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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

848–850

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Käfer, Anne

Titel/Untertitel:

»Die wahre Ausübung der Kunst ist religiös«. Schleiermachers Ästhetik im Kontext der zeitgenössischen Entwürfe Kants, Schillers und Friedrich Schlegels.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XVI, 319 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 136. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-149037-8.

Rezensent:

Philipp David

Auf dem Boden der christlichen Kultur sind über Jahrhunderte beachtliche architektonische, musikalische, literarische und bildnerische Kunstwerke entstanden, aber die Theologie als Reflexion des umfassenden Glaubenslebens kennzeichnet ein gebrochenes Verhältnis zum Reich der schönen Künste und zur Wahrnehmung des Schönen in Kunst und Natur. Ästhetik wird bis in die neuere deutschsprachige evangelische systematische Theologie kaum behandelt, da sie sich ihres Ortes nicht sicher zu sein scheint, weil in der Neuzeit die Erfahrung des sinnlich Schönen aus dem Verbund mit dem Guten und Wahren herausgelöst worden ist und Ästhetik und Ethik autonom begründet werden. Insofern ist eine Rückbesinnung auf die ästhetischen Theorien seit Kants Kritik der Urteilskraft für eine ernst zu nehmende Wiederentdeckung der ästhetischen Erfahrung als ein gleichursprüngliches Moment von Erfahrung überhaupt sinnvoll und im Blick auf die gegenwärtigen Diskussionen aufzunehmen und weiterzuführen.
K. greift dieses Thema in ihrer historisch-systematisch angelegten Untersuchung über die ästhetische Theorie Schleiermachers im Kontext seiner Zeitgenossen Kant, Schiller und F. Schlegel auf. Nach K. heben diese vier das hervor, was der Begriff »Ästhetik« (aisthanomai, sentio) impliziert (1), nämlich Baumgarten, dem »Be­gründer« der Ästhetik, zufolge: »alle klaren Empfindungen« (1). Es geht K. entscheidend darum, die Differenzen im Weltverständnis und Gottesbild »und vor allem die anthropologischen Voraussetzungen der ... Autoren« (1.261) zu beleuchten. Denn »[g]erade ihre jeweiligen Ansichten über das Wesen des Menschen bedingen die jeweiligen Einsichten in die Beschaffenheit von Natur oder Schöpfung, die Beschreibung menschlicher und göttlicher Kunsttätigkeit sowie die Definition des Schönen, des Erhabenen und des Vollkommenen maßgeblich« (1). Der sich an die Darstellung der einzelnen Entwürfe anschließende Vergleich (261–288) »prüft auch deren phänomenologische Angemessenheit, deren Übereinstimmung mit menschlichem Erleben« (2).
In ihrer von E. Herms angeregten und von seiner Schleiermacher- (und Kant-)Interpretation durchgängig geleiteten Tübinger Dissertation geht es denn zunächst auch um die chronologische Darstellung der zwischen den Jahren 1793 und 1819 entstandenen variantenreichen Durchführungen ästhetischer Theorien, die sich alle auf Kants Kritik der Urteilskraft beziehen und sich von ihr abgrenzen (5–43). Ob allerdings der autonome Freiheitsgedanke Kants und die »ohnehin vorhandene ›Bodenlosigkeit‹ der praktischen Vernunft« (43, Anm. 149, Zitat Herms) tatsächlich so frei von christlich-religiösen Voraussetzungen sind, darf hier zumindest angefragt werden. Schillers ästhetische Schriften (45–116) aus den Jahren 1793–95 sind u. a. als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Kant zu lesen (46) und ebenfalls von einer Hochschätzung der menschlichen Freiheit durchdrungen (47). Auch er berücksichtigt nicht »den übersinnlichen Grund und Ursprung menschlichen Selbstbewußtseins und schließt überhaupt dauernde Bedingungen des Weltgeschehens sowie eine kontinuierliche Verbundenheit von Ge­schöpf und Schöpfer aus« (114). Der individuelle Künstler ist Schiller zufolge »Erlöser und ... Mittler zwischen Gott und Menschen, weil er die Inkarnation Gottes im Menschen verkörpert« (107), gottgleicher »Bringer der Wahrheit« (115) und Repräsentant der Gattung. Die in seinem Kunstwerk den Betrachtern aufscheinende Wahrheit und das Gute sind »Ergebnis absoluter Selbsttätigkeit« (115), das aber die Menschen zu einer harmonischen Gemeinschaft zusammenführt. An Schlegels untersuchten Ausführungen zur Ästhetik aus den Jahren zwischen 1794 und 1800/01 (117–178) gilt es nach K., »die Eigenart der Schleiermacherschen Ästhetik nuanciert herauszuheben« (117). Künstler (der Fähigkeit göttlichen Dichtens mächtig) ist Schlegel zufolge nur derjenige, dem eine ganz und gar weltimmanente zwischenmenschliche Liebesbeziehung gegeben ist. Insofern ist er ein erotischer Mittler, ein wahrer Sprecher Gottes, der sein ganzes Selbst preisgibt und somit auf das Unendliche, Göttliche weist (174), um seine Werke an das große Ganze der Universalpoesie anzuschließen, deren ewiges Ziel die Verschönerung von Gesellschaft und Welt ist (175), damit der » Einzelne seine sinnlich-geistige Ganzheit erlebt« (176).
