Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/1997

Spalte:

275 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Anglet, Kurt

Titel/Untertitel:

Messianität und Geschichte. Walter Benjamins Konstruktion der historischen Dialektik und deren Aufhebung im Eschatologischen durch Erik Peterson.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 1995. 322 S. gr.8°. Pp. DM 98,­. ISBN 3-05-002277-9.

Rezensent:

Günther Mensching

Über Walter Benjamin, dessen Werk inzwischen vorbildlich ediert ist, wurde in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren unter verschiedenen Aspekten vieles geschrieben. Er avancierte geradezu zu einem Klassiker der Moderne, den viele inzwischen für einen Boten der Postmoderne halten. Seine Geschichtsphilosophie und der ihr eigentümliche Messianismus haben zahlreiche philosophische Deutungen erhalten; besonders beachtet wurde Benjamins Insistenz auf der Destruktivität des Fortschritts in der Moderne. Eine eingehende Studie zu den theologischen Quellen von Benjamins Vorstellung des Messianischen und zu dem Verhältnis seines historischen Materialismus zur Eschatologie lag indessen bisher noch nicht vor.

Das Buch von A. füllt hier eine Lücke, indem es nicht allein die überaus schwierigen Fragmente Benjamins zu einer Theorie der Geschichte konsequent untersucht, sondern die analogen Probleme bei einem zweiten, heute nur noch wenig bekannten Autor, bei dem Theologen Erik Peterson, erörtert und die Lehren beider systematisch miteinander zu verknüpfen sucht. Dabei wird freilich kommentarlos unterstellt, daß Benjamins "nihilistischer Messianismus" und Petersons Aufhebung der Geschichte in Eschatologie überhaupt aufeinander beziehbar seien, obwohl die beiden Autoren voneinander keine Notiz genommen haben und ganz verschiedenen geistigen Umkreisen zugehörten. Aus dieser Struktur des Buches, die übrigens nicht konsequent durchgehalten wird, ergeben sich einige Probleme.

Zunächst aber ist festzuhalten, daß A. die Benjaminsche Geschichtstheorie sehr getreu verfolgt, und zwar nicht, wie es inzwischen fast überall geschieht, in einer bloß geistes- und motivgeschichtlichen Betrachtungsweise, sondern so, daß überall nach dem Wahrheitsgehalt der Theoreme selbst gefragt wird. Benjamins Begriffen, auch so problematischen wie denen des dialektischen Bildes und der messianischen Stillstellung des historischen Geschehens, wird vorab die Beziehung auf einen realen Gegenstand eingeräumt, um dann nach deren Adäquanz fragen zu können. Auf diesem immanenten Wege gelangt die Untersuchung zu neuen kritischen Einsichten. Indem A. die theologischen Wendungen in Benjamins Denken nicht als exotische Metaphorik nimmt, sondern auf ihre Tradition zurückbezieht, kann er den Widerspruch des nihilistischen Messianismus klar aufzeigen: Welcher Messias soll denn kommen, wenn es keinen Gott gibt, der ihn schickt? (cf. 86) Ist zudem der geschichtliche Prozeß nicht von sich aus auf Messianisches teleologisch hingeordnet, so stellt sich die bei Benjamin ungelöste Frage nach der Beziehung von messianischer und historischer Zeit und nach dem Grunde der Erlösung von der fortwährenden Katastrophe der Geschichte (59 ff.). Die scharfsinnigen und kenntnisreichen Erörterungen der Begriffe "Jetztzeit" und "Aktualisierung des historischen Geschehens" machen sehr deutlich, daß bei Benjamin das Subjekt der Erlösung im dunklen bleibt.

Aber Benjamin, zumindest der späte, war trotz aller religiös bestimmten Thematik und Metaphorik kein affirmativer Theologe. A. versucht nun, die Aporien, die sich hieraus ergeben, systematisch durch die Anknüpfung an die ebenfalls fragmentarische Geschichtstheologie Petersons zu lösen. Dieser größere Teil des Buches leidet indessen unter zahlreichen Unzulänglichkeiten und Widersprüchen. Zunächst wäre es angebracht gewesen, den heute weithin unbekannten Autor überhaupt vorzustellen. A. erwähnt nicht einmal das bedeutsame Faktum seiner Konversion zum Katholizismus im Jahre 1930. Im Gegensatz zu dem Teil über Benjamin wird in den Peterson gewidmeten Passagen nicht klar, worauf sich sein Werk affirmativ und kritisch bezieht. Seine Kontroversen mit Karl Barth und Carl Schmitt werden für die Bestimmung von Petersons systematischem Ort gar nicht herangezogen. So wird die Eschatologie, um die Petersons Geschichtstheologie zentriert ist, in A.s Darstellung zu einer alle historische Zeit transzendierenden Lehre. In deren Erörterung wird das vorwaltende theologische Interesse der Arbeit auf Schritt und Tritt deutlich.

Das Bewußtsein, daß der Geschichtslauf in einer Katastrophe zu enden droht, verbindet Benjamin und Peterson, ebenso auch die verzweifelte Anstrengung, demgegenüber die Möglichkeit einer Erlösung noch zu denken, die wegen der radikalen Heillosigkeit des historischen Prozesses nur unvermittelt von außen kommen soll. Die bei Benjamin hiermit verbundenen Aporien werden aber bei Peterson nicht geringer, und A. folgt fraglos dessen theologischen Voraussetzungen. Hier wird noch einmal die Theologie gegen die Philosophie ausgespielt. Die Fruchtlosigkeit dieser seit dem Ende der Hochscholastik unter wechselnden historischen Umständen immer wieder versuchten Begründung einer neben oder über der philosophischen Rationalität befindlichen Sphäre der Offenbarungs- und Glaubenswahrheit wird in einem im übrigen sehr interessanten Exkurs zu Hegel offenkundig (cf. 133-165). Nicht zu Unrecht interpretiert A. die Hegelsche Geschichts- und Religionsphilosophie als verklärende Theorie des heillosen Geschichtsprozesses. Aus dem Kreisen der absoluten Negativität in sich ist aber nicht auszubrechen, indem ihm abrupt die Christusoffenbarung als unmittelbares Faktum entgegengehalten wird. Die Petersonsche These, daß das Dogma keine Reflexion sei (163), gehört dieser selbst an. Der "Einbruch des Dogmas in die Geschichte" soll denn auch offen zum "Abbruch des Reflexionsprozesses" (169) führen. Ob die Abstraktion von allen historischen Bedingungen der Genese eines Dogmas und der Verzicht, es systematisch zu begründen, das Bewußtsein eschatologischer Zeit zur Folge hat, sei dahingestellt. Die unbegründbaren Setzungen, die A. mit Peterson aller in der Zeit sich entfaltenden Kontinuität der Reflexion entgegenhält, dürften aber kaum zu einer "Bereicherung des Dialogs zwischen Philosophen und Theologen" führen, wie es der Waschzettel auf dem rückseitigen Buchdeckel verspricht. A.s Buch weist jedoch in interessanter Weise auf die theologischen Momente des säkularen Denkens hin.