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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

871–874

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mette, Norbert

Titel/Untertitel:

Einführung in die katholische Praktische Theologie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 235 S. gr.8°. Geb. EUR 57,90. ISBN 3-534-15200-X.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Norbert Mette, der an der Universität Dortmund Praktische Theologie lehrt, gibt in diesem Band einen Überblick über die Leitbegriffe, das Selbstverständnis, die fundamentaltheologische Grundlegung und die wichtigsten Bereiche dieser Disziplin.
Der 1. Teil beschreibt die »Kommunikation des Evangeliums« als den Leitbegriff der Praktischen Theologie. M. erinnert daran, dass diese Formel Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von Ernst Lange in die Diskussion gebracht und gegen ein doktrinäres Verkündigungskonzept gewendet worden ist. Er arbeitet heraus, dass »Kommunikation« und »Evangelium« nicht nur miteinander vereinbar sind, sondern recht verstanden einander wechselseitig fordern. Denn das Evangelium ist keine formelhafte Satzwahrheit, sondern nur dann als die befreiende Botschaft Jesu vom menschenfreundlichen Gott verstanden, wenn auch die Form seiner Mitteilung als ein herrschaftsfreies, dialogisches Geschehen praktiziert wird. M. hält zwar an einem offenbarungstheologischen Ansatz fest: Das Evangelium ist durch das biblische Zeugnis allem verständigungsorientierten menschlichen Handeln als objektive, Gottes Handeln in Jesus Christus vermittelnde Größe vorgegeben. Ebenso energisch verpflichtet M. jedoch die Praktische Theologie darauf, dass sie das Evangelium je gegenwärtig so er­schließen muss, dass es als befreiender und ermutigender Zu­spruch vermittelt und gehört werden kann. So unternimmt M. es in diesem Buch selbst immer wieder, das Evangelium in seinem lebensdienlichen Sinngehalt zu erläutern. Er sucht nach Formulierungen, die dem naheliegenden Verdacht, dass hier doch wieder nur mit einer stereotypen Formel gearbeitet wird, entgegenwirken können. Die Praktische Theologie muss Wege der Vermittlung des Evangeliums auch für diejenigen ebnen, die von seiner Wahrheit nicht schon überzeugt sind. Deshalb gilt es, zu zeigen, dass es eine andere Lebensperspektive eröffnet, die unter den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten (Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung) zu einem anderen Umgang mit manifesten le­benspraktischen Bedürftigkeiten befähigt. Die absolute Vorgabe des Evangeliums entlastet die Praktische Theologie nicht von dem anstrengenden Unternehmen, immer wieder neu zeitgemäße Wege zu seiner Aneignung aufzuzeigen. So wird die »Kommunikation des Evangeliums« durchgängig als eine hermeneutische Aufgabe beschrieben und die Praktische Theologie insgesamt als eine hermeneutische Disziplin ausgewiesen. Die Hermeneutik der Gegenwart, der gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Situation, tritt gleichgewichtig neben die Hermeneutik der biblischen Botschaft. Denn es geht darum, dem Evangelium eine neue und zur Veränderung ermutigende Deutung der Situation abzugewinnen.
M. diskutiert im 1. Teil seiner Praktischen Theologie auch andere Ansätze im gegenwärtigen Selbstverständnis dieser Disziplin, etwa den bei der »gelebten Religion«. Er geht zudem auf verschiedene methodische Verfahren praktisch-theologischen Arbeitens ein. Behutsam wägt er die Stärken und Schwächen verschiedener Konzepte gegeneinander ab, um die eigene Entscheidung für den Leitbegriff der »Kommunikation des Evangeliums« wie dann auch für eine handlungstheoretische Methodologie zu begründen. Der entscheidende Vorzug des Leitbegriffs der »Kommunikation des Evangeliums« liegt für M. darin, dass er – anders als der Begriff der »gelebten Religion« – der Selbstvergewisserung christlichen Glaubens im Dschungel zeitgenössischer Stimmungslagen und Weltanschauungen dienlich sein kann. Er scheint ihm die Chancen dafür zu verbessern, dass das spezifisch Christliche im Umgang mit den die moderne Kultur durchprägenden, vieldeutigen Phänomenen des Religiösen hervortreten kann. Allerdings kann M. diese religionskritische Leistungsfähigkeit seinem praktisch-theologischen Leitbegriff auch wieder nur deshalb zumessen, weil er in seine Interpretation des Evangeliums, in kritischer Aufnahme anderer Ansätze, die religionshermeneutische Bemühung bereits integriert hat. Auch zu M.s Konzept Praktischer Theologie gehört es entscheidend, die religiösen Motive in Kultur und Gesellschaft behutsam wahrzunehmen, die Menschen in ihren religiösen Sinnbedürfnissen zu verstehen, um ihnen das Evangelium als eine Möglichkeit befreiender Sinndeutung zu vermitteln. Dem entspricht dann auch die Differenzierung in der handlungstheoretischen Anlage dieser Praktischen Theologie. M. expliziert sie mit dem Dreischritt von Sehen bzw. Wahrnehmen, Urteilen und Handeln. Es gilt, die Menschen in der Praxis ihres Lebens erstens wahrzunehmen, sodann sie in ihren (religiösen) Motiven zu verstehen, um schließlich im Lichte des Evangeliums zu einer kritischen Beurteilung ihrer Lebenspraxis zu kommen und Anleitung zu einer erneuerten und dem Evangelium gemäßen Lebensdeutung geben zu können.
