (man denke auf der Prinzipienebene etwa nur an die Patientenautonomie), die nicht zuletzt Fortdauer und Geltung des bekannten "Hippokratischen Eids" zentral berühren. Diesen kennt zwar jeder zumindest dem Namen nach, doch ist seine Genese, seine kontextuelle Verortung und daher sein wirklicher Bedeutungsumfang in aller Regel unbekannt.

Der spezifische Kniff vorliegender Arbeit ist es also, daß sie nicht nur die Einbettung des genannten Eides in das übergreifende Textkorpus hippokratischer Ärzteschriften leistet und darüber hinaus die Entstehung, Zusammensetzung und Abgrenzung dieses Textkorpus zu anderen medizinischen und philosophischen Grundmustern aufzeigt, sondern vor allem, daß sie strukturell eben die Herausbildung des hippokratischen Ethos als Paradigma von Ethosentstehung nachzeichnet und dann exemplarisch die Transformationsstufen dieses Ethos hin zur ärztlichen Ethik entfaltet. Die Vfn. bekommt hier den geschichtlichen Angelpunkt zu fassen, an dem sich Ethos und Ethik erstmals anhand der später die europäischen Ethiken prägenden fundamentalen Optionen für "Rationalität, Realität, Individualität und Relativität" (142) auf der Grundlage des Naturbegriffs konstituieren. Die behandelte Epoche trägt "Saatbett-Charakter" für die aufkeimenden Folgezeiten (16, nach einem Bild von Talcott Parsons). Dies gilt bei aller gelegentlichen Distanz zu der Tradition, in der wir stehen und aus der wir argumentieren. Über die Operation mit dem sich herausbildenden Naturbegriff gelingt der Vfn. die Darstellung der Ablösung des Ärzteethos von "Magie und Mythos" (109-140) ebenso wie der Aufriß der bis heute anhaltenden Verhältnisbestimmung von Natur und Technik in dieser frühen Epoche der Ethik (142-283; 445-460). Das Wechselgefüge von Medizin und Philosophie ­ eigentlich müßte man, das ist aus der Studie schön erkennbar, jeweils den Plural verwenden ­ im Kontext medizinischen Selbstverständnisses und medizinischer Praxis scheint in zahlreichen Facetten auf.

Die Arbeit beeindruckt ebenso durch Wissensfülle und Vielseitigkeit: Neben der einleitenden Entfaltung einer modernen, über die Arbeit gelegten ethisch-systematischen Grundbegrifflichkeit, die sich am gegenwärtigen Diskussionsstand theologischer Ethik orientiert (Teil I: 25-107; Gewährsleute der Begriffsbildung sind vor allem die katholischen Moraltheologen Alfons Auer, Franz Böckle, Klaus Demmer, Johannes Gründel, Gerfried W. Hunold, Wilhelm Korff, Dietmar Mieth und Bruno Schüller sowie der Bonner Philosoph Wolfgang Kluxen), und einer abschließenden modernen ethisch-systematischen Diskussion zum Verantwortungsbegriff, die sich am heute mehrfach behandelten Spannungsparadigma von kommunikativer und strategischer Rationalität ausrichtet (Teil V.4: 484-504, auf der Basis von Karl Otto Apel), finden sich soziohistorische Studien ebenso (71-107: aufbauend vor allem auf der These von Paul Ulrich Unschuld, die Ethosbildung einer Gruppe im Zuge der Professionalisierung diene ­ kurz ausgedrückt ­ primär deren Selbstbehauptung) wie durchgängig philosophie- (vgl. besonders 141-201: Vorsokratik als philosophisches Fundament hippokratischen Denkens) und medizingeschichtliche (vgl. besonders 202-435) Abhandlungen und Einordnungen (mit Recht immer noch gestützt vor allem auf die Altmeister Wilhelm Capelle, Felix Heinimann, Werner Jäger, Wilhelm Nestle und Wolfgang Schadewaldt sowie Karl Deichgräber, Fridolf Kudlien, Walter Müri und Hans Schadewaldt). Gerade in bezug auf letzteres kann die Arbeit als Compendium von in der Tat Wissenswertem verstanden werden. Gründliche, bis ins Detail gehende Kenntnis der Originaltexte des Corpus Hippocraticum sowie der behandelten Philosophen (vor allem des Aristoteles) liegt ­ zumindest in deutscher Übersetzung ­ vor und wird, vorbildlich, zum Ausgangspunkt der Interpretation (die Basistexte sind zu deren Verifikation dankenswerterweise in den Fußnoten angeführt). Man wird vertraut mit den hippokratischen Texten. Allein dadurch schon ist die Dissertation ein Kabinettstück besonderen Formats.

Die Studie versteht sich selbst als "historische in systematischer Absicht" (16). Der Aufbau ist klar: Nachdem in Teil I die "strukturellen Komponenten" 1. "Glaube, Erfahrung und Vernunft" (26-49), 2. "naturale, geschichtliche und kulturelle Disposition" (50-70) sowie 3. ­ davon nochmals abgehoben: die Trennung der Kategorien ist hier von der Sache her immer mit Schwierigkeiten behaftet ­ "sozio-kulturelle Disposition" "menschlicher Normativität" (71-107) herausgestellt sind, bringt Teil II (109-140) ­ dem 1. Punkt entsprechend ­ auf der Folie von "Magie und Mythos" den Aufgang abendländischer Vernunft unter der fortschreitenden Diversifizierung von Vernunft und Glaube, Teil III (141-310) ­ der 2. Komponente entsprechend ­ die "Einheit von Natur- und Ethikgeschichte" und Teil IV (311-435) schließlich ­ der 3. Komponente entsprechend ­ die "Einheit von Sozial- und Ethikgeschichte" (die Überschrift 311 formuliert abweichend "Einheit von Sozial-, Denk- und Ethikgeschichte"). Teil V (437-504) erarbeitet dann abschließend und transferierend in historisch-systematischer Bewertung zum einen die "Errungenschaften und Defizite des hippokratischen Ethos", zum anderen die "Konsequenzen für eine natur- und gesellschaftsbezogene Umsetzung der ärztlichen Verantwortung".

Formale Kritik: Bei der Fülle des Materials wäre eine noch etwas dezidiertere Leserführung durch forcierte und beständige Rückbindung an die "strukturellen Komponenten" aus Teil I wünschenswert gewesen. Interessiert hätte unter Rekurs auf "Glaube, Erfahrung und Vernunft" auch die Frage, warum das Thema heute weiterhin aus der besonderen Perspektive theologischer Ethik relevant ist. Aber dies sind angesichts des Geleisteten Quisquilien. Deshalb ohne Vorbehalt: Die Lektüre des Buches ist sehr zu empfehlen. Es verbindet immer anregend, geschickt und fundiert historische Information mit zentralen übergreifenden systematischen Problemstellungen. Derartiger Zugriff auf Geschichte befruchtet die historische Durchdringung wie die systematische Problemlösung in gleicher Weise!