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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

837–839

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hermle, Siegfried, Lepp, Claudia, u. Harry Oelke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Um­brüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 408 S. gr.8° = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 47. Geb. EUR 68,90. ISBN 978-3-525-55748-8.

Rezensent:

Bernd Hey

Ein 50. Geburtstag ist eine gute Gelegenheit, zu »neuen Horizonten« (Oelke) aufzubrechen. Diese neuen Horizonte sind die 1960er und 1970er Jahre, die im Titel dieses Buchs angesprochen werden, und es geht dabei eigentlich um mehr als nur die »sozialen Bewegungen«, nämlich um das Verhältnis des deutschen Protestantismus, also nicht nur der evangelischen Kirche, zu dem umfassenden Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, der gemeinhin mit dem Stichwort »1968« bezeichnet wird. Ihren 50. Geburtstag feierte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, die 1955 als »Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der Nationalsozialistischen Zeit« gegründet worden war. Entsprechend lag der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit zunächst in der NS-Zeit, schon bald aber kamen – durch Kontinuitäten bedingt– die Weimarer Republik und die erste Nachkriegszeit mit ins Spiel, so dass 1971 die genannte Kommission zur Arbeitsgemeinschaft mit dem jetzigen Namen umbenannt wurde. Die 1940er und 1950er Jahre gerieten so ebenso wie die 1920er und 1930er Jahre in den Blickpunkt einer weiter ausgreifenden Forschung, und natürlich spielten dabei auch die »gleitende Sperrfrist« von 30 Jahren, mit der die Archive ihre Akten zur Verfügung stellten, und die Interessen einer nachwachsenden Forschergeneration eine Rolle. Und es zeigte sich auch, dass die Nachkriegsjahre, in denen die evangelische Kirche sich mit den Lebensfragen beider deutscher Nachfolgestaaten auseinandersetzen musste, es an Dramatik und Spannung durchaus mit der Kirchenkampfzeit aufnehmen konnten.
Es war daher eine gute Entscheidung der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, ihr Jubiläum mit einer neuen Forschungsinitiative zu verbinden, und sie tat es mit einer Tagung vom 24.–26. Oktober 2005 in der Evangelischen Akademie Tutzing; die Referate des vollgepackten Programms werden nun vom Führungsteam der Arbeitsgemeinschaft, vom Vorsitzenden (Oelke), seinem Stellvertreter (Hermle) und der Geschäftsführerin (Lepp) vorgelegt. Dabei steht der Eröffnungsvortrag des Ratsvorsitzenden der EKD Bischof Wolfgang Huber am Ende des Tagungsbands: Huber, der sich das Thema »Demokratie wagen. Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–1985« gestellt hatte, bezeichnet darin selbstbewusst die evangelische Kirche als »Herzschrittmacherin der modernen bundesrepublikanischen Demokratie« (397). Dass zur Bejahung der Demokratie die evangelische Kirche einen langen Lernprozess benötigte, auch wenn sie, etwa im presbyterial-synodalen Prinzip, Grundvoraussetzungen dafür mitbrachte, gesteht allerdings auch Huber ein.
Die Vielzahl der Beiträge (16 ohne die Einleitung von Oelke und den Festvortrag Hubers) belegt die intendierte Aspektvielfalt der Tagung, die »einen neuen Impuls in die einschlägige Forschungsdebatte« (Oelke) tragen sollte. Dass die Schlussdiskussion, von zwei Tagungsberichten eingeleitet, mit dokumentiert wurde, tut ein Übriges, Fragen, die sich als solche Forschungsimpulse erweisen könnten, in die wissenschaftliche Diskussion zu werfen.
»Man sieht viele Bäume, doch keinen Wald.« So beschrieb Wolf-Dieter Hauschild die gegenwärtige Forschungssituation in der Kirchlichen Zeitgeschichte nach 1955. Er selbst spannte den Bogen von 1961 (Mauerbau) bis 1979 (Nato-Doppelbeschluss) als wichtige Stationen mit Rückwirkung auf die evangelische Kirche. Und er nannte dann einzelne Phänomene dieser »Übergangsphase und Inkubationszeit«: die »besondere Gemeinschaft« der evangelischen Kirche in BRD und DDR, die Kirchentage, die Frage der Abendmahls- und Kirchengemeinschaft, die ökumenische Orientierung, Kontinuität und Wandel beim Führungspersonal, Volkskirche und politische Verantwortung, Politisierung von Theologiestudenten und Pfarrern: ein breites und anregendes Thementableau. Hauschild ging nicht nur auf theologische Fragen, sondern auch auf die ökonomische Basis ein: Als »dagobertinische Phase« (»Jetzt schwamm die evangelische Kirche im Geld wie nie zuvor ...