Aufgabe der Praktischen Theologie ist es demnach nicht nur, bestehende Praxis in ihren historischen, soziologischen und theologischen Bedingungszusammenhängen besser zu verstehen, sondern sie immer auch, orientiert an der kritischen Norm des Evangeliums, zu verändern. Sie ist kritische Theorie kirchlicher Praxis in der Gesellschaft. Zur Operationalisierung der »Kommunikation des Evangeliums« zieht M. deshalb auch Habermas und sein Konzept eines freiheitsbewussten kommunikativen Handelns heran.
Im 2. Teil fragt M. nach dem konkreten Subjekt der Praxis der Kommunikation des Evangeliums. Dabei ist nun besonders interessant, dass M. auf die individuellen Subjekte, die zur christlichen Gemeinde gehören, rekurriert. Es wird nicht die Kirche als Handlungssubjekt behauptet, auch nicht vorschnell die Gemeinde zu einem solchen Subjekt aufgebaut. M. schließt sich vielmehr Henning Luthers Konzept einer am individuellen Subjekt orientierten Praktischen Theologie an. Hier wird deutlich, dass mit der »Kommunikation des Evangeliums« bei M. wirklich eine »dialogische Begegnung mit Menschen«, also die Kommunikation zwischen konkreten, leibhaften Individuen gemeint ist, ein echtes Begegnungsgeschehen, ohne hierarchisches Gefälle und ohne bloß einseitigen Wahrheitsbesitz. Von H. Luther übernimmt M. auch die an der Ermächtigung der Laien zum pastoralen Handeln orientierte Perspektive. Die wichtigen Grundfunktionen pastoraler Praxis – Ver­kündigung, Erziehung, Seelsorge, Kasualpraxis – werden durch­gängig in dieser Laienperspektive, d. h. als Dienst vorgestellt, den die Menschen in der christlichen Gemeinde sich gegenseitig erweisen. Was für alle Christen gilt, dass sie zur dialogischen Praxis des Evangeliums berufen sind, gilt dann, wie M. im letzten Ab­schnitt des 2. Teils (97–99) ausführt, auch für diejenigen, die die »Kommunikation des Evangeliums als Beruf« gewählt haben. Dazu zählt er die »ordinierten Amtsträger – und in der evangelischen Kirche auch Amtsträgerinnen –, die in der Pastoral tätigen Laien und Ordensschwestern, Frauen und Männer, die im kirchlichen Bildungsbereich, in der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit, sowie in der Caritas bzw. Diakonie tätig sind, und nicht zuletzt die Religionslehrerinnen und Religionslehrer sowie die in der wissenschaftlichen Theologie Lehrenden und Forschenden« (97 f.). Die Priester fehlen in der Aufzählung derer, die die »Kommunikation des Evangeliums« zum Beruf haben. Das ist angesichts des Buchtitels, der eine »Einführung in die katholische Praktische Theologie« verspricht, bemerkenswert. Auf das Weihepriestertum geht M. überhaupt nur an einer Stelle, und dann unter der Überschrift »Akute Be­drängnisse und Lösungsversuche – der Priestermangel und die Folgen«, ein (100–103).
