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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

867–870

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Reiner, Sellmann, Matthias, u. Simone Bell-D’Avis

Titel/Untertitel:

Inmitten von Scham, Gewalt und Angst. Theologische Fundierungen der Suchtkrankenpastoral. M. e. theologischen Skizze zur Einführung v. G. Fuchs.

Verlag:

Würzburg: Echter 2006. 237 S. 8°. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-429-02776-6.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Das Phänomen »Sucht« wurde bislang fast ausschließlich als He-rausforderung zum kirchlich-diakonischen Handeln betrachtet, kaum jedoch als Gegenstand theologischen Nachdenkens. Gerade die konkrete Praxis dieses Handelns jedoch, so führen die Autoren und die Autorin dieses Bandes aus, ruft nach theologischen Deutungen des Phänomens Sucht, zumal die religiöse Thematik von den Klientinnen und Klienten und auch den Einrichtungen zunehmend an die Seelsorgerinnen und Seelsorger herangetragen wird und ihnen theologische Deutungskompetenz abverlangt. Der bisherige »blinde Fleck der praktischen Theologie« (9) schöpft die seelsorglichen Möglichkeiten nicht aus, überlässt die religiöse Thematik esoterischen Anbietern und lässt die Seelsorgerinnen und Seelsorger mit der Frage – sowohl als Fragende als auch als Gefragte (vgl. 32) – allein, ob und wie Gott aus der Sucht rettet. Umgekehrt vergibt sie die Chance für Kirche und Theologie, »die christliche Gottesrede von einem so ausgeprägten ›Zeichen der Zeit‹ wie dem Syndrom der Suchtkrankheit provozieren und korrigieren zu lassen« (9).
Diesem Unterfangen widmet sich nun dieser Band. Die beiden Autoren und die Autorin sind im Bereich der katholischen Suchthilfe in unterschiedlicher Weise tätig und entwickeln ihre theologischen Reflexionen aus ihrer praktischen Arbeit. Sie wählen je­weils unterschiedliche Leitbegriffe und Zugänge zum Phänomen Sucht, die das Buch – nach einer inhaltlichen Einführung von Gott-hard Fuchs zum Phänomen der Sucht vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Gegenwart – nebeneinanderstellt.
Simone Bell-D’Avis wählt als Schlüsselbegriff die »Kapitulation«. Dieser Begriff erhellt sowohl den Weg in die Sucht hinein als auch den Weg aus ihr hinaus: Einerseits zwingt das Suchtmittel zur Kapitulation in immer mehr Lebensbereichen, andererseits bildet das kapitulative Eingeständnis in die eigene Ohnmacht eine we­sentliche Voraussetzung des Aussteigens, wie der Ansatz der Ano­nymen Alkoholiker zeigt. Bell-D’Avis untersucht das Verhältnis von »Kapitulation« zum christlichen Begriff der »Umkehr« und fragt, was die Umkehr als solche qualifiziert – denn jede Umkehr ist eine Kapitulation, aber lange nicht jede Kapitulation eine Umkehr. Diese Untersuchung führt die Autorin am Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,11–32) durch, das sie nach einer differenzierten sprachlichen und semantischen Analyse mit dem Ansatz der Freiheitstheologie von Thomas Pröpper und der Fundamentaltheologie der Liebe Gottes von Peter Knauer beleuchtet. Aus den daraus resultierenden Erkenntnissen scheint mir das Gewahrwerden des Unbedingten durch die Kapitulation und umgekehrt das Gewahrwerden des Unbedingten als Ermöglichungsgrund für die Kapitulation (76), aber auch für die religiöse Umkehr besonders erhellend ebenso wie die differenzierte Sicht des Zusammenhangs zwischen Glaube und Heilung (84). Diese systematisch-theologische Reflexion beinhaltet wiederum Konsequenzen für die Praxis der Suchtkrankenarbeit, die Verf. in vier Schritten der Arbeit mit Suchtkranken ableitet: »aushalten/Machtlosigkeit eingestehen«, »annehmen«, »un­terscheiden« (zwischen Botschaft und Bote ebenso wie zwischen Heilung und Heil) und »befreien«.
Einen anderen Zugang wählt Reiner Fuchs, der das Gegensatzpaar »Macht und Ohnmacht« zum Leitmotiv seiner theologischen Fundierung macht. Das Suchtmittel wird einerseits als Erfahrung der Macht in der Ohnmacht erlebt und wird andererseits zur Er­fahrung von Ohnmacht in der Macht. Die Sucht erscheint in dieser Perspektive wie ein Opfer-Ritual, ihr wird etwas und letztlich ein Leben geopfert. Mit dieser Deutungsperspektive aber muss theologisch nach der Religionsförmigkeit der Sucht gefragt werden, denn das Gegensatzpaar Macht – Ohnmacht wird von neueren religionswissenschaftlichen Ansätzen als Schlüsselbegriff für genuin religiöse Erfahrungen mit dem »Heiligen« identifiziert. Von dort aus kommt Fuchs zu einem Verständnis von Suchterfahrung als religiösem Phänomen, und zwar als »Religion der Gewalt« (129) bzw. Religion