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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

280 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Liedke, Ralf

Titel/Untertitel:

Die Hermetik. Traditionelle Philosophie der Differenz.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1996. 191 S. gr.8°. Kart. DM 48,-. ISBN 3-506-75199-9.

Rezensent:

Günter Keil

"Hermetik ist die ursprüngliche Form eines unbequemen, zum Teil auch ’unheimlichen’, vor allem aber kritischen Denkens. Hermetisches Philosophieren findet im Muster der Nichtidentität oder der Differenz statt. Fern vom Identitätsstreben der klassischen abendländischen Metaphysik entwarf die traditionelle Hermetik das Bild einer in sich widersprüchlichen und komplexen Welt. Fremdartigkeit, Bedrohlichkeit und scheinbare Irrationalität der hermetischen Weltanschauung ­ Gedankenformen, die in krassem Gegensatz standen zu allgemeinen philosophischen Idealen, und die sich direkt in der inneren Widersprüchlichkeit hermetischer Texte selbst widerspiegeln, ließen die Hermetik und ihre philosophischen Vertreter über Jahrhunderte hinweg ein Schattendasein abseits des lichten Geistesinteresses fristen." (9) Mit diesen einleitenden Worten sucht der Vf. also nicht nur die hermetischen Schriften zu charakterisieren, sondern auch seine eigene philosophische Weltanschauung zu formulieren. Zunächst für die Bejahung der inneren Widersprüchlichkeit eine Veranschaulichung: "...wobei allerdings, und das macht die Sache erst wirklich ’paradox’, dieser Ungrund als Grund ­ dieser Unleib als Leib, dieses Nichtding als Ding, dieses Nichtmaterielle als Materie, diese Erkenntnislosigkeit... als Erkenntnis... vorgestellt wird." (89). Wieso dann aber z. B. angesichts einer "nichtmateriellen Materie" (87) eindeutig von "hermetischem Materialismus" (58) gesprochen werden kann, ohne daß beliebig alles und nichts gesagt wird, bleibt nur einem ständig in Widersprüchen denken könnenden Denken zugänglich. Auch jeder Identitätsanspruch muß dann abgelehnt werden: "...wird der Identitätsanspruch des Denkens innerhalb der Hermetik negiert" (94-95). Ist dann ein solches Denken auch nicht mehr mit sich selbst identisch? Neben die Widersprüchlichkeit und Nichtidentität des Denkens tritt dann seine grundsätzliche Nichtpositivität, die Absage des "lichten Geistesinteresses" von oben: "Im Grunde ist der vollendete Hermetiker ein perfekter Nihilist...", um sofort widersprüchlich hinzuzusetzen: "...der jedoch gerade auf Grund seines Wissens um die Wahrheit des ’nihil’ nicht den Glauben an eine göttliche Instanz verliert." (92). Der zusammenfassende Satz von alldem kann deshalb auch nur lauten: "Die Stärke der Hermetik liegt in der ’Schwäche’ oder ’Unschärfe’ ihres Denkens." (173) In der Denktrübe = Unschärfe ihres Denkens und Schreibens liegt also die Stärke der hermetischen Schriften und ihrer Philosophie! Das dürfte umgekehrt die Rechtfertigung der ’klassischen abendländischen Metaphysik’ (was das auch immer sei) bedeuten, daß sie sich gegen die ausdrücklich als Stärke deklarierte Denktrübe (,Unschärfe’) eines solchen Denkens, das sich dann selbst nur trüb artikulieren und selbst nur trüb argumentieren kann, wehrt.

Nach einem Teil I, der die hermetischen Schriften mit zum Teil allzu modernen Interpretamenten ("Materialismus", "Nihilismus", "hermetische Existenzphilosophie" [97] usw.) zu aktualisieren sucht, geht Teil II den Quellen, Ursprüngen und Motiven der Hermetik nach, wobei sich der Vf. vor allem von der Gnosisdeutung von Hans Jonas absetzt, der die innere Widersprüchlichkeit der gnostischen Schriften durch Mischung verschiedener religiöser Gedanken erklärt. Teil III ist dann den Interpretationen hermetischer Texte gewidmet. In Teil IV stehten die Alchemie und ihre Deutungsversuche (J. Evola, M. Eliade, C. G. Jung) zur Debatte.

Daß die hermetischen Texte einmal eingehender philosophisch untersucht werden, ist sehr zu begrüßen. Auch eigenwillige Deutungsversuche können hier helfen. Daß dabei Gedanken der Antinomie, des Nichtaufgehens aller Weltdeutung, der Problematik eines bloß positivistischen Denkens, des radikal Anderen oder der Dynamik der Denkprozesse mit in die eigene Weltanschauung aufgenommen werden, ist an sich zu begrüßen. Freilich: Kann man sich von der Widerspruchsfreiheit so distanzieren und sich in ein "anderes" (dann doch wohl nur widersprüchliches) Denken flüchten, wenn man selbst überhaupt noch verständlich sein will (siehe oben)?>