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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

858–862

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Herms, Eilert

Titel/Untertitel:

Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XXII, 532 S. gr.8°. Lw. EUR 89,00. ISBN 3-16-148654-4.

Rezensent:

Michael Roth

Mit der Aufsatzsammlung »Phänomene des Glaubens« legt H. nach »Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens« aus dem Jahre 1992 eine zweite Aufsatzsammlung vor, die Beiträge zur Fundamentaltheologie enthält. Die gemeinsame Intention aller Beiträge wird im Vorwort, das eher den Status einer Einleitung besitzt, pointiert herausgestellt: Gegen eine solche Außensicht des Glaubens, die die Möglichkeit wahrheitsfähiger Erkenntnis über den Bereich möglicher äußerer und innerer Sinnesreize bestreite – in letzter Konsequenz sogar die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit überhaupt in Zweifel ziehe und damit auch bestreite, dass es bei dem öffentlichen Diskurs um die Wohlordnung der Gemeinschaft und bei Fragen bezüglich ihrer Gestaltung überhaupt um Wahrheit gehe – ist nach H. in der Binnensicht des Glaubens dieser präsent als »Gewißheit vom Wahrsein des christlichen Wirklichkeitsverständnisses«. Gegründet ist diese Gewissheit nach H. nicht in dem blinden Gehorsam gegenüber einer Autorität beanspruchenden Überlieferung, sondern in dem »unabweisba-re[n] Evidentgewordensein der Wahrheit dieser überlieferten Lebensanschauung« (X). Gerade daher sei der Glaube auch als Befreiung von einer illusionären Sicht der Wirklichkeit zu verstehen.
So sehr H. Innen- und Außenperspektive des Glaubens unterschieden wissen will, besteht doch sein Anliegen darin, beide Perspektiven aufeinander zu beziehen. Die Innensicht des Glaubens sei auf die Außensicht vor allem deshalb zu beziehen, weil die Wirklichkeitssicht des Glaubens nicht als Sicht einer anderen Wirklichkeit, sondern als Sicht derselben Wirklichkeit präsent sei, auf die sich auch die Außenperspektive des Glaubens richte. Daher präsentiere sich die Innensicht des Glaubens als das »Aufmerksamgemachtwordensein auf Aspekte des Daseins, das er mit allen Menschen­ teilt« (XI). Diese »reichere Sicht der gemeinsamen Lebensgegenwart« der Außensicht zu kommunizieren, ist der Glaube nach H. »befähigt und unabweisbar verpflichtet« (XIII). In welchem Modus aber verläuft diese Kommunikation? H. fragt: »[I]st Streit angezeigt, um Weggefährten auf von ihnen noch nicht entdeckte Eigenarten der gemeinsam durchwanderten Landschaft aufmerksam zu machen?« Streit vermindere die Chancen im Gespräch um die Wahrnehmung von Phänomenen. Die nötige Offenheit und Gelassenheit zu erreichen, verlange »Geduld und das Ausharren bei der Beschreibung der an sich sichtbaren Phänomene«. Angemessen sei daher der »Gestus des Bezeugens, des Hinweisens und Zeigens« (XIV).
Diesem Anliegen weiß sich H. in den einzelnen Studien der Aufsatzsammlung verpflichtet: »Sie beziehen sich auf den Glauben und auf das, was ihn begründet und trägt, als auf Phänomene der gemeinsamen Lebensgegenwart, in der nicht nur die Binnensicht des Glaubens steht, sondern die alle Menschen teilen, auch die, die den Glauben von außen sehen« (XIX).