zum Tode. Damit ist Religion nicht mehr »unschuldig«, ein ausschließlich gutes Gegenüber zur Sucht, sondern wird in ihrer Ambivalenz deutlich. Umso wesentlicher wird die Frage nach den Kriterien lebensfördernder und lebensvernichtender Religion. Diese findet Fuchs in der »Art des Opfers« (141). Die Gabe des Opfers zielt immer auf eine Gegengabe, die entweder ein Mehr an Leben bzw. an »gefüllter Lebenszeit« (142) bewirkt oder den Untergang des Lebens beschleunigt. Mit der Identifikation der Sucht als religiösem Phänomen ist umso deutlicher eine lebensfördernde und le­bensermächtigende religiöse Antwort vom Evangelium her gefordert. Diese sieht Fuchs »in der Erfahrung von Macht in Ohnmacht am Ort der Darstellung der eigenen Hilfsbedürftigkeit« (165): Wenn Menschen ihre Ohnmacht darstellen, eröffnet das die Möglichkeit, dass heilende Macht Gottes in der Ohnmacht wirken kann.
Leider sucht Fuchs, dies an einer Exegese der neutestamentlichen Erzählung von der Heilung der verdorrten Hand (Mk 3,1–6) zu belegen, die nicht anders als antijudaistisch bezeichnet werden kann. Fuchs behauptet, dass die Pharisäer den Menschen und die »Humanität aller Beteiligten« (156) sowie ihre Bedürftigkeit opfern würden, und parallelisiert ihr Handeln mit der Sucht. Auf dieser dunklen Folie kann dann vermeintlich das Handeln Jesu als Opferung des angeblichen Opfers der Pharisäer umso heller leuchten. Diese Form der Exegese opfert nicht nur die Solidarität mit dem Judentum und ignoriert die fatalen Folgen, die eine solche Deutung hatte und hat, sondern sie geht auch an der neueren neutestamentlichen Forschung vorbei, die die Debatte um das rechte Verständnis der Sabbatheiligung als innerjüdischen »Geschwis-terstreit« identifiziert. Dessen Linien verlaufen keineswegs nur zwischen Jesus und den Pharisäern, sondern auch zwischen anderen Gruppierungen sowie innerhalb der Pharisäer, vor allem aber sind sie von dem gemeinsamen Anliegen der Gottesverehrung und des Lebensgewinns durch die Heiligung des Sabbats getragen.
Mit dem Fokus der Scham wählt Matthias Sellmann einen dritten Zugang zum Phänomen der Sucht, denn »Suchtkrankenseelsorge ist fast immer eine Begegnung mit Beschämten« (174). Sellmann arbeitet die psychoanalytische Forschungslage zum Phänomen der Scham sowohl in ihrem Verständnis als auch in den therapeutischen Möglichkeiten gegenüber Menschen mit pathologisiertem Schamgefühl auf. Mit der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs kommt Sellmann zu der Deutung, dass der Mensch mit einem pathologisierten Schameffekt nicht mehr in der Lage ist, sich seines transzendenten »bergenden Grund[es]« (211) zu versichern, nicht mehr wagt, in die »Exzentrizität« einzusteigen, und damit vollkommen ich-zentralisiert leben muss. Sellmann identifiziert das Kreuzesgeschehen als extreme Beschämung in körperlicher, sozialer und religiöser Hinsicht. »Gott macht am Kreuz seine Scham öffentlich, die beschämende Macht wird angezeigt und angeklagt« (218). Gleichzeitig bewahrt Jesus in dieser Beschämung sowohl seine Eigenständigkeit als auch seine Hingabe an den Vater und kommt damit auch in seinem Tod nicht an sein Ende. Auch aus diesen theologischen Reflexionen ergeben sich konkrete Folgerungen für die seelsorgliche Praxis, die Sellmann in einem bestimmten Umgang mit Bildern und Symbolen, mit biblischen Texten und mit Ritualen konkretisiert.
Alle drei Ansätze sind theologisch und denkerisch durchaus anspruchsvoll. Sie fordern zum Mitdenken und Nach-Denken heraus, zumal sie tatsächlich theologisches Neuland betreten und gewohnte Denkfiguren verlassen. Gerade wegen ihrer Leistung, ein sonst psychologisch, soziologisch oder diakonisch bearbeitetes Phä­nomen der Gegenwart dezidiert theologisch zu reflektieren, lohnt sich die Lektüre jedoch durchaus.
Aber auch über die Suchtthematik hinaus ist der Band für das Verständnis der Praktischen Theologie als Wissenschaft von Interesse. Die Verengung sowohl auf eine Anwendungswissenschaft als auch auf eine Praxistheorie kirchlichen Handelns wird in dieser Perspektive vollends obsolet und ebenso wird deutlich, dass Praktische Theologie sich nicht in der Wahrnehmung religiöser Phänomene erschöpft, sondern theologische Reflexion und Deutung leistet, deren Notwendigkeit aus der Praxis herrührt und wieder zu ihr hinführt. Mit dem – leider gravierenden – Abstrich der antijudaistischen Passage sollte das Buch Pflichtlektüre für alle im Suchtbereich Tätigen – gleich welcher Profession und Konfession – sein und ist gewinnbringend für alle, die an einer theologischen Reflexion gegenwärtiger Kultur interessiert sind.