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Ausgabe:

September/2008

Spalte:

910–911

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Nagel, Helga, u. Mechthild M. Jansen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Migration.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Verlag für Akademische Schriften 2007. 247 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 12,00. ISBN 978-3-88864-430-6.

Rezensent:

Klaus Hock

Das Thema »Religion und Migration« hat innerhalb der Religionswissenschaft in den letzten Jahren einen atemberaubenden Aufstieg erlebt. Noch vor gut zwei Jahrzehnten war es ein weitgehend marginalisierter Arbeitsbereich, der nur wenig Interesse auf sich zog. Als ein Startpunkt kann etwa der Aufsatz des inzwischen verstorbenen britischen Religionswissenschaftlers Ninian Smart gelten (»The Importance of Diasporas«, in: S. Shaked u. a. [Hrsg.]: Gilgul, Leiden 1987, 288–297). Damit wurde zugleich die Nomenklatur vorgegeben, an der Forschungen über Religion und Migration fortan immer wieder anknüpften, nämlich »Diaspora«. Dass dieser Begriff in dem hier vorzustellenden Band nicht verwendet wird, hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Gesamtperspektive der Beiträge eine ganz spezifische ist: Sie kreist um die beiden Fragen, »welche Bedeutung Glauben und Religion für den Migrationsprozess und das Leben von Migrantinnen und Migranten haben« und »inwieweit Religion ein integrierender Faktor im Integrationsprozess sein kann« (7).
Die Publikation ist in Kooperation zwischen dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt a. M. und der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung entstanden. Ihre Beiträge entstammen drei Fachtagungen, die zwischen 2002 und 2005 von den beiden genannten Institutionen gemeinsam mit der Evangelischen Stadtakademie Frankfurt a. M. sowie der Katho­lischen Erwachsenenbildung/Bildungswerk Frankfurt durchgeführt wurden. Die Heterogenität der hier zusammengestellten Texte ist durchaus beabsichtigt, soll sie doch – so der Klappentext – »dazu beitragen, sich dem Thema vorurteils- und vorbehaltlos an­zunähern«. Als programmatisch kann auch die gesamte Ausrichtung des Buches angesehen werden, wie sie im Vorwort skizziert wird: »Eine säkulare Welt benötigt Religion und religiöse Gemeinschaften« (8). Entsprechend wird nicht Marx, sondern Marcuse be­müht, der die emanzipative Gestaltungskraft von Religion gewürdigt hatte (9).
Die einzelnen Texte des Buches sind, wie gesagt, äußerst heterogen. In der ersten Hälfte finden sich Beiträge von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus dem akademischen Bereich. Heiner Bielefeld, der Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, fordert in seinem Vortrag über den religiösen Pluralismus im säkularen Rechtsstaat eine stärkere Repräsentanz des interreligiösen Pluralismus im Dialog sowie ein stärkeres Bewusstwerden der normativen Grundlage unserer Gesellschaft, die sich nicht aus einem gemeinsamen abrahamitischen Erbe ableiten lässt, sondern die allein in den Menschenrechten zu finden ist. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive zeichnet Carsten Lehmann (Bayreuth) Besonderheiten der politischen Debatte wie Perspektiven der Forschung in Sachen »Religion und Integration« nach, und Martin Baumann (Lausanne) widmet sich der Frage, wie viele Religionen denn eigentlich eine Stadt »verträgt«; »viele«, ist seine Antwort, denn Religionspluralität ist weltweit der Regelfall, und die Aufgeregtheit über ein angebliches »Zuviel« an Pluralität spiegelt lediglich eine eurozentrische Sichtweise. Viel wichtiger ist es, zukunftsweisende Antworten auf die Frage zu finden, »wie mit der Vielfalt umgegangen wird und wie ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt und Achtung gestaltet werden kann« (80). Der Beitrag der Frankfurter Islamwissenschaftlerin Bärbel Beinhauer-Köhler über »Wohlfahrtskulturen als Gradmesser für gesellschaftliche Integration« macht deutlich, dass – insbesondere von muslimischer Seite – Migrantinnen und Migranten zwar durchaus diakonische Arbeit leisten, wenngleich häufig nicht-institutionalisiert, dass aber eine Integration dieses Engagements in das deutsche Sozialsystem noch weitgehend aussteht. Der Zürcher Psychoanalytiker Mario Erdheim bringt einen etwas anderen Zungenschlag in die Debatte. Das betrifft nicht die Frage der integrierenden Funktion der Religion für die betreffende Gruppe – hier teilt Erdheim die in diesem Band durchgehend vertretene Meinung, dass Religion den Zusammenhalt der Migrationsgemeinschaft stärkt. Er stellt jedoch darüber hinaus die gerade im deutschen Kontext provozierend wirkende Frage, »ob es nicht sinnvoll wäre, Parallelgesellschaften als eine Art Vorstufe zu sehen für eine Gesellschaft, in der dann tatsächlich die Forderung nach Religionsfreiheit gelebt werden kann« (51 f.).
Das in weiteren Beiträgen eher theoretisch Verhandelte wird im zweiten Teil an Beispielen von jüdischen und muslimischen Mi­grantinnen konkretisiert und im Blick auf den Zusammenhang von Religion, Migration und Biographie theoretisch reflektiert. Dokumente von Podiumsdiskussionen und Arbeitsgruppen runden den Band ab.
Das Buch bietet einen leicht zugänglichen Einblick in Diskussionen und Positionen zum Thema »Religion und Migration«. Das mehrfach bemühte Bild von der Religion als »schwimmende Insel im Meer der Fremde« (8 u. ö.) dürfte dabei nicht unbedingt glück­lich gewählt sein – unterstellt es doch eine Stabilität und Wesenhaftigkeit, die in dieser Form wohl keiner Religion zugeschrieben werden kann. Doch die Stärke des Bandes liegt ja auch weniger in der Tiefe der theoretischen Reflexion als in der Präsentation komplexer Zusammenhänge, die zum Weiterdenken, -diskutieren und -handeln anregt.