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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

913–915

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Arneth, Martin

Titel/Untertitel:

Durch Adams Fall ist ganz verderbt ... Studien zur Entstehung der alttestamentlichen Urgeschichte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 268 S. gr.8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 217. Geb. EUR 64,90. ISBN 978-3-525-53080-1.

Rezensent:

Markus Witte

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schüle, Andreas: Der Prolog der Hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Gen 1–11). Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2006. XIV, 442 S. gr.8° = Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments, 86. Geb. EUR 46,00. ISBN 978-3-290-17359-3.
Wénin, André: D’Adam à Abraham ou les errances de l’humain. Lecture de Genèse 1,1–12,4. Paris: Cerf 2007. 252 S. m. Tab. 8°. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-2-204-08181-8.


Die biblische Urgeschichte (Gen 1–11) gehört zu den alttestamentlichen Textkomplexen, denen sich die theologische Wissenschaft in all ihren Disziplinen seit jeher mit besonderem Interesse widmet. Gleichwohl verzeichnen die gegenwärtigen Kataloge bibelwissenschaftlicher Neuerscheinungen eine überdurchschnittlich hohe Thematisierung von Gen 1–11. Verantwortlich dafür sind vor allem sechs Faktoren: 1. die literargeschichtliche Problematisierung des »Jahwisten«, dessen theologisches Profil zumeist aus den ihm im Rahmen der Urkundenhypothese zugewiesenen Textstücken in Gen 2,4b–4,26; 6,5–8; 8,20–22; 9,20–27 und 11,1–9 bestimmt wurde, dessen Existenz als eigenständige Quelle oder Redaktion inzwischen aber höchst umstritten ist; 2. die methodologische Frage nach der Intertextualität biblischer Texte, die sich bei einem Ab­schnitt aufdrängt, der in einem besonders hohen Maß biblische und außerbiblische Texte aufnimmt, der selbst innerbiblisch in unterschiedlichen Teilen des Kanons zitiert wird und der als Eröffnung der Bibel die Frage nach seiner literarischen Funktion im Horizont der gesamten Bibel hervorruft; 3. die damit verbundene hermeneutische und theologische Frage nach der Bedeutung von Gen 1–11 für eine »Biblische Theologie«; 4. der in den letzten Jahren intensivierte interreligiöse Dialog und die verstärkt betriebene Suche nach einer Theologie der Religionen, für die eine kulturgeschichtlich so vielfältig schillernde Komposition wie die biblische Urgeschichte einen paradigmatischen Beitrag leisten kann; 5. die durch die jüngsten Entwicklungen in den Biowissenschaften angestoßenen anthropologischen, ethischen und rechtlichen Fragen nach Anfang und Ende des menschlichen Lebens, nach der Würde des Menschen und nach der Gestaltung der Erde durch den Menschen; 6. die in Theologie, Philosophie und Kulturanthropologie neu in Angriff genommene Arbeit am Mythos und an Mythen. Die drei hier anzuzeigenden Monographien spiegeln mit unterschiedlichen Schwerpunkten einzelne der genannten Faktoren und bieten dabei einen vielfältigen Ausschnitt aus gegenwärtigen exegetischen Bemühungen, die literarische und theologische Struktur von Gen 1–11 zu erhellen.
Die Studie von Martin Arneth, Lektor für Hebräisch an der evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, geht auf dessen von Eckart Otto begleitete Habilitationsschrift aus dem Jahr 2003 zurück. In ihrem Mittelpunkt steht die literargeschichtliche Frage nach dem kompositionellen und theologischen Verhältnis der beiden bekannten Textschichten, welche die historisch-kritische Forschung seit Jean Astrucs Quellenscheidung (1753) mit zunehmender Präzision herausgearbeitet hat und deren materiale Bestimmung – mit punktuellen Modifikationen – zu einem weitgehenden Forschungskonsens ge­hört. Nach A. bildet die priesterschriftliche Schicht (P), der er in der Urgeschichte Gen 1,1–2,4a; 5,1–29a.30–32; 6,9–22; 7,6 f.8b β.9.11.13– 16a.18–22.24; 8,1.2a.3–5.13a.14–19; 9,1–17.18*.19.28 f.; 10,1–4a.5–7.20. 22 f.31 f.; 11,10–26 zuweist, eine literarisch einheitliche tetrateuchweite Quelle aus exilisch-nachexilischer Zeit, deren theolo­gisches Merkmal das Motiv der Gottebenbildlichkeit sei. Die nicht­priesterschriftlichen Stücke hingegen führt A. auf einen post­priesterschriftlichen, möglicherweise nach dem »Endredaktor« des Pentateuchs anzusetzenden Kommentator zurück, der zwar Traditionsmaterial verarbeitet habe, seine Texte aber (mit Ausnahme von Gen 4,17–24) selbständig auf P hin entworfen habe, um P aus weisheitlicher Perspektive zu korrigieren. Damit kehrt A. vom Mo­dell her zu der einst von Friedrich Tuch (1838) an der Genesis durchgeführten Ergänzungshypothese zurück, die er lediglich im Blick auf die Datierung der priesterschriftlichen und der nichtpriesterschriftlichen Anteile im Anschluss an Untersuchungen der Urgeschichte von J. Blenkinsopp (1992; 2002), J.