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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

852–854

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Stievermann, Jan

Titel/Untertitel:

Der Sündenfall der Nachahmung. Zum Problem der Mittelbarkeit im Werk Ralph Waldo Emersons.

Verlag:

Paderborn: Schöningh 2007. 953 S. gr.8° = Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, 24. Kart. EUR 118,00. ISBN 978-3-506-75618-3.

Rezensent:

Alf Christophersen

Voller Bewunderung notierte sich Friedrich Nietzsche 1881 mit Blick auf Ralph Waldo Emerson: »Der gedankenreichste Autor dieses Jahrhunderts ist bisher ein Amerikaner gewesen (leider durch deutsche Philosophie verdunkelt – Milchglas)«. Nietzsche unternahm den Versuch, Emerson als Ikone postmetaphysischer Philosophie zu stilisieren. Dass dieses Unterfangen in die Irre führt, ist die Überzeugung Jan Stievermanns, der in seiner umfänglichen neuphilologischen Tübinger Dissertation nicht weniger als das gesamte Prosawerk des großen amerikanischen Schriftsteller-Theo-logen durchforstet und behauptet: Emerson war zeitlebens ein fundamental religiös geprägter und motivierter Autor, der zunehmend einen philosophischen Glauben vertrat, in dem die Möglichkeit letztgültiger Gewissheit radikal in Frage gestellt wurde. In diesem Wandlungsprozess eines spätberufenen Skeptikers könnten durchaus Anschlusspunkte für gegenwärtige religionstheologische Debatten gefunden werden. Mit Emerson lässt St. eine zentrale und in vieler Hinsicht dominante Figur des 19. Jh.s präsent werden, die von Harvard und Boston aus zu immer neuen Geistes­exkursionen durch die ideenreich blühenden deutschen Landschaften von Theologie und Philosophie aufbrach, deren gedankenschwere Schätze er als kongenialer Interpret in der Neuen Welt dann nicht nur in vielerlei Textspeichern barg, sondern auch ganz unverwechselbar transformierte. Ob Herder, Schleiermacher oder Hegel, ob Schelling, Novalis, F. Schlegel und dann auch D. F. Strauß – sie alle bevölkern und beleben die in ihrer Fülle und Vielgestaltigkeit kaum zu überblickenden Schriften des neuenglischen Transzen-dentalisten.
Als Leitmotiv, als Wegmarkierung gleichsam in den Textmassiven Emersons dient St. der romantische Gedanke der Unmittelbarkeit, dem durch die Entwicklungsphasen von Person und Werk hindurch eine strukturprägende Funktion zukomme. Können Erkenntnis und Erfahrung, zumal die religiöse, als unmittelbar gedacht, zumindest projektiert werden? Ist es möglich, derartig direkte Einsichten und unverfälschte Erfahrungen, Empfindungen im eigenen Lebens- und Frömmigkeitskosmos zu provozieren, in individuelle Handlungen und autonome Glaubensreiche zu überführen? Und sollte dies der Fall sein, wie lassen sie sich dann literarisch kommunizieren? Oder gilt das Gegenteil, ist die Un­mittelbarkeit immer schon durch Konvention der Sprache und kulturelle Tradition gebrochen, ja kann sie lediglich noch als Abweichung von vorgegebenen historischen Standardabläufen gelten?
Drei Hauptphasen sind, so St., zu unterscheiden, um Emersons Werk, sein immer neu sich wandelndes Verständnis von Glaube, Philosophie, Ethik und Bildung zu entfalten, nicht zuletzt mit Blick auf seine fast schon obsessiven Versuche, den zeitgemäßen Status des Dichters, der Dichtung zu bestimmen: Von ca. 1826 bis 1836 erstreckt sich eine prätranszendentalistische Phase (105–278), es schließt sich bis 1841 eine transzendentalistische an (279–537), die dann durch eine bis 1875 dauernde posttranszendentalistische oder auch postromantische abgelöst wird (539–921). Vor dem Hin­tergrund dieser groben chronologischen Einteilung kombiniert St. die Mittelbarkeitsproblematik in all ihren Facetten mit dem für Emerson ebenfalls maßgeblichen Nachahmungsprinzip, das seinerseits im Wechselspiel mit den zeitgenössischen Diskurswelten einem konsequenten Wandel, kritisch-produktiver Um­deutung