Der Erschließung von Schleiermachers ästhetischer Theorie gilt der Abschluss der Untersuchung (179–259). Schleiermacher sah sich vor die Aufgabe gestellt, angesichts unterschiedlicher philosophischer Ästhetiken eine christliche Ästhetik zu begründen. Von An­fang an ist klar, dass Schleiermachers ästhetischer Theorie auf Grund »ihrer phänomenologischen Treue« (3) der Vorzug gegeben wird. Eng an Herms angelehnt entfaltet K. ihre These, dass Aisthesis als Geschehen, das unser Menschsein grundlegend und schlechterdings durchgehend und ohne jede Unterbrechung bestimmt, passionalen Charakter hat. »Aisthesis bezeichnet das Kontinuum unmittelbar gegebener ›Verstehenszumutungen‹ ...« (3.286). Insofern ist nicht nur das Verständnis des Wahren und Guten, sondern auch das des Schönen »stets schlechthin abhängig von denjenigen Überzeugungen, die dem Menschen auf Grund seines Erlebens gewiss geworden sind« (3). Besonders in Schleiermachers Ästhetik kommt diese Bedeutung der schlechthinnigen Bedingtheit und Bestimmtheit allen Lebens zum Ausdruck, »weil sie ›den Schein des autonomen Subjekts durchbricht und die irreduzible Rezeptivität des Lebens zur Erfahrung bringt.‹« (4) Schleiermacher allein vermag im Vergleich mit diesen Autoren den ganzen Menschen als sich selbst bewusstes sinnliches und vernünftiges Wesen wahrzunehmen (263), das Gefühl als anthropologisch relevante Größe ernst zu nehmen (277), das sich nicht der totalen Vernunftherrschaft kantischer Prägung unterwirft (278), sich seines transzendenten Grundes als Wurzel seines Seins gewiss ist (285) und sich von ihm radikal (287) und total (288) bestimmt weiß (286). Nach Schleiermacher bringt der Künstler Gottes überreiche und heilende Zuneigung zum Vorschein, weil er sie selbst erlebt, denn seine Kunst beruht auf seinem eigenen religiösen bzw. ganzheitlichen Erleben, auf seiner Aisthesis, und diese lässt ihn in Analogie zum göttlichen Künstler zu dessen gottähnlichem Mittler werden (258 f.). Der Künstler ahmt Gottes Kunsttätigkeit nach und stärkt so das Gottesbewusstsein der Rezipienten und befördert das Werden des Reiches Gottes (269). Der Künstler manifestiert sich selbst als Gottes geliebtes Geschöpf und drückt so statt der den anderen Ästhetikern anhaftenden ewig unerfüllten Sehnsucht nach dem Unendlichen die Gewissheit der stets gegenwärtigen universalen und ewigen Liebe und Güte Gottes aus (273). K. kommt, wie bereits im Titel angezeigt, zu dem Schluss, dass nach Schleiermacher die wahre Ausübung der Kunst religiös sei (212). Inwiefern das stark vom individuellen Künstler her interpretierte Kunstwerk und Schleiermachers weiter Kunstbegriff von der Welt als Kunstwerk Gottes sowie die enge Verbindung von Kunst und Religion zu­künftig wahrgenommen werden, bleibt abzuwarten.
Im anschließenden Vergleich der Ergebnisse der Analyse (»Radikale Totalästhetik. Vergleichende Wurzelscheidung«, 261–288) werden anhand von 14 Punkten systematisch die herausgearbeiteten Unterschiede zwischen den ästhetischen Theorien aufgezeigt so­wie die Vorzugswürdigkeit der Theorie Schleiermachers auf Grund ihrer Übereinstimmung mit dem menschlichen Erleben herausgestellt. Ob allerdings Kunst tatsächlich einzig durch den Bezug auf Gott bestimmt ist und insofern Zwecklosigkeit und wahre Freiheit zum Ausdruck bringt (287), vermag nur im Glauben gelten. Abschließend formuliert K. drei kurze »Ästhetisch-theologische An­knüpfungen an Schleiermachers Ästhetik« (289–295), die abermals die im vorangehenden Vergleich betonte Vorzugswürdigkeit herausstellen.
Die kenntnisreiche und präzise Aufarbeitung der Quellen der vier Autoren sowie die Stringenz bei der Durchführung ihrer klaren These sind die Stärken der Untersuchung. Zu kurz kommt allerdings die intensive Auseinandersetzung mit anderen Zugängen der Forschung zu Schleiermachers Ästhetik z. B. von T. Lehnerer oder G. Scholtz und R. Schmücker, die gar nicht erwähnt werden. Das Projekt einer theologischen Ästhetik in evangelischer Perspek­tive bleibt aufgegeben. Ob Schleiermachers ästhetische Theo­rie in der hier vorgeschlagenen Interpretation sich als vorzugswürdig herausstellen wird, bleibt abzuwarten, denn nicht nur die Kunst an sich ist unerschöpflich (211, Anm. 161), sondern auch ihre Auslegung.