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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

276–278

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Frank, Semen L.

Titel/Untertitel:

Das Unergründliche. Ontologische Einführung in die Philosophie der Religion. Hrsg. u. eingel. von A. Haardt. Aus dem Russ. übers. von A. Haardt.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 1995. 484 S. gr.8° = Orbis Phaenomenologicus, Abt. V, Bd. 2. geb. DM 118,­. ISBN 3-495-47795-0.

Rezensent:

Klaus Kienzler

In der neugegründeten Reihe "Orbis Phaenomenologicus" des Karl Alber Verlages in Freiburg i. Br. ist in der Abteilung V ("Primärtexte und Übersetzungen") als 2. Band das Hauptwerk wiederum eines russischen Phänomenologen erschienen, das von Semen L. Frank. Nach dem Klappentext des Verlages ist Semen Ljudvigovic Frank (1877-1950) als der bedeutendste russische Philosoph dieses Jh.s anzusehen. Nach seiner Inhaftierung in Rußland aufgrund einer Beteiligung bei der Studentenrevolution in Moskau im Jahr 1899 studierte er in Berlin politische Ökonomie und Philosophie. Dort hörte er Georg Simmel und las die Schriften der Neukantianer Windelband und Riehl. In diese Zeit fällt seine Bekanntschaft mit den Schriften Friedrich Nietzsches und seine ersten Begegnungen mit der neuen philosophischen Bewegung der Phänomenologie in Deutschland. Seine Übersetzung des I. Buches der "Logischen Untersuchungen" von Husserl von 1909 war maßgeblich für den Einzug der Phänomenologie in Rußland; S. L. Frank selbst zählt zu den Hauptvertretern der frühen russischen Phänomenologie.

Nach seiner Rückkehr nach Rußland wurde F. endgültig aus seiner Heimat ausgewiesen. Seit 1922 war er in Berlin tätig. Sein Hauptwerk "Das Unergründliche" war ursprünglich in Deutsch abgefaßt. Doch, nachdem er 1938 aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach Südfrankreich emigrieren mußte, schrieb er das Werk teils neu, teils übertrug er es ins Russische. Es entstand ein neuer und umfangreicherer Text, der auf die politischen Restriktionen, die er in Deutschland erfahren hatte, keine Rücksicht mehr nehmen mußte. Die hier vorgelegte Edition ist eine Übertragung der ursprünglichen russischen Fassung, die im Zuge der jüngsten Renaissance von Franks Philosophie in Rußland und im Zuge der Herausgabe einer Sammlung seiner Manuskripte dem Übersetzer von der Familie zur Verfügung gestellt wurde. Damit liegt nach vielen Umwegen mit dieser Ausgabe ein philosophisch und philologisch zuverlässiger Text des Hauptwerkes von Semen Frank vor.

F. hat den Haupttitel der Schrift "Nepostizivmoe" (russ.) im Deutschen selbst mit "Das Unergründliche" wiedergegeben. Die Untertitel dagegen variieren je nach Fassung. Die ursprünglich deutsche Fassung trug den Untertitel "Ontologische Prolegomena zu einer mystischen Theologie" und deutet auf Franks größere Nähe zur Theologie in dieser Zeit hin. Der russische Untertitel dagegen lautet: "Ontologische Einführung in eine Philosophie der Religion" und verweist auf die größer gewordene philosophische Freiheit im Denken F.s nach seiner Emigration. Insgesamt ist die Schrift ein interessantes Dokument der Rezeption verschiedenster philosophischer und theologischer Motive in dieser Phase russischer Phänomenologie. F. verweist in seinem französischen Vorwort selbst ausdrücklich auf seine wichtigsten Hauptmotive der platonischen Philosophie, auf "Plotin, Pseudo-Dionysios Areopagita und Augustinus bis Baader und Vladimir Solov’ev", insbesondere aber auf Nikolaus von Kues, in dessen Schriften er eine Synthese des antiken und neuen europäischen Geistes erkennt (24).

F. beabsichtigt in seinem Hauptwerk, das All-Einheits-Denken der docta ignorantia des Cusaners für die Philosophie und moderne Lebenswelt des 20. Jh.s fruchtbar zu machen. Deshalb sind für diese Aktualisierung jene Anstöße ebenso zu nennen, die er in der Begegnung mit der jungen phänomenologischen Bewegung in Deutschland erfuhr und die er in Deutschland nicht nennen durfte: Es sind die Phänomenologie Edmund Husserls und Max Schelers, auch die frühe Existenzanalyse Martin Heideggers anzuführen, aber ebenso die dialogischen Motive der jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und Ferdinand Ebner, sodann die Lebensphilosophie Henri Bergsons und die Sozialtheorie Georg Simmels.

Das "Unergründliche" steht bei F. für jene ursprüngliche Einheit von Denken und Sein, die sich nur so denken läßt, daß dabei ihre ebenso ursprüngliche Unbegreifbarkeit mitgedacht wird. Methodisch heißt das für ihn, mit der Vernunft an die Grenzen der Vernunft zu gelangen und auf rationale Weise die Beschränkungen rationaler Erkenntnis zu erweisen. Im vorliegenden Hauptwerk versucht Frank, diese Grundeinsicht für die drei wesentlichen Bereiche des Welt- und Menschseins aufzuzeigen: Im I. Teil: "Das Unergründliche in der Sphäre des gegenständlichen Wissens" (43-184), also im Bereich unserer Welt- und Gegenstandserkenntnis; im II. Teil: "Das Unergründliche als sich gegenüber sich selbst offenbarende Realität" (185-300), also in der Sphäre des Gegenüber von Selbst und Anderem; im III. Teil: "Das schlechthin Unergründliche: ’Das Heilige’ oder ’die Gottheit’" (301-470), also in unserem Bezug zur Transzendenz schlechthin.

Das "Unergründliche" zeigt sich in den jeweiligen Sphären auf unterschiedliche Weise. Interessant ist, daß sich diese Varianz auch in den jeweiligen Bezugspersonen, auf die sich F. in den jeweiligen Teilen als Gewährsleute stützt, widerspiegelt: Im I. Teil der Gegenstands- und Welterkenntnis ist ganz offensichtlich die docta ignorantia des Nikolaus von Kues führend; der II. Teil der menschlichen Welt wird mit einem Zitat von Augustinus eingeleitet, da sich dieser Teil der augustinischen Selbst-Erkenntnis durch Gottes- (und soziale) Erkenntnis zuwendet; im III. Teil schwankt die Bezeichnung zwischen dem eindeutig mit Rudolf Otto verbundenen Begriff des "Heiligen" und dem philosophisch neutraleren der "Gottheit"; hier haben sich die religionsphänomenologischen Forschungen der Zeit, wie sie F. kannte, niedergeschlagen.

Das Hauptwerk F.s ist eine beachtliche Diskussion der mit der Nennung der Teile weithin bekannten Thematiken. Wieweit diese Gedanken, die heute von weit her zu kommen scheinen und durch die besagte Renaissance der phänomenologischen Philosophie in Rußland den Westen wiederum erreichen, Einfluß nehmen können, ist schwer zu entscheiden. Man muß dabei nicht ganz so pessimistisch wie F. s persönlicher Freund Nikolaj Berdjajev sein, der meinte, die Franksche Philosophie reaktualisiere letztendlich nur Plato und werde der heutigen Zeit damit weniger gerecht (hier 20).