Der »Ernst-Fall [der] sich ereignenden Kommunikation des Evangeliums«, von dem das 3. Kapitel des Buches handelt, ist denn auch nicht die sakramental verfasste und durch das Weihepriestertum konstituierte römisch-katholische Kirche, sondern die »christliche Gemeinde«. M. trägt hier ein geradezu emphatisches Plädoyer für eine von den sog. Laien getragene und durch das Engagement mündiger Christenmenschen beförderte »Gemeindekirche« vor. Es gewinnt eine vom ökumenischen Geist durchdrungene »katholische Praktische Theologie« Gestalt. Das Selbstverständnis der ka­tholischen Kirche, wie es in jüngsten Verlautbarungen Roms wieder verdeutlicht wurde, spielt bei M. keine Rolle. Im Gegenteil, M. ist nicht nur weit davon entfernt, der evangelischen Kirche abzusprechen, dass sie wahre Kirche Jesu Christi werden kann, er will auch die katholische Kirche auf einen Kirchenbegriff festlegen, der am Geschehen der Begegnung zwischen dem Evangelium und den ihm vertrauenden Menschen orientiert ist. Nicht die sakramentale Heilsanstalt ist die wahre Kirche Jesu Christi, sondern die lebendige Versammlung freier Christenmenschen, die in der Kommunikation des Evangeliums zugleich Orientierung für die Gestaltung von Kirche und Gesellschaft wie auch ihres persönlichen Lebens finden.
Dies führt dann insbesondere der 4. und letzte Teil dieser Praktischen Theologie aus, der der »Kommunikation des Evangeliums als ›Gottesdienst im Alltag der Welt‹« gewidmet ist. Auch dort geht es M. um ökumenische Reichweite, um den die ganze Christenheit in die Weltverantwortung stellenden »konziliaren Prozeß«. Es werden die Grenzen zur christlichen Sozialethik und christlichen Gesellschaftslehre überschritten. M. thematisiert die vielgestaltige Präsenz nicht eigentlich der Kirche, sondern des Christentums in der Gesellschaft. Einige der dabei heute besonders relevanten Bereiche hebt er besonders hervor: Diakonie, Bildungspolitik, Medien, Kunst, interreligiöser Dialog.
Man kann natürlich fragen, was eigentlich das Katholische an M.s »Einführung in die katholische Praktische Theologie« ist. Seine wichtigsten Gewährsleute sind, mit einer Ausnahme, evangelische Theologen: Ernst Lange, von dem er den Leitbegriff der »Kommunikation des Evangeliums« übernimmt; Henning Luther, dem er sich mit der Subjektorientierung der Praktischen Theologie an­schließt; Dietrich Bonhoeffer, dessen Vision einer Kirche für andere und einer die Weltverantwortung in ökumenischer Verbundenheit wahrnehmenden Christenheit er neu entfaltet. Der einzige maßgebliche katholische Theologe ist Karl Rahner. Dessen 1972 formulierte Vorschläge zur »Strukturreform« der katholischen Kirche nimmt M. im »Ausblick« (207 f.) seiner Praktischen Theologie er­neut auf, da ihre Einlösung nach wie vor nahezu komplett auf sich warten lasse. So endet dieses Buch mit einem geradezu verzweifelten Ruf danach, doch nicht immer noch weiter hinter Rahners Programm einer offenen, ökumenischen, demokratischen, von der Basis her sich aufbauenden, gesellschaftskritischen Kirche zurück­zufallen.
Die Signale, die zurzeit aus Rom kommen, deuten freilich im­mer noch oder gerade wieder in die genau entgegengesetzte Richtung. Der Aufbruch des 2. Vatikanischen Konzils (an das M. auch immer wieder erinnert) und die in der Folge von Theologen wie Karl Rahner angemahnte »Strukturreform« der katholischen Kirche sind – wie M. enttäuscht resümiert – auf der Strecke geblieben, auch wenn die Hoffnung auf deren Einlösung an der kirchlichen Basis nach wie vor lebendig ist. Dass die Stimme der Kirchenreform nicht verstummt, dazu leistet auch diese »Einführung in die katholische Praktische Theologie« einen wichtigen Beitrag. Und es ist zu begrüßen, dass sie mutig den Anspruch des Katholischen mit sich führt. M. tut gut daran, die Bestimmungsmacht über das Katholische nicht dem Papst zu überlassen.