Die Aufsatzsammlung enthält folgende – teils bisher unveröffentlichte (Nr. 5, 6, 16, 17, 19) – Arbeiten: 1. Äußere und innere Klarheit des Wortes Gottes bei Paulus, Luther und Schleiermacher (1–55); 2. Gewissheit in Luthers »De servo arbitrio« (56–80); 3. Das fundamentum fidei. Luthers Sicht (81–95); 4. Wahr­heit– Offenbarung – Vernunft (96–115); 5. Der Ort der Aesthetik in der Theologie (116–135); 6. Maria. Eine evangelische Besinnung (136–148); 7. Wahrheit und Freiheit. Samt einer Bemerkung über die Bedeutung dieses Verhältnisses für die Einheit der Christen (149–170); 8. Ganzheit als Geschick. Dogmatik als Begriff menschlicher Ganzheitserfahrung und Anleitung zu ihrer Wahrnehmung (171–204); 9. »Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens«. Über Sinn und Tragweite dieses Verständnisses von Theologie (205–237); 10. »Meine Zeit in Gottes Händen« (238–262); 11. Prozeß und Zeit. Überlegungen eines Theologen zu Friedrich Cramers Essay »Der Zeitbaum« (262–285); 12. Das Diktat der Zeit (286–298); 13. Das Wirklichwerden des Guten: Das Kommen des Reiches Gottes. Dogmatik als Güterlehre und ontologisches Fundament der Ethik (299–320), 14. Leben. Wahrnehmen, Verstehen, Erkennen, Gestalten (320–346); 15. Das Böse. Systematische Überlegungen im Horizont des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (347–367); 16. Gesetz und Evangelium in reformatorischer Sicht (368–389); 17. Die Schrift als Kanon (390–407); 18. Theologische Geschichtsschreibung (408–432); 19. Theologie als Kulturwissenschaft (432–454); 20. Theologie als Religionswissenschaft (455–475); 21. Evangelisch aus gutem Grund (476–497). Abgeschlossen wird die Aufsatzsammlung mit einem hervorragenden Sach- und Personenregister (501–532).
Die Fülle der Beiträge und der Reichtum der hier entfalteten Einsichten machen eine Konzentration erforderlich. Um mit H. in ein Gespräch zu treten, seien im Folgenden diejenigen Beiträge in den Blickpunkt gerückt, in denen er die theologische Wissenschaft in ein Verhältnis zu anderen Wissenschaften (Geschichtsschreibung, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft) zu setzen sucht. Dies scheint gerade deshalb geboten, weil es H. ja nach eigener Auskunft darum geht, mit anderen Deutungen der Wirklichkeit und auch anderen Wissenschaften in einen Dialog über die gemeinsame Wirklichkeit zu treten (so programmatisch im Vorwort, XI ff., s. o.).
Allen Wissenschaften – so H. – muss die »Einsicht in den grundsätzlich hermeneutischen Charakter des gesamten wissenschaftlichen Verfahrens, die Einsicht in die ursprüngliche und unüberholbare Abhängigkeit dieses Verfahrens von je einem kategorialen Vorverständnis der Wirklichkeit, das nicht selbst aus der erfahrungswissenschaftlichen Arbeit stammt, sich in ihr allenfalls be­währen kann, aber auch dadurch nicht seine Bedeutung als vorgängige Bedingung wissenschaftlicher Erkenntnis verliert« (455 f.), zugemutet werden. Diese Einsicht bringt H. sowohl im Gespräch mit der Religionswissenschaft und der Geschichtswissenschaft als auch in seiner Erörterung der Frage, inwiefern die Theologie als Kulturwissenschaft begriffen werden könne, beharrlich zur Geltung. In Bezug auf die letztgenannte Frage betont H.: »Die Theologie – und zwar die Theologie, wie sie existiert und betrieben wird – ist eine Kulturwissenschaft … und nichts sonst« (440). Dabei plädiert H. für ein weites Verständnis von Kultur: Kultur meine nicht nur einen Ausschnitt aus der Gesamtordnung des menschlichen Zusammenlebens, sondern »den Gesamtzusammenhang ›der Da­seinsbewältigung und des Daseinsverständnisses des Menschen‹ und alle dafür wesentlichen Lebensbereiche und Interaktionsformen« (433 f.). Ferner macht H. darauf aufmerksam, dass dem Begriff Kulturwissenschaft kein einheitliches Konzept zu Grunde liegt, sondern sich eine Vielzahl von ganz unabhängig entstandenen und sich entwickelnden Disziplinen unter diesem Be­griff vereinigen. Entscheidend sei daher, ob der der jeweiligen Betrachtung zu Grunde liegende Begriff des Menschseins Personalität und personale Verantwortlichkeit festhalte. Diese Frage könne­ aber nicht mit den Mitteln der jeweiligen