-L. Ska (1994), E. Otto (1996), Th. Krüger (1997) und M. Witte (1998) modifiziert. Mag der Nachweis der rein redaktionellen Einfügung bei Gen 6,1–4; 9,20–27; 10* und 11,1–9 gelungen sein, so scheint mir die ursprüngliche Eigenständigkeit von Gen 2,4b–4,26 im Verbund mit den nicht­pries­terschriftlichen Anteilen der Fluterzählung als einer zweiten ur­geschichtlichen Quelle weiterhin vertretbar, ohne dass diese einem tetrateuchweit identifizierbaren »Jahwisten« zugeschrieben werden müsste. Originell, im Detail freilich nicht immer überzeugend, ist der Versuch von A., in Gen 1–11 mikrotextlich und makrotextlich umfassende chiastische Kompositionsstrukturen aufzuweisen, wie sie für altvorderorientalische Dichtung typisch seien. So lebt die Studie A.s von »formanalytischen« Skizzen, mittels derer die Literaturtechnik der priesterschriftlichen und nichtpriesterschriftlichen Autoren erhellt werden soll. Traditions- und theologiegeschichtlich äußert sich A. sehr zurückhaltend. Die festgestellten Bezüge des nichtpriesterschriftlichen Redaktors zu Ex 32–34, Num 13 f., zu Lev 17–26 oder Jer 18,7–12 werden mehr angedeutet als im Detail hergeleitet.
An diesem Punkt ist die Arbeit von Andreas Schüle, Professor für Altes Testament und biblische Hermeneutik am Union Seminary and Presbyterian School of Christian Education Richmond (Virginia), die auf dessen Zürcher Habilitationsschrift zurückgeht, un­gleich breiter angelegt. S.s literargeschichtliches Urteil zur Ver­teilung der priesterschriftlichen Stücke auf eine tetrateuchweite Quelle und der nichtpriesterschriftlichen Texte auf nichtquellenhafte Ergänzungen deckt sich weitgehend mit Arneths Ergebnissen. Allerdings verteilt S. die nichtpriesterschriftlichen Ergänzungen auf unterschiedliche Hände und rechnet im Fall von Gen 2,4b–4,26 mit einer ursprünglich eigenständigen Edenerzählung, die in Ez 28 eine Parallele habe. Ungewöhnlich ist auch S.s Zuweisung u. a. von Gen 7,12 an P und von Gen 8,3–5 und 8,13 f. an die nichtpriesterschriftliche Schicht, was Auswirkungen auf die Deutung der unterschiedlichen chronologischen Systeme der Fluterzählung hat. Im Zentrum von S.s Studie steht der Nachweis, dass Gen 1–11 als Urgeschichte nicht nur inhaltlich von Anfängen erzähle, sondern als Anfang der Hebräischen Bibel wesentliche Momente der Tora, der Prophetie und der Weisheit enthalte. Die Urgeschichte sei dementsprechend, wenn auch nicht als Kompendium des Tanach, so doch als dessen Prolog zu lesen. Kanonsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche, und intertextuelle Analysen dienen S. als Mittel, die Diskurse aufzuweisen, welche die Urgeschichte in ihren priesterschriftlichen und nichtpriesterschriftlichen Teilen innerbiblisch und außerbiblisch mit mesopotamischen und altgriechischen Überlieferungen (so im Fall der vor dem Hintergrund des Heroenkonzepts von He­siod gedeuteten Notiz in Gen 6,1–4) führt. Kennzeichnend für S.s Buch sind ein enzyklopädischer Ansatz, bei dem nicht immer deutlich ist, auf welcher Ebene der Argumentation (literarhistorisch, intertextuell, strukturalistisch oder biblisch-theologisch) er sich gerade bewegt, und die beharrliche Frage nach der literarischen und der geistesgeschichtlichen Funktion der durchgehend in die Epoche des Zweiten Tempels eingeordneten Texte von Gen 1–11. Das materialreiche Werk lädt zu einer intensiven Auseinandersetzung ein, sei es über zahlreiche interessante Einzelthesen, wie z. B. zum schriftprophetischen Erbe der Priesterschrift, zur Korrelation der Edenerzählung mit dem mesopotamischen Mundöffnungsritual, zum Verständnis von Gen 9,20–27 als mythisch-prototypischer Leseanweisung für die Völkertafel oder von Gen 11,1–9 als reflektiertem Mythos, sei es über den vorgeführten multiperspektivischen Zugang.
Gegenüber Arneth und Schüle blendet André Wénin, Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität von Louvain-la-Neuve, dezidiert historische Fragen aus und bietet eine am Endtext orientierte narrative Exegese der Urgeschichte, deren literarisches Ziel und inhaltlicher Kontrapunkt die Berufung Abrams in Gen 12,4 sei. Die Studie, die sich ausweislich ihrer Bibliographie weitgehend an eine frankophone Leserschaft richtet, ba­siert auf einer jahrzehntelangen Beschäftigung W.s mit der Genesis. Sie bemüht sich, den Text 1. hinsichtlich seiner literarischen Strukturen transparent zu machen – darin vergleichbar mit der Untersuchung von Arneth –; 2. innerbiblische Bezüge zu erhellen, womit sie sich prinzipiell mit dem Anliegen von Schüle berührt; und 3. den Leser in einen ständigen kritischen Dialog mit der als Mythos und damit als Erzählung grundlegender Existentialien verstandenen Urgeschichte zu führen. Dabei greift W. mitunter auf strukturalistische Zugänge zurück, versucht gematrische Mus­ter in der Urgeschichte aufzuweisen (so z. B. im Fall der 26 Mal gebrauchten Wurzel hājāh in Gen 1,3–31, was mit dem Zahlenwert des Gottesnamens jhwh [26] übereinstimme), berührt mitunter in­nerbiblische Exegese (so z. B. bei der Deutung von Gen 3 in Sap 2,24, Röm 7,7–13 und Jak 1,13–15) und rezipiert psychoanalytische Zu­gänge, um die Ur-Geschichten der Beziehung zwischen Mensch und Gott, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Generationen und zwischen Völkern in Gen 1,1–12,4 zu deuten und die Applikation der Leser auf ihre jeweils eigene Situation zu ermöglichen.