unterliegt. Zu prüfen ist, wie das Verständnis von »Nachahmung als kulturelles Grundprinzip der Bezugnahme auf mus­terhafte Vorbilder be- bzw. verhandelt wird«. In den Fokus geraten so »Leitfiguren der Lebensführung«, vor allem das exemplum Christi, und »literarische Modellbildungen«, aber schließlich auch Emersons philosophisch-theologische Interpretation des Nachahmungsprinzips, »über das ja in der platonisch-christlichen Tradition das ontologische Abkömmigkeits- sowie das existentielle Bezugsverhältnis zwischen dem Göttlichen und dem Menschen definiert« (15 f.) worden seien. Die Mittelbarkeit tritt dabei in doppelter Weise in Erscheinung: als kulturelle Vermitteltheit des Seins – als existentiell-emotionale sowie erkenntnistheoretische Mittelbarkeit des Einzelnen zum Göttlichen – und in Form der »Traditionsvermitteltheit des Schreibens« (16).
In seiner sprachlich extrem verdichteten, hochreflektierten und eindrücklichen Studie entwirft St. ein komplexes Emerson-Bild, das im Verlauf des Lektüreflusses dem Leser eine ganz eigene Un­mittelbarkeitserfahrung verschafft. Der amerikanische Religionsintellektuelle wird nachgerade repristiniert. Er betritt als junger unitarischer Geistlicher die Bühne, der um die Präsenz einer Theologie kämpft, deren Qualität er nicht in institutioneller Verfasstheit, sondern allein in radikaler Individualisierung zu finden vermag. Der Mensch habe sich von seiner immer wieder von ihm selbst aktualisierten Sündhaftigkeit dadurch zu lösen, dass er der un­reflektierten Nachahmung überkommener Denk- und Hand­lungs­muster entsagt. Emphatisch dem Gestaltungswillen ro­man­tischer Kunstreligion verpflichtet, identifiziert Emerson zu-nehmend die Dichtung als soteriologisch qualifizierten Ort schöpfe­ri­scher­, eigener Gottebenbildlichkeit gerecht werdender In­di­vidualität, und auch exemplarische Biographien – etwa Martin Luthers oder John Miltons – werden im Duktus einer »organizistisch-expressiven Ästhetik« (175) zum Lebenskunstwerk.
In Opposition zur Annahme, das spätere Werk Emersons ab Mit­te der 1840er Jahre lasse sich lediglich noch als »resignativer Nachklapp« (540) auffassen, in dem Unschärfe und Fatalismus an­gesichts harter Desillusionierungsprozesse dominierten, profiliert St. diese Werkphase nicht als mehr oder weniger konsequente Ausformung postmetaphysischen Denkens, sondern arbeitet die Konturen einer ausgeprägten nachidealistischen Religiosität heraus. Diese sei von dem Bewusstsein getragen, es gebe keinen emotionalen und intellektuellen Gewissheitsanspruch, und es komme darauf an, Rationalismus und romantischen Intuitionismus gleichermaßen zu überwinden. Emerson verabschiede sich von der Idee »einer Letztbegründung des Seins aus dem erkennenden oder anschauenden Subjekt«, zeige sich aber gleichwohl nicht dazu bereit, »seinen Glauben an die All-Einheit des Seins sowie eine moralische Gesamtordnung fallen zu lassen« (39). Das von St. entworfene Mittigkeitskonzept läuft auf den Gedanken einer »Balanced Soul« zu, die »als vollendeter Artist des Lebens« (901) beliebig zu changieren vermag: zwischen partikularisierender bzw. individualisierender Perspektive und einer Weltwahrnehmung, die zur Abstraktion von allen Individualinteressen fähig ist.
St.s differenzierungsstarke, in der Intensität ihrer Problemumkreisung zuweilen leicht hermetische Züge gewinnende Studie präsentiert mit literaturwissenschaftlich-amerikanistischem Schwer­punkt eine Geniegestalt des 19. Jh.s, die in ihrer vielfältigen Vernetztheit mit Theologie und Philosophie erst völlig unzureichend erfasst ist. Romantik und deutscher Idealismus, aber auch die an sie anschließenden kritischen Überbietungsversuche lassen sich aus dem horizonterweiternden Blickwinkel Emersons einer erfrischenden Neulektüre unterziehen. Die Arbeit hat dafür eine imposante, ebenso handwerklich solide wie intellektuell tiefgegründete Basis gelegt.