«; 64) be­zeichnete er die Epoche ständig steigender Kirchensteuereinnahmen, und dieser Reichtum führte nicht nur zu reger Bautätigkeit, sondern auch zu einer enormen Stellenvermehrung im Pfarrdienst, in kirchlicher Verwaltung und Diakonie. Die »Lernfähigkeit«, die der evangelischen Kirche gegenüber der 68er Bewegung attestiert wurde, resultierte auch daraus, dass man für jedes Problem eine neue Pfarrstelle, einen Beauftragten, eine Dienststelle schaffen konnte: »Viele innovatorische Aktivitäten wurden deswegen provoziert und institutionalisiert, weil viel Geld vorhanden war, das irgendwie sinnvoll eingesetzt werden sollte.« (65) Das stellt sich heute bekanntlich als wichtiges finanzielles Strukturproblem der evangelischen Kirche dar, denn anders als der im Geld wühlende Dagobert Duck, der sich von keinem Kreuzer trennen wollte, gab die Kirche ihr Geld aus und verschwendete es zum Teil.
Hauschilds Vortrag bildete gleichsam eine Folie, vor deren Hintergrund nun die folgenden Referate einzelne Themen wieder aufnahmen und beleuchteten. Zuvor aber hatte Hugh McLeod in »European Religion in the 1960s« einleitend darauf hingewiesen, dass »the generation coming to maturity in the 1960s was the last in which the great majority had received a Christian upbringing« (35). Und er hielt den Niedergang der religiösen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen für die wichtigste Entwicklung der 1960er Jahre – zusammen mit dem Zuwachs des Islam in Europa. Auch andere Vorträge überraschten durch pointierte Zugänge und Thesen. Zwar war etwa die Affinität junger Theologen zur Studentenbewegung schon bekannt, wurde aber von Angela Hager noch einmal akzentuiert. Und war Helmut Gollwitzer ein »Dialogpartner der neuen Linken« (Claudia Lepp), so war Helmut Thielicke ihr »Antipode« (Norbert Friedrich). Die Wandlungen des Deutschen Evangelischen Kirchentags in den 1960er und 1970er Jahren (Harald Schroeter-Wittke) waren ebenso aufschlussreich wie die Strukturveränderungen in den deutschen evangelischen Landeskirchen (Jan Hermelink) und wie die »Evangelikalen als Gegenbewegung« (Siegfried Hermle) mit ihren unterschiedlichen Schwerpunkten in Westfalen und Württemberg, wohl nicht ohne Grund also in Regionen, die von Pietismus und Erweckungsbewegung besonders geprägt wurden. Dass die »neuen sozialen Bewegungen« (auch wenn man sie nicht gleich mit dem Kürzel NSB abstempeln sollte) erheblichen Einfluss auf das Verhältnis des Protestantismus zur Frauenbewegung (Helga Kuhlmann) und zur sexuellen Revolution (Simone Mantei) hatten, ist verständlich, aber Simone Mantei formulierte es drastisch: Die sexuelle Revolution war eine Emanzipationsbewegung weg von kirchlich vorgegebenen und staatlich sanktionierten Sexualkodizes, ein »Rausschmiss« von Staat und Kirche und zugleich ein »Rückzug aus den Schlafzimmern der Na­tion«. Eine maßvolle Öffnung der evangelischen Kirche demgegenüber trug dazu bei, dass aus dieser Revolution eine Reform wurde.
Hier können im Rahmen einer knappen Rezension nicht alle Beiträge gewürdigt werden, ein Highlight sei aber noch kurz hervorgehoben: Peter Bubmanns Vortrag über die Wandlungen in der kirchlichen Musik der 1960er und 1970er Jahre. Dieser vermeintliche »Nebenkriegsschauplatz« vermittelte interessante Einsichten: Das Eindringen von Spirituals und Jazz, von Pop und Rock, die Einflüsse von Chanson und Gospel, das Entstehen von religiösen Schlagern und Sacropop hinterließen tiefe Spuren im kirchlichen Liedgut und der Kirchenmusik; und wer um die Anhänglichkeit von Gemeinden gegenüber ihren traditionellen Gesangbüchern weiß, vermag die Veränderungen einzuschätzen. Bubmann geht im Wesentlichen auf die dadurch ausgelösten musikalischen Wandlungen ein: »die kirchenmusikalischen Szenen [wurden] differenziert und der Stil der Kirchenmusik pluralisiert« (321); interessant könnten die damit einhergehenden neuen Liedertexte sein: Wurden diese, so eine Frage des Rezensenten, nicht immer flacher und seichter?
Zusammengefasst: Es ist ein Tagungsband entstanden, der ge­rade in seiner Vielfältigkeit und einer bewussten Unvollständigkeit Freude macht und Anstoß gibt zu neuem Forschen in einem neuen, spannenden Forschungsgebiet, gleichzeitig aber auch die Kirchliche Zeitgeschichte ein Stück voranbringt und sie Anschluss an die allgemeine Geschichtswissenschaft und ihren Diskussions- und Methodenstandard finden lässt.