Wissenschaft entschieden werden, sondern sei ihnen – als Perspektive ihrer Wahrnehmung – vorgeordnet. Die Theologie sei daher als eine spe­zi­fische Form der Kulturwissenschaft zu begreifen, weil sie – in Konkurrenz auch zu anderen Formen – vom christlichen Wirklichkeitsverständnis geleitet sei, aus dem heraus sie ihr Verständnis für Kultur entfalte (vgl. 445). Die Einsicht in das die Wissenschaften leitende Vorverständnis und seine maßgebliche Bedeutung für die jeweilige (einzelwissenschaftliche) Reflexion macht nach H. auch verständlich, inwiefern sich Theologie als Religionswissenschaft gestalten kann: Sie unterscheide sich von solchen Spielarten von Religionswissenschaft, die »Religion für ein akzidentielles, partikulares, individuelles und jedenfalls privates, keinesfalls ipso facto kulturkonstitutives Phänomen begreifen« (450). Gerade auf Grund dieser Differenz im Vorverständnis ist daher nach H. auch kein »einfache[r] Transfer von Ergebnissen und Urteilen dieser außertheologischen Religionswissenschaft« möglich. »Nur eine sich im Licht der theologischen Vo-raussetzungen vollziehende kritische Aneignung ist möglich« (451). Schließlich bestimmt die Einsicht in das »kategoriale Vorverständnis der Wirklichkeit« (s. o.) auch H.s Auseinandersetzung mit der Geschichtswissenschaft. So betont er, dass gegen den »Stolz auf quellengestütztes Faktenwissen, den der positivistische Zeitgeist unwiderstehlich in den Vordergrund des Selbstbewusstseins der Historiker drängt« die »kategorialen Voraussetzungen … jeder möglichen Geschichtsschreibung zu thematisieren und zu klären« (409) sind. Im Anschluss an Reinhart Koselleck weist H. auf eine »Theorie der Geschichte« hin, die nicht aus empirischer Forschung erwächst, »auch wenn sie um dieser willen entwickelt wird und sich an ihr zu bewähren hat« (410). Insofern jede Form der Geschichtsschreibung auch von ihren kategorialen Voraussetzungen lebt, lassen sich nach H. auch Eigentümlichkeiten der theologischen Geschichtsschreibung benennen. So verweist er auf das »Verständnis und die Einschätzung der Partizipation Einzelner am geschichtlichen Leben« (420, in der Quelle hervorgehoben) oder »das Verständnis und die Einschätzung der Entwicklung von Teilbereichen der geschichtlichen Ordnung oder dieser im ganzen« (421, in der Quelle hervorgehoben).
H.s Konzeption wirft eine Reihe von Fragen auf, die im Folgenden zumindest angedeutet seien. Erstens: Entscheidend ist für H., dass auch die empirischen Wissenschaften von einem kategorialen Vorverständnis der Wirklichkeit geleitet sind, das nicht selbst aus der erfahrungswissenschaftlichen Arbeit stammt. Es ist aber zu fragen, ob es nicht einen erheblichen Unterschied macht, ob eine Wissenschaft methodisch aus ihrer jeweiligen Weltanschauung bzw. ihrem kategorialen Vorverständnis der Wirklichkeit heraus Einzelsachverhalte der Erfahrungswelt deduziert oder ob sich eine Wissenschaft darum bemüht, eine Beschreibung der Einzelsachverhalte der Wirklichkeit zu gewinnen, indem sie methodisch die weltanschaulichen Anteile minimiert – so sehr natürlich der einzelne Forscher von weltanschaulichen Voraussetzungen nicht frei ist.
In diese Richtung scheint mir jedenfalls das Selbstverständnis der Religionswissenschaft (so etwa Chr. Bochinger, A. Grünschloß, K. Hock, G. Löhr) zu gehen: Im Wissen darum, dass ihn bei seiner Arbeit ein Vorverständnis immer schon unbewusst leitet, begibt sich der Religionswissenschaftler auf die Suche danach, versucht, es aufzudecken, seine untergründige Wirkung auf den Forschungsprozess zu beobachten und nach Möglichkeit auszuschalten. Pointiert formuliert: Eine wesentliche Methodik der Religionswissenschaft ist die methodische Etablierung einer Außenperspektive, keineswegs die möglichst exakte Deduktion aus einem kategorialen Vorverständnis der Wirklichkeit. Es sei daher angefragt, ob es für das Gespräch mit dem Religionswissenschaftler sinnvoll ist, diesen spekulativ zu vereinnahmen und sein Selbstverständnis, seine Methode und Interpretationsperspektive zu unterlaufen. Die Gefahr droht, dass damit ein Gesprächsabbruch provoziert wird.
Zweitens: Es lässt sich aber noch prinzipieller fragen, ob es nicht einen erheblichen Unterschied macht, ob man davon ausgeht, dass jedes menschliche Erkennen und Verstehen von Einzelsachverhalten der Erfahrungswirklichkeit perspektivisch ist, oder ob man behauptet, dass jeweils aus einer bestimmten Perspektive gedeutet und gefolgert wird, wie die Einzelsachverhalte der Erfahrungswelt zu verstehen sind. Letzteres droht den Sachverhalt außer Acht zu lassen, dass wir uns in ganz unterschiedlichen Verstehens- und Kommunikationszusammenhängen befinden, die zwar durchaus vernetzt und kombiniert werden, die sich aber nicht in einer in sich stimmigen und widerspruchsfreien Totaldeutung der Wirklichkeit einigen.
Es ist daher keineswegs so, dass ich Welt verstehe, indem ich frage, wie ich die einzelnen in meinen Blick kommenden Dinge von meiner weltanschaulichen Voraussetzung her verstehen müsste, und so zu einem in sich stimmigen widerspruchsfreien Systems komme (dies ist m. E. kennzeichnend für den Ideologen), sondern ich verstehe Welt auf Grund bereits vorhandener Verstehenszusammenhänge und unterschiedlicher Kommunikationsforen, die ich unterschiedlich verknüpfe und kombiniere, die aber durchaus in Spannung zueinander stehen. Wenn wir uns aber nicht in einem einzigen, sondern in pluriformen, nicht vorschnell reduzierbaren Referenzrahmen bewegen, ist zu fragen, ob das Vorgehen angemessen ist, ein Verständnis der Wirklichkeit transzendental kategorial zu entfalten und die unterschiedenen Phänomene der Lebenswirklichkeit hier einzuordnen. Führt dies wirklich zu einem Verstehen im hermeneutischen Sinne oder nur zu einer Deutung, die deshalb nicht zu einem wirklichen Verstehen führen kann, weil es von einem (nicht gegebenen) einheitlichen Referenzrahmen ausgeht und unsere unterschiedlichen Verstehenszusammenhänge und ihre Bedeutung für das Gegebensein der Phänomene verdrängt?
Drittens: Schließlich ist zu fragen, inwiefern eine Explikation der im Glauben erschlossenen Sicht der Wirklichkeit als Ganze die Angefochtenheit des Glaubens ernst nehmen muss. Der Glaubende ist Glaubender und Nicht-Glaubender zugleich (simul iustus et peccator).
Wir leben nicht im lumen gloriae, wo uns die Wirklichkeit im Glauben er­schlossen ist. Und es ist m. E. ernsthaft zu fragen, ob die theologische Reflexion es nicht besser prinzipiell vermeiden sollte, so zu tun, als würden wir hier leben und als wären wir vom Glauben allein bestimmt. H. will die Innenperspektive und die Außenperspektive des Glaubens aus dem Grunde aufeinander beziehen, weil sie Perspektiven auf dieselbe Wirklichkeit sind (s. o.). Müsste man nicht – wenn man die Angefochtenheit des Glaubens ernst nimmt – davon ausgehen, dass sowohl die Innen- als auch die Außen­perspektive Perspektiven desselben Glaubenden sind? Ansonsten ist doch zu fragen, ob die Deutung der Wirklichkeit aus der Perspektive des unangefochtenen Glaubens dem angefochtenen Glaubenden nicht völlig äußerlich bleibt. Von hier aus wären auch die von H. so selbstverständlich vorgetragenen Wendungen von der »Gewißheit vom Wahrsein des christlichen Wirklichkeitsverständnisses« und dem »unabweisbare[n] Evidentgewordensein der Wahrheit dieser überlieferten Lebensanschauung« (s. o.) kritisch